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Der Mensch hinter dem Buchrücken

Ein dänisches Projekt – aktiv in über 80 Ländern – lässt Menschen mit außergewöhnlichen Lebensgeschichten erzählen. Vorurteile werden so abgebaut.
Human Library
Foto: Maja Habegger on Unsplash

„Die Bücher freuen sich schon darauf, mit euch zu sprechen.“ Mit diesem Satz beginnt der Moderator die Zoom-Veranstaltung. Was wie ein Widerspruch klingt, ergibt Sinn, wenn man den Titel der Veranstaltung erfährt: „Die menschliche Bibliothek.“

Beim Projekt der menschlichen Bibliothek sollen Vorurteile bewusst gemacht und überdacht werden. Statt Bücher, werden Personen „ausgeliehen“, um dreißig Minuten lang deren Geschichte zu hören. Die menschlichen Bücher tragen Titel wie „Arbeitslose“, „Bipolarer“, „Übergewichtiger“ oder „Migrantin“. Die Leserinnen und Leser können in dieser Zeit alle Fragen stellen, die sie zum Thema haben, und so ein umfassenderes Bild der betroffenen Person erhalten, anstatt das Buch „nach seinem Buchrücken zu beurteilen.“ Tabu-Fragen gibt es keine.

Die menschlichen Bücher tragen Titel wie „Arbeitslose“, „Bipolarer“, „Übergewichtiger“

„Hast du dich schuldig deiner Frau gegenüber gefühlt?“, fragt eine Zoom-Teilnehmerin das Buch mit dem Titel „schwuler Mann“ – ein 82-jähriger Familienvater und Großvater, der sich mit 41 Jahren erst als homosexuell geoutet hat. Das macht mitunter den Reiz des Projekts aus: Die menschliche Bibliothek schafft einen der seltenen Räume, in denen alle Fragen gestellt werden können, die persönlich sind, oder unangenehm und deshalb im Alltag durchs Raster der „political correctness“ oder „respektvollen Distanz“ fallen. Man taucht tiefer in Themen ein, von denen man immer mal wissen wollte, wie sie funktionieren, wie sie entstehen, warum sie verletzten – und lernt durch die Geschichte eines kompletten Fremden eine Menge über sich selbst und die eigenen Vorurteile im Kopf.

 

 

Gegründet wurde die „Menneskebilbioteket“, wie sie im dänischen Original heißt, im Rahmen eines Festivals in Kopenhagen von Ronni Abergel und seinem Bruder Dany sowie deren Kollegen Asma Mouna and Christoffer Erichsen. Bald erkannten die Gründer das Potential dieser Idee und entwickelten sich zu einer non-profit Organisation. Heute, 21 Jahre später, tourt die menschliche Bibliothek durch mehr als 80 Länder Europas und weltweit. Auf Festivals, in Bibliotheken und, besonders in der aktuellen Zeit, im virtuellen Raum. Darüber hinaus bietet die Organisation Trainings für Firmen, welche Inklusion und Toleranz in diversen Teams fördern wollen. Zu den Kunden gehörten Daimler, Microsoft oder eBay.

Das Repertoire umfasst über tausend Freiwillige, die ihre Geschichte erzählen – „offen wie ein Buch.“ Gefragt ist dabei viel Mut, denn die Bücher zeigen sich von ihrer verletzlichsten Seite.

Dabei ist jeder ein Buch. Denn über jeden von uns fallen Urteile schneller, als dass sie unserer Geschichte gerecht werden können. So passierte es im Falle von Nichola Swallow, die als Leserin zur menschlichen Bibliothek kam, und zum Buch wurde. Aktuell ist sie „Buch des Monats“; sie hilft dem Publikum, Vorurteile zum Thema Essestörungen abzubauen.

 

Ich urteilte, überdachte und ent-urteilte

 

Zum Zoom-Event haben sich rund 150 Menschen eingeloggt, es sind Länder aller fünf Kontinente vertreten. Nach der Einführung wird die Leserschaft in kleinere virtuelle Räume aufgeteilt – die Lesungen finden Gruppen von fünf Teilnehmenden statt, die Bücher werden zufällig zugeordnet. Ist ein Thema zu persönlich oder unangenehm, kann ein anderes Buch gewählt werden.

 

 

Die sogenannten „Bibliothekare“ begleiten den Prozess, halten den Raum sicher und respektvoll, weisen darauf hin, dass die Informationen privat sind, und nicht nach außen dringen sollen. Die Kameras bleiben an – das sorgt für einen ehrlichen Austausch auf Augenhöhe –, es werden aber keine Details, wie Nachnamen oder Arbeitsplatz, geteilt.

Die dreißig Minuten vergehen zu schnell. Es ist wie mit einem guten Buch: fängt man erst an, darin zu lesen, will man es nicht mehr weglegen. Zwar schafft man nur einen kurzen Einblick in die Welt des Buches, er ist jedoch tief genug, wichtige Erkenntnisse daraus mitzunehmen.

So zum Beispiel die Erkenntnis, dass wir Menschen schneller in Schubladen stecken, als wir denken. Wie schnell ich Schubladen ziehe, merke ich bei der ersten Lesung. Ein Mann mit Glatze, Tattoos und muskulösen Oberarmen erscheint in unserer Lese-Runde. „Welches Buch er wohl sein mag?“, frage ich mich und sofort schießen Assoziationen durch meinen Kopf: Drogendealer; Ex-Gefängnisinsasse; Alkoholiker. Er stellt sich vor: „Mein Buch trägt den Titel ‚alleinerziehender Vater‘.“

Wir sagen nicht: urteile nicht. Zu urteilen ist ein Instinkt jedes Menschen

Ich fühle mich auf frischer Tat ertappt. Doch auch in diesem Fall gilt: Keine Urteile! „Wir sagen nicht: urteile nicht“, erklärt einer der Bibliothekare. Zu urteilen sei ein Instinkt jedes Menschen, der als Überlebensmechanismus in unseren Genen festgeschrieben sei – Urmenschen mussten schnell einteilen können, was unbekannt und daher potenziell gefährlich war, und was hingegen nicht, um eventuell sofort mit Flucht zu reagieren. „Niemand sollte sich daher für seine Urteile schämen“, so das Motto der menschlichen Bibliothek. Ziel sei es hingegen, sich der eigenen Stereotype bewusst zu werden, darüber nachzudenken, und sich am Ende davon zu lösen, in anderen Worten, bestimmte Menschen zu „ent-urteilen.“

Ein Verständnis für vorschnelles Urteilen ist umso wichtiger in einer Welt, in der Intoleranz immer weniger toleriert wird, bis hin zu einer umstrittenen Grenze, welche als „Cancel-Culture“ oder „woke“ bezeichnet wird. Nicht allen fällt es leicht, mit der komplexen und diversen Welt von heute umzugehen, nicht zuletzt die richtigen Worte dafür zu finden – Verständnis für diese Unsicherheit ist manchmal wirksamer im Abbau von Stereotypen als moralisch-überhebliche Anklagen und vorschnelle Rassismus-Vorwürfe.