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Die Revolution

Pressefreiheit, investigativer Journalismus und journalistische Verantwortung im digitalen Zeitalter. Eine Rede zum Tag der Ladinischen Kultur.

Das Wichtige im Begriff „Pressefreiheit“ ist die „FREIHEIT“. Was wir heute oft als selbstverständlich empfinden, ist in Wirklichkeit in einem langen Kampf erstritten worden – gemeinsam mit den anderen demokratischen Freiheiten. Die Pressefreiheit ist ein Produkt der Aufklärung und der damit verbundenen Kämpfe um Menschenrechte und Demokratie.

Freiheit der Presse hieß in erster Linie Freiheit von staatlicher Zensur. Das erste Gesetz zur Abschaffung der Zensur wurde 1695 in England beschlossen. Dann folgten Dänemark und Schleswig-Holstein – aber der wirklich bedeutende Durchbruch kam aus dem jungen Amerika: 1789 wurde der 1. Zusatzartikel zur Verfassung verabschiedet – das berühmte First Amendement, das bis heute eine ganz fundamentale Bedeutung hat. Darin wird explizit jede Einmischung des Staates und jede Einschränkung der freien Meinungsäußerung verboten. Im selben Jahr beschloss das revolutionäre Frankreich einen vergleichbaren, ja sogar noch weitergehenden, Paragraphen. 1815 folgte Deutschland.

Freiheit der Presse hieß in erster Linie Freiheit von staatlicher Zensur.

Aber gerade weil die Pressefreiheit grundlegender Teil der demokratischen Freiheiten ist, war sie auch immer Teil der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und wurde immer wieder geknebelt oder gar abgeschafft. In Kriegszeiten oder unter Mussolini, Franco und Hitler war natürlich von Pressefreiheit keine Rede. Und selbst im demokratischen Nachkriegs-Europa war es um die Pressefreiheit nicht immer bestens bestellt. So mussten zum Beispiel unter Präsident Charles de Gaulle in Frankreich bis in die 60er-Jahre täglich die geplanten Themen der Abendnachrichten des staatlichen Fernsehens schon am frühen Nachmittag dem Elysee-Palast gemeldet werden – angeblich um zu prüfen, ob wohl keine Berichte geplant waren, die die nationalen Interessen des Landes schädigen könnten.

Die Situation heute

Bevor wir auf die Lage der Pressefreiheit in unseren heutigen demokratischen Gesellschaften zu sprechen kommen, möchte ich doch kurz auf die internationale Lage hinweisen. Es gibt fünf angesehene Organisationen, die die Situation der Medienwirklichkeit international beobachten – die wichtigste ist sicher „Reporter ohne Grenzen“. Ich kann nur jedem empfehlen, die Web-Seite dieser Organisation zu besuchen. Dort wird in anschaulicher Weise dargestellt, wie weltweit die Lage der Pressefreiheit aussieht – nicht tröstlich, das kann ich Ihnen schon gleich sagen. Neben dem jährlichen „ranking“ – also der Einstufung der Länder nach Kriterien der Pressefreiheit, führt „Reporter ohne Grenzen“, vergleichbar mit „Amnesty International“ auch eine genaue Statistik in Form eines täglich aktualisierten „Barometers“ über die wegen ihrer Arbeit getöteten Journalisten und Pressearbeitern, über jene die Haft sind etc..

Im Jahr 2015 sah dieses Barometer bis vor wenigen Tagen so aus:

42 Journalisten, 4 Medienassistenten und 9 Online-Aktivisten wurden getötet – in Kriegszonen, in Ägypten, Afrika oder Mexiko und natürlich Paris mit Charlie Hebdo.

144 Journalisten und 13 Medienassistenten wurden in Haft genommen.

Und 177 Onoline-Aktivisten und „Bürgerjournalisten“ - wie sie Reporter ohne Grenzen nennt sind ebenso verhaftet worden.

Zwei der genannten Todesfälle haben – neben Charlie Hebdo - international für Empörung und Schlagzeilen gesorgt, ereigneten sie sich doch in Staaten, die sich selbst als demokratisch deklarieren: Rußland und die Türkei.

Die Opfer: Anna Politkowskaja und Hrant Dink.
Anna Politkowskaja war eine engagierte Menschenrechtlerin und Kreml-kritische Journalistin. Ihre Berichte über das grausame Verhalten der russischen Besatzer in Tschetschenien haben für viel Aufsehen gesorgt. Schließlich wurde sie im Oktober 2006 vor ihrer Wohnung erschossen. Nach langen und nicht immer durchsichtigen Prozessverfahren wurden fünf Täter und Mittäter zu langen Haftstrafen verurteilt. Aber die Frage der Hintermänner wurde nie geklärt.
Das Schicksal von Hrant Dink bewegt mich auch persönlich, das muss ich eingestehen. Ich hatte ihn noch knapp ein Jahr vor seiner Ermordung in Istanbul persönlich kennen gelernt und für den ORF interviewt. Ein kultivierter, zurückhaltender, einnehmender Intellektueller armenischer Abstammung. Seine einzige Schuld: er war der Erste, der in seiner – im Grunde kleinen Zeitung „Agos“ – eine offene Aufarbeitung des Massenmordes von Armeniern durch Türken im ersten Weltkrieg forderte – eigentlich in der Absicht, eine Versöhnung zwischen Armeniern und Türken zu erreichen. 2007 wurde Dink vor seinem Redaktionsgebäude von einem fanatischen Rechtsextremisten erschossen. Erst acht Jahre nach der Tat wurden heuer auch zwei türkische Polizisten wegen Komplizenschaft angeklagt – über die Hintermänner der Tat herrschen nach wie vor Zweifel und Nebel.

Und dann natürlich die brutale Hinrichtung der halben Redaktion des satirischen Magazins „Charlie Hebdo“ in Paris. Aber darauf werden wir noch im Zusammenhang mit der Debatte um die Grenzen der Pressefreiheit ausführlicher zu sprechen kommen.

Was ist eigentlich die Pressefreiheit?

Wie schon angedeutet, wurden die grundlegenden Prinzipien der dazu gehörenden Informationsfreiheit in den verschiedensten Verfassungen der westlichen, freien Welt verankert – als letztes in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO im Jahr 1948 – also nach der Katastrophe des 2. Weltkrieges.

Trotzdem ist die gesetzliche Regelung dieses grundlegenden Menschenrechtes und unumstößlichen Pfeilers demokratischer Gesellschaften von Land zu Land verschieden ausgestaltet. Aber ein paar ganz allgemeine Grundsätze der Informations- und Pressefreiheit kann man kurz auf den Punkt bringen.

Der Schutz der Beschaffung von Informationen, ohne Beschränkung oder Einmischung durch Behörden des Staates

Ganz wichtig: das Redaktionsgeheimnis – Der Staat und seine Behörden können nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen und durch richterliche Verfügung einen Journalisten oder eine Redaktion zur Preisgabe der Quellen ihrer Informationen zwingen. Besser geschützt sind nur Priester, Ärzte und Anwälte.

Damit zusammenhängend: der Schutz der Informanten, die Medien Informationen liefern.

Hat der Staat dafür zu sorgen, dass es keine übermäßige Konzentration von Medien in wenigen Händen kommt – weil das ein Meinungs-monopol schaffen würde, das für die freie demokratische Information und Meinungsbildung schädlich bis gefährlich wäre.

Deshalb gibt es ja auch in so gut wie allen demokratischen Staaten Formen der Presseförderung, die einen gewissen Pluralismus der Medienlandschaft garantieren soll. Und – eine ganz fundamentale Rolle spielen die öffentlich-rechtlichen Medien, also vor allem Radio und Fernsehen – gewissermaßen als Gegengewicht gegenüber den Privaten.

Aber bevor wir dazu kommen, noch eine wichtige Klarstellung: wie bei allen demokratischen Freiheiten, gibt es natürlich auch bei der Presse- und Medienfreiheit Einschränkungen. Obwohl auch diese Einschränkungen je nach Ländern unterschiedlich geregelt sind, gibt es doch einen gewissen Grundkonsens.

Nicht erlaubt sind generell Publikationen, die „gegen den Schutz der persönlichen Ehre“ verstoßen – also persönliche Verleumdungen und Beleidigungen aufgrund unwahrer Behauptungen.

Schon umstrittener ist die Bestimmung, wonach keine Informationen veröffentlicht werden dürfen, die die nationale Sicherheit gefährden

Dann sind in praktisch allen Ländern Veröffentlichungen strafbar, die gegen den Jugendschutz verstoßen. Während früher auch klassische Pornographie unter diesen Paragraphen fiel, bezieht er sich heute vor allem auf Kinderpornographie und Ähnliches. Ebenso mehrheitlich geahndet wird der Aufruf zu Gewalt oder die Hetze gegen religiöse oder ethnische Minderheiten. (Aber auch das wird von Land zu Land ganz unterschiedlich interpretiert: so können etwa in den USA ungestraft nationalsozialistische Symbole, Schriften und Ähnliches im Internet veröffentlicht werden, während das bei uns in Europa sofort geahndet würde).

Schon umstrittener ist die Bestimmung, wonach keine Informationen veröffentlicht werden dürfen, die die nationale Sicherheit gefährden – dazu werden wir gleich anhand mehrerer spektakuläre Beispiele des investigativen Journalismus kommen. Die Auslegung und Interpretation dieser und anderer heikler Fragen der Meinungs- und Pressefreiheit wurde in den letzten 70 Jahren im Wesentlichen von den Gerichten entschieden.

Die Vierte Gewalt im Staat

Und damit kommen wir zu dem unvermeidlichen Begriff in einem solchen Referat - jenem über die sogenannte „Vierte Gewalt im Staat“. Ein allgemein benütztes Schlagwort, das die Rolle der Medien in einer demokratischen Gesellschaft charakterisieren soll. Neben der demokratisch gewählten Legislative – sprich Parlament, neben der daraus hervorgegangenen Exekutive (also Regierung plus Staatsbehörden) und neben der Justiz. Diese Gewaltentrennung ist ja in unserem Verständnis der Garant für ein demokratisches Funktionieren unserer Gesellschaften – und da fügen sich die Medien als nicht institutionalisierte vierte Macht ein. Eine Macht, die die Arbeit der anderen drei überwachen und kontrollieren soll. Eine Macht, die zugleich Ausdruck der öffentlichen Meinung, wenn nicht gar des Volkswillens sein soll. Fast eine Art basisdemokratisches Gegengewicht gegenüber dem staatlichen Apparat. Eine sehr schöne, aber auch sehr problematische Sicht der Dinge. Denn wem gehören diesen Medien? Wer bestimmt die politische Linie dieser Medien? Welche Interessen vertreten – vor allem die großen – Medien?

Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, in diesem Referat praktisch keine Zitate zu verwenden. Aber um dieses komme ich, beim besten Willen, nicht herum. Es stammt vom Mitbegründer der Frankfurter Allgemeinen Zeitung FAZ Paul Sethe, einem großartigen Intellektuellen, einem konservativen Journalisten, der für so gut wie alle Qualitätszeitungen in Deutschland geschrieben hat. Und sein wohl berühmtestes Zitat stammt aus dem Jahr 1965, als er dem „Spiegel“ erklärte: „Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten (…) Da die Herstellung von Zeitungen und Zeitschriften immer größeres Kapital erfordert, wird der Kreis der Personen, die Presseorgane herausgeben, immer kleiner. Damit wird unsere Abhängigkeit immer größer und immer gefährlicher.“

Das klingt sehr drastisch. Wenn man allerdings die Medienentwicklung der letzten 25 Jahre in Italien ansieht – Stichwort Silvio Berlusconi – ist man geneigt, dem natürlich vollinhaltlich recht zu geben. Trotzdem kann ich dieser Feststellung nicht uneingeschränkt zustimmen. Es ist ja nicht ganz unbekannt, dass ich vor allem in meinen Jugendjahren – mit der Südtiroler Volkszeitung und dann gemeinsam mit Alexander Langer mit Tandem – durchaus dem sehr linken Spektrum zuzuordnen war. Aber ich habe eine Leitidee meines Professors für Linguistik und Medien an der Universität Wien, Professor Wolfgang Pollak, bis heute im Ohr: er forderte uns immer wieder auf, die großen „bürgerlichen“ Zeitungen zu studieren. Das „Wall Street Journal“, die „Financial Times“, die britische „Times“, der französische „Figaro“, die deutsche „Frankfurter Allgemeine“ seien die besten Zeitungen, um unsere Welt zu verstehen, bläute uns Pollak immer wieder ein. Warum?

1. Weil die große Bourgeoisie das meiste Geld hätte, um wirklich qualifizierte Journalisten zu beschäftigen, die außerdem die besten Kontakte zu den Regierenden und den Mächtigen hätten.

2. Weil die wirklich Mächtigen dieser Welt ein immenses Interesse daran hätten, darüber informiert zu werden, wie die Weltlage wirklich aussieht und worauf sie sich vorbereiten müssen, wo sie investieren sollen oder nicht – die wollen verlässliche Fakten und nicht nur Meinungsjournalismus (im Unterschied zu vielen linksgerichteten Medien)

3. Weil diese großen, bürgerlichen Zeitungen von ihrer Glaubwürdigkeit leben. Wenn sie aus Nachlässigkeit oder ideologischer Voreingenommenheit, wichtige internationale, wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklungen völlig falsch einschätzen, dann sind ihr internationales standing und ihre Glaubwürdigkeit beschädigt – und damit auch die Bereitschaft ihrer Geldgeber, sie weiterhin zu finanzieren. Natürlich müsse man – so mein Professor Pollak – lernen, die Fakten in diesen Zeitungen von ihrer „ideologischen Glasur“ und den sehr einseitigen Meinungsartikeln und Analysen zu unterscheiden.

Aber zu dieser professionellen Seriosität gehört eben ein strenges, striktes und jahrzehntelang gepflogenes professionelles Ethos. Wer hätte jemals daran gedacht, dass sich die – vielleicht angesehenste Zeitung der Welt, die New York Times – bei ihren Lesern offen und in aller Form dafür entschuldigt, dass sie in der Frage des Irak-Krieges Fehler begangen, sich von der Regierung manipulieren lassen hat und deshalb über Monate tendenziöse Artikel veröffentlicht hat? Ein einmaliger Paukenschlag in der weltweiten Medienlandschaft.

Die öffentlich-rechtlichen Medien als Ausgleich

Aber bei allem Verlass auf das professionelle und ethisch korrekte Verhalten der großen Privatmedien, hat der Staat in den meisten westlichen Demokratien ganz bewusst auf ein Gegengewicht gegenüber den privaten Medien gesetzt. Wodurch? Durch die Schaffung, Finanzierung und Regulierung der öffentlich-rechtlichen Medien – vor allem des Rundfunks und der Television. Mit der Ausnahme der USA, wo „Public Radio“ und „Public Télévision“ eine – meist privat durch Spenden finanzierte, marginale 3-5% - Rolle spielen, garantieren eigentlich sämtliche europäischen Länder eine robuste, durch Gebühren finanzierte, öffentlich-rechtliche Radio- und TV-Landschaft.

Als jemand der mehr als 3 Jahrzehnte lang im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gearbeitet hat, käme es mir natürlich nie in den Sinn, diese Anstalten als vollkommen unabhängig, unparteiisch und von politischen Einflüssen freie Medien zu bezeichnen.

Als jemand der mehr als 3 Jahrzehnte lang im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gearbeitet hat, käme es mir natürlich nie in den Sinn, diese Anstalten als vollkommen unabhängig, unparteiisch und von politischen Einflüssen freie Medien zu bezeichnen. Nein, überhaupt nicht. Aber es gibt so etwas wie einen „Gesellschaftsvertrag“. Es gibt gemeinsam festgelegte Spielregeln – in vielen Staaten, wie etwa in Österreich, sogar im Verfassungsrang. Und es gibt gesetzlich garantierte Rechte für Journalisten und Gestalter – etwa in den Redakteursstatuten. In den Aufsichts- und Verwaltungsgremien gibt es ebenso eine Art „politisches Gleichgewicht“. Ein Gleichgewicht, das zuweilen ganz besonders abartige Blüten hervorbringt – so z.B. in der RAI, in der man gleich ganze Sender politisch „aufgeteilt“ hat. RAI-UNO die Democristiani, RAI-Due die – damals noch wichtigen – Sozialisten, RAI-Tre die Kommunisten. Aber bei aller erkennbaren politisch-ideologischen Schlagseite der jeweiligen Sender galt doch immer ein sakrosantes Prinzip: öffentlich-rechtliche Medien dürfen nicht offen manipulieren, sie dürfen Fakten nicht evident verdrehen, sie müssen für Ausgewogenheit sorgen etc. Wenn also Matteo Salvini offen Matteo Renzi kritisiert oder gar beschimpft, muss letzterer ein Recht auf Antwort, auf Stellungnahme besitzen - und umgekehrt. Das ist ein ganz wesentlicher Unterschied zu privaten Medien, wie wir ja vom Berlusconi-Fernsehen wissen.

Natürlich versuchen die Parteien mit allen Mitteln – nicht zuletzt durch Personalpolitik – ihren Einfluss auf die öffentlich-rechtlichen Medien auszuüben. Und trotzdem werden ihre Machtgelüste in die Schranken gewiesen. Denn noch immer ist das höchste Gut der Öffentlich-Rechtlichen – wie bei den großen Qualitätszeitungen – ihre Glaubwürdigkeit. Ein Sender, der ganz offen Propaganda betreibt, wird bei den Zuhörern- und Sehern sehr bald an Glaubwürdigkeit und somit an Gewicht verlieren.

Der investigative Journalismus

Herz- und Kernstück des Journalismus als vierte Gewalt im Staat ist der investigative Journalismus – auf Deutsch: der Enthüllungsjournalismus. Gemeint ist damit natürlich nicht der Enthüllungsjournalismus der Boulevard-Medien, die irgendwelche Tratschgeschichten rund um prominente Persönlichkeiten ans Tageslicht zerren, sondern Enthüllungen über Missstände in der Gesellschaft, in Wirtschaft und Politik.

Da gibt es einmal die sogenannte Maulwurftaktik – wie ich sie nenne. Der prominenteste Protagonist dieser Methode ist der deutsche Aufdecker Günter Wallfraff. Bekanntheit und Bedeutung im investigativen Journalismus erlangte Wallraff, indem er seit Jahrzehnten – sozusagen undercover, wie man im Polizeijargon sagt – also verdeckt, eine Zeit lang etwa in der Redaktion der Bild-Zeitung oder in zahlreichen Großbetrieben arbeitete und dann Berichte über die teils schrecklichen Arbeitsmethoden und sozialen Missstände in diesen Untenehmen veröffentlichte. Sehr verdient, sehr wichtig, aber letztlich mehr oder weniger eine etwas radikalere Form der Sozialreportage, wie sie von sehr vielen Journalisten gemacht wird.

Gemeint ist damit natürlich nicht der Enthüllungsjournalismus der Boulevard-Medien, die irgendwelche Tratschgeschichten rund um prominente Persönlichkeiten ans Tageslicht zerren, sondern Enthüllungen über Missstände in der Gesellschaft, in Wirtschaft und Politik.

Und dann gibt es die Aufdecker, die mit ihren Enthüllungen – vor allem der Praktiken des politischen Establishments - für wahrhaftige Erdbeben gesorgt haben. Vor allem für die Jüngeren unter Ihnen möchte ich einige der wichtigsten Fälle in Erinnerung rufen.

Die Spiegel-Affäre

Im deutschen Sprachraum war die bedeutendste Enthüllungsgeschichte unzweifelhaft die sogenannte „Spiegel-Affäre“ 1962. Eigentlich müsste man sagen die Spiegel-Franz-Josef-Strauß-Affäre. Im Telegramm-Stil: Das Wochenmagazin „Spiegel“ veröffentlichte einen Artikel und militärische Dokumente, wonach die damalige Bundeswehr aufgrund ihrer mangelhaften Ausrüstung im Falle eines sowjetischen Großangriffs – wir befanden uns ja mitten im Kalten Krieg – vollkommen unterlegen sei. Daraufhin wurde der „Spiegel“ wegen Landesverrats angeklagt. Die Redaktion der Wochenzeitschrift wurde von den Ermittlern quasi „besetzt“, alle Akten wurden durchsucht und etliche Redakteure – darunter der Chef des Blattes – Rudolf Augstein – verhaftet. Das Material für den Artikel hatte – wie sich später herausstellte - der Leiter des Führungsreferats im Führungsstab des Heeres, Oberst Alfred Martin, zur Verfügung gestellt. Ein klassischer Whistleblower also. Damit bezeichnet man bedeutende Vertreter oder Beamte der Verwaltung, die überzeugt sind, dass sie im Interesse der Allgemeinheit gewisse Missstände in ihrem Bereich öffentlich bekannt machen müssen.

Der damalige Verteidigungsminister Franz-Josef-Strauß reagierte mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gegen den Spiegel. Und gerade das sollte ihm das Genick brechen. Weil er die Arbeit der Ermittler behinderte und massiv Einfluss auf die Justiz zu nehmen versuchte, musste Strauß nach Monaten der gerichtlichen Auseinandersetzungen von seinem Amt zurücktreten. Spiegel-Chef Augstein hatte zwar 103 Tage im Gefängnis verbringen müssen, aber zugleich seinen größten Sieg für freien Journalismus und Pressefreiheit errungen.

Watergate und Nixon

Das zweite und noch viel folgenreichere Beispiel von investigativem Journalismus ist der sogenannte „Watergate-Skandal“. Wiederum im Telegramm-Stil zur Erinnerung. Im Juni 1972 wurden im „Watergate-Gebäudekomplex“ in Washington – übrigens ein urbanistisch misslungenes Ungetüm, wenn man persönlich davor steht – fünf Männer verhaftet. Ein aufmerksamer Wächter hatte in der Nacht auffällige Umtriebe beobachtet und die Polizei verständigt. Wie sich schnell herausstellte, waren die Einbrecher damit beschäftigt, Abhörgeräte und Wanzen in den Lokalitäten der Demokratischen Partei anzubringen und Fotos von wichtigen Dokumenten zu beschaffen. Dazu muss man sagen, dass sich Amerika mitten im Präsidentenwahlkampf befand. Als sich herausstellte, dass einer der fünf Verhafteten ein wichtiger Mann des Geheimdienstes CIA war, begannen zwei renommierte Reporter der „Washington Post“ zu recherchieren. Und Woche um Woche brachten die Reporter Bob Woodward und Carl Bernstein neue, spektakuläre Fakten ans Licht.

So wurde es immer klarer, dass der republikanische Amtsinhaber, Präsident Richard Nixon, sich illegaler Methoden bediente, um seine politischen Gegner zu überwachen und zu diskreditieren. Und wie schon der oben erwähnte Franz-Josef-Strauß versuchte auch Nixon sämtliche Ermittlungen zu behindern und Einfluss auf die Justiz zu nehmen. Außerdem enthüllten die Reporter Bob Woodward und Carl Bernstein ein enormes Netz zur illegalen Parteienfinanzierung, inklusive Steuerhinterziehung etc.

Um es kurz zu machen: nach vielen Anhörungen vor Sonderkommissionen des Kongresses und ebenso vielen Gerichtsverfahren musste erstmals in der Geschichte der USA ein Präsident zurücktreten. Allerdings muss dazu gesagt werden, dass auch in diesem Fall die Journalisten der „Wahington Post“ einen hochrangigen Informanten hatten. Sein Deckname war „Deep Throat“. Er war die Nummer Zwei des Inlandsgeheimdienstes FBI. Geholfen hat er den Journalisten, indem er bei regelmäßigen Geheimtreffen ihrer Rechercheergebnisse bestätigte, oder warnte, wenn sie auf einer falschen Fährte waren. Seine Identität (Mark Felt) wurde erst 33 Jahre später, nämlich 2005, kurz vor seinem Tod bekannt gegeben. Also auch hier wäre nichts gegangen ohne einen „Whistleblower.

Abu-Ghuraib, Wikileaks und Edward Snowden

Im Jahr 2004 berichtete die seit Jahrzehnten angesehenste Politiksendung des US-TV-Senders CBS „60 Minutes“ von Misshandlungen und Folterungen irakischer Gefangener durch amerikanische Soldaten während des Irakkriegs und zeigte erste Fotos. Im Lauf der nächsten beiden Jahre kamen hunderte Aufnahmen in die Medien und ins Internet, die schreckliche Szenen belegten, die schlimmsten aus dem Gefängnis Abu-Ghuraib. Sie zeigen US-Soldaten, die sich selbst lachend und genussvoll fotografieren, während sie nackte Gefangene demütigen. Dann folgten Belege für Vergewaltigungen und Folterpraktiken, die bis zu einhundert Tote gefordert haben sollen. Die Bilder waren der amerikanischen Militärführung teilweise bekannt. Es gab auch Untersuchungen – aber erst ihre Veröffentlichung sorgte für weltweite Empörung und für einen kaum wieder gut zu machenden Imageschaden für die US-Armee, die USA und den Westen insgesamt. Auf welchem Weg die Skandalfotos an die Medien gelangten, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Ein Dutzend der hauptbeteiligten Soldaten wurde gerichtlich verurteilt und Präsident Obama versprach eine Abschaffung dieser Praktiken, als er ins Amt kam.

Und damit kommen wir zu einer ganz neuen Art und auch Qualität des Enthüllungsjournalismus, nämlich die massenhafte Verbreitung vertraulicher oder geheimer Informationen via Internet.

Vor knapp 10 Jahren gründeten chinesische Dissidenten, Journalisten und Internetspezialisten aus einem halben Dutzend Ländern - darunter die USA und Europa – die Enthüllungsplattform Wikileaks, was man vielleicht am besten mit „schnelle Schlupflöcher“ übersetzen könnte. Initiator und Hauptbetreiber war von Beginn an Julian Assange, ein australischer Aktivist, Computerhacker und investigativer Journalist. Nach eigener Definition ist das Ziel der Internetplattform der freie Zugang aller zu Informationen – eben auch zu geheimen – die die Öffentlichkeit und uns alle betreffen.

Laut eigenen Angaben war Wikileaks schon 2009 zu einer zentralen Sammelstelle mit mehr als einer Million Dokumenten von Regimekritikern, Dissidenten und Whistleblowern vor allem aus totalitären Staaten wie China, Russland oder Nordkorea geworden. Brisant waren darunter viele Enthüllungen über Korruptionspraktiken afrikanischer Despoten oder gewisser Banken, aber auch über die Methoden und Praktiken der Scientology-Sekte oder der rechten Partei Großbritanniens British National Party. Der erste große Coup gelang Wikileaks allerdings mit der Veröffentlichung eines Videos aus dem Irak-Krieg, das die Vorgangsweise der US-Army bei Bombardierungen und gezielten Tötungen zeigte. Bradley Manning, der Soldat, der das Video geliefert – aber unvorsichtigerweise auch in seinen mails veröffentlicht hatte – wurde in den USA zu 35 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

Der zweite spektakuläre Coup war die unzensierte Veröffentlichung einer Viertelmillion vertraulicher Depeschen der amerikanischen Diplomaten aus aller Welt. Neben vielen Nebensächlichkeiten lieferten diese auch brisante Informationen über die US-Außen- und Weltpolitik.

Aber dann kam das wirkliche Erdbeben: EDWARD SNOWDEN und seine Enthüllung über die weltweite Abhör- und Überwachungspolitik der amerikanischen Geheimdienste – übrigens mit vielfacher Unterstützung französischer, britischer und deutscher Geheimdienste. Ich werde da auf keine Details eingehen, denn sie wären zu komplex und sind eigentlich ohnehin für alle Interessierten mehr als bekannt. Aber wieder war es ein sogenannter „Whistleblower“, also jemand aus dem Innersten der Staatsmacht, der die Enthüllungen zutage brachte. Nachdem Snowden als Computerfachmann mehrere Jahre für verschiedene Abteilungen der US-Geheimdienste gearbeitet und dadurch zu den sensibelsten Sicherheitsdaten Zugang hatte, entschied er: (Zitat) „Ich erkannte, dass ich Teil von etwas geworden war, das viel mehr Schaden anrichtete als Nutzen brachte“ – und weiter: „Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der alles, was ich tue und sage aufgezeichnet wird. Solche Bedingungen bin ich weder bereit zu unterstützen, noch will ich unter solchen leben.“

Edward Snowden kopierte also geheim Millionen Daten, gab sie zuerst an eine Filmemacherin und einem Journalisten des britischen „Guardian“ und dann auch an die „Washington Post“ weiter. Die Internet-Plattform Wikileaks sorgte dann für weitere Verbreitung, zahlreiche etablierte und angesehene Qualitätszeitungen weltweit ebenso.

Wikileaks-Gründer Julian Assange und Edward Snowden leben derzeit beide im Exil. Der Erste in der der Botschaft Ecuadors in London, der Zweite in Russland. Beide befürchten zu Recht, dass eine Auslieferung an die USA für sie zumindest lebenslange Haft bedeuten würde.

Enthüllungsjournalismus und Internet

Ich habe vorher von einer „neuen Art und einer neuen Qualität“ des investigativen Journalismus gesprochen. Es gilt unbestreitbar der Satz wonach Pressefreiheit eigentlich nichts anderes sei, als die Macht einiger Reichen, ihre Meinung zu veröffentlichen, nicht mehr.

Natürlich hätten die Enthüllungen über die Folter in Abu Grahib, jene über die diplomatischen Praktiken in der US-Außenpolitik oder über die weltweite Überwachung aller – inklusive Herrn Schröder und Frau Merkel – ohne die Weiterveröffentlichung durch die „klassischen und anerkannt seriösen“ Medien nie die Explosivkraft erreicht, die sie letztlich erreicht haben. Aber es gibt jetzt eben Möglichkeiten, geheime und heikle Informationen an die Öffentlichkeit zu tragen, ohne dass ein Zeitungsinhaber, ein Informationsintendant, ein Chefredakteur etc. vorher darüber befinden. Um solche Informationen ins Netz zu stellen braucht man keine Millionen mehr. Es genügen ein paar Dutzend engagierte Aktivisten und Computerfachleute.

Ich bin nach wie vor der festen Überzeugung, dass eine kritische, qualitative und kompetente Analyse, Beurteilung und Bewertung von Enthüllungsberichten nach wie vor bei den klassischen Qualitätsmedien in den besten Händen sind.

Das ist eine enorme Revolution der Informationsgesellschaft, aber sie birgt natürlich auch ebenso enorme Risiken. Wer überprüft die zu veröffentlichen Informationen? Wer überprüft die Seriosität der Quellen? Wer überlegt, wo die Grenzen der „angeblich grenzenlosen Information“ gezogen werden sollen? Bei den oben genannten Beispielen haben sich ganze Expertenstäbe der Qualitätszeitungen wie „The Guardian“ oder „Spiegel“ wochenlang mit den von Wikileaks und Snowden gelieferten Daten auseinandergesetzt, bevor sie sie veröffentlicht haben.

Um es kurz zu machen: ich bin nach wie vor der festen Überzeugung, dass eine kritische, qualitative und kompetente Analyse, Beurteilung und Bewertung von Enthüllungsberichten nach wie vor bei den klassischen Qualitätsmedien in den besten Händen sind.

* Lorenz Gallmetzer, geboren 1952 in Bozen, war viele Jahre als ORF-Korrespondent in Washington und Paris, leitete den „Club 2“, schreibt für den Kurier und auch für salto. Gallmetzer hielt dieses Referat am Donnerstag Vormittag beim Tag der ladinischen Kultur im Palais Widmann, der dem Thema „Pressefreiheit“ gewidmet war.

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laurin B. Di., 26.01.2016 - 10:41

hierzulande sind die whistleblower immer noch als Verleumder zu hohen Geldstrafen verurteilt worden

Di., 26.01.2016 - 10:41 Permalink