Gesellschaft | Reportage

Bewegende Zeitreise

Der Bozner Fotograf Ludwig Thalheimer hat mit seinem Buch „Costa Rica Time Warp“ ein wunderschöne und tiefgehende fotografische Spurensuche dokumentiert.
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Foto: Ludwig Thalheimer
Das Schwarzweißbild zeigt drei Lausbuben, die auf einer Treppe sitzen, blödeln und für die Kamera Grimassen schneiden. 1986 lebten die drei Buben in San José in Costa Rica auf der Straße. 
Die drei Farbbilder aus dem Jahr 2017 zeigen gestandene Männer. Harte Burschen. Alle drei haben keinen geraden Lebenswegs hinter sich. Schwierigkeiten, Gefängnis und ein Leben in Stadtvierteln, die sogar die Polizei meidet. 
  Jorge Mauricio Ureña Amador ist der Junge, der auf der Schwarz-Weiß-Aufnahme die Zunge herausstreckt. Auch heute hat er noch dieses spitzbübische Grinsen im Gesicht. Die glasigen Augen erzählen eine andere Geschichte. Eine Geschichte von Drogenproblemen und einem Leben am Rand der Gesellschaft. “Ich bin auf der Straße geblieben, warum sollte ich lügen“, sagt Jorge Mauricio Ureña Amador 31 Jahre später. Der 44-jährige fügt dann etwas hinzu, was für die meisten von uns unvorstellbar ist: „Ich hatte nie ein Foto von mir. Alle haben Fotos von sich, von der Familie, nur ich habe kein Foto.
Jorge ist kein Einzelfall. „Oft haben sich die Abgebildeten nicht gleich erkannt“, sagt der Mann, der die Bilder gemacht hat. Wer nie ein Kinderfoto von sich hatte, weiß auch nicht, wie er vor dreißig Jahren ausgeschaut hat. „Die Erinnerung kam dann durch Kleidungsstücke, Orte oder Gegenstände hoch “, beschreibt Ludwig Thalheimer einen kleinen Schritt seiner fotografischen Spurensuche.
 

Melida

Ich arbeitete in einer Textilfabrik, habe Naty in den Kindergarten gebracht und sie spät abends wieder abgeholt. Nathalie war hier vier, ich war zweiundzwanzig. Ich hatte gerade mal Abitur, ich konnte gar nichts. In der Mittagspause bat ich meine Kolleginnen: „Lasst mich mal an die Maschine.“ Ich tüftelte solange, bis ich lernte, sie zu bedienen. In dieser Firma stieg ich auf, bis ich Vorgesetzte wurde. 

In der Textilfabrik habe ich Marco kennengelernt, den Ingenieur. Er machte mir einen Heiratsantrag. Da er mir vorschlug, mich zu unterstützen, habe ich ihn geheiratet. Wir lebten vierzehn Jahre zusammen. Dieser Mann hat mir sehr geholfen. Er hat mich aus der Arbeit geholt, hat mir ein Haus gekauft, er gab mir Stabilität, und ich sagte mir: „Das ist der Moment zum Studieren.“ Also ging ich zur Universität und studierte Krankenpflege, bis ich meinen Abschluss machte. Als meine Tochter heiratete, habe ich mich getrennt. Inzwischen habe ich einen Master in Gesundheitsverwaltung und gehöre der Dozentengruppe der staatlichen Krankenversicherungsgesellschaft an. Ich arbeite im Hospital Mexiko.

Nathalie

Ich erinnere mich an den Kindergarten, zu dem meine Mutter mich immer brachte. Die Handtasche, die auf dem Bild zu sehen ist, war immer voller Spielzeug, genauso wie jetzt bei Naomi, meiner jüngsten Tochter. Ich habe Jura studiert, aber nicht abgeschlossen. Ich betreibe einen Hundesalon in Heredia.

 
Der Bozner Fotograf und Architekt hat diese Suche in seinem eben erschienenen Fotoband „Costa Rica Time Warp“ festgehalten. Herausgekommen ist ein wunderschönes Buch, das ebensoviel über die Menschen vor der Kamera wie über den Mann und Fotografen hinter der Kamera aussagt. 
Mit seinen Aufnahmen und Texten schafft es Ludwig Thalheimer, nicht nur beim Betrachter und Leser Emotionen zu erwecken, auch bei vielen Hauptpersonen in diesem Buch kamen im Laufe der Arbeit tiefliegende Gefühle hoch.
Wie auch bei den heute harten Burschen, die damals auf der Treppe saßen. „Da kamen die Tränen hoch“, erinnert sich Thalheimer an die Begegnung mit den Trio 31 Jahre später.
 

Ein Verlegenheitsprodukt

 

Am Anfang der Geschichte steht ein gescheitertes Projekt.
Im Sommer 1986 will Ludwig Thalheimer nach Kuba. Der damals 25jährige Bozner plant mit seinem besten Freund eine Reportage über das Land von Fidel Castro. Thalheimers Schulfreund ist der Bozner Theologiestudent Michael „Miguel“ Nothdurfter. Nothdurfter war wenige Jahre zuvor nach Bolivien gegangen, wo er sich der linksgerichteten Nationalen Befreiungsarmee anschloss. Vier Jahr später wird eine Gruppe unter „Comandante Miguel“ den bolivianischen Coca-Cola-Repräsentanten Jorge Lonsdale entführen. Michael Nothdurfter wird dabei im Dezember 1990 beim Befreiungsversuch von bolivianischen Spezialeinheiten erschossen.
 

Alejandro

Ich mochte es, mit meinen Eltern an den Ständen zu sein, wo sie Messingschmuck verkauften. Zum Jahreswechsel wurde die Straße gesperrt, alle warfen mit Konfetti, meine Mutter schloss den Stand dann erst um drei Uhr morgens. Mit ihrem plötzlichen Tod verloren wir alles. Vater begann zu trinken. Die Familie löste sich auf. Jeder ging seinen Weg. Die Ankunft in den USA war zuerst nicht einfach. Ich hatte keine Dokumente, konnte die Sprache nicht, das Wetter war anders, und ich trank. Erst zwischen 2010 und 2011 begannen die Dinge sich zu wenden. Ich bekam einen festen Job bei Ford, nahm mein Studium wieder auf und erlangte eine Spezialisierung in Biotechnologie. Meine Frau Nuria Lissett ist Zahnarzthelferin. Meine Kinder Nathaly, Anthony und Valeria sind neunzehn, siebzehn und fünfzehn und besuchen die Sekundarschule.

 
An diesem Sommertag in Havanna kommt Michael Nothdurfter aber mit Verspätung auf Kuba an. Ludwig Thalheimer gerät bei der Einreise in eine Auseinandersetzung mit einem Militärpolizisten. Man verweigert ihm die Einreise, und er muss innerhalb von 24 Stunden Kuba wieder verlassen.
Thalheimer und Michael Nothdurfter verpassen sich um 30 Minuten. Es ist jene halbe Stunde, die letztlich verantwortlich ist für das Buch, das 32 Jahre später vorliegt. Thalheimer nimmt den billigsten Flug, jenen nach Panama, und reiste dann über den Landweg weiter.
 
 
Ich bin einen Monat in Costa Rica festgesessen und habe auf Nachrichten meines Freundes gewartet. Vergeblich. Irgendwann habe ich begonnen, Kinder auf der Straße zu fotografieren und ihre Geschichten zu sammeln“, erinnert sich der Fotograf. Thalheimer fotografiert nicht nur die unglaubliche Armut, Kinder, die den ganzen Tag auf der Straße arbeiten und damit ihre Familien ernähren müssen, er geht auch ganz bewusst in die reicheren Viertel. Die damals entstandenen Bilder sind formal, aber auch inhaltlich Schwarzweißaufnahmen.
 

Die Rückkehr

 
Ludwig Thalheimer will ganz am Anfang einen Kalender aus den Fotos und Geschichten machen. Die Erzählungen und Beschreibungen der Abgebildeten notiert er in ein Heft. Ebenso notdürftige Wegbeschreibungen und die Adresse der Kinder.
Der Kalender wird nie entstehen. Dafür aber sechs Jahre später ein kleiner. aber feiner Fotoband mit dem Titel „Erwachsene Kinder“.
 

María

Die Bilder sind von 1986, da war ich zehn. Ich verkaufte Zeitungen von fünf Uhr früh bis abends um sechs. Ich wäre gerne weiter zur Schule gegangen, ein Jahr mehr und ich hätte den Abschluss gehabt. Das wollte Vater aber nicht. Mein Leben wurde besser als erwartet. Es ist ein gutes Leben, ich habe ein Zuhause und fühle mich geborgener als in meiner Kindheit. Mein Mann und meine Kinder waren für mich da, als Vater starb. Er war Alkoholiker, auch Mutter, ich pflegte ihn, so wie jetzt meine Mutter, die wegen mehrerer Hirnschläge ans Bett gefesselt ist. Die Bilder geben mir schöne Erinnerungen, aber das Leben war hart. Im November werde ich Carlos Eduardo heiraten, mit dem ich seit 24 Jahren zusammen bin.
 

Danach verschwinden die Fotos der Kinder von San José im Archiv von Ludwig Thalheimer. Erst 30 Jahre später tauchen sie wieder auf. Denn im Herbst 2016 steht plötzlich eine Frage im Raum: „Was ist aus diesen Kindern von damals geworden?“.
Es ist der Startschuss für eine unglaubliche fotografische Spurensuche. Ludwig Thalheimer beschließt, nach Costa Rica zu reisen und die Kinder von damals zu suchen und nochmals zu fotografieren. Am Ende werden es allein im Jahr 2017 drei Reisen nach San José werden.
Knapp vor seiner Abreise verschickte Ludwig Thalheimer rund 100 E-Mails an Journalisten und Medien. Über den italienischen Journalisten Lorenzo Pirovano lernt er an die investigative Journalistin Mercedes Agüero kennen, die dem Bozner Fotografen bei der Suche entscheidend zur Seite steht. „Ich hatte einfach Glück, denn ich habe fast alle wiedergefunden“, sagt Thalheimer im Rückblick.
Es ist für alle ein Zeitsprung. Denn plötzlich sehen sich nicht nur die Abgebildeten mit ihrer Vergangenheit konfrontiert, auch für Thalheimer wird die Linse zu einer Art Reflexion über das eigene Leben.
 

Das Buch

 
Aus den Fotos von damals und jenen von 2017 ist jetzt das Buch „Costa Rica Time Warp“ entstanden. Drei Jahrzehnte liegen zwischen den körnigen Schwarzweißaufnahmen und dem digitalen Farbfotos. Es sind nur auf den ersten Blick zwei Welten, in denen sich die Protagonisten bewegen. Schaut man genauer hin und liest man die Geschichten, die sie im Buch erzählen, wird deutlich, wie eng Licht und Schatten verbunden sind. In jedem Leben.
 

Maria

Auf den Bildern bin ich sieben. Meine Eltern hatten einen kleinen Obststand auf der Straße, nach der Schule bin zu ihnen. Manchmal kamen auch andere Kinder zum Spielen. Ich hätte gerne eine Schwester oder einen Bruder gehabt, aber meine Mutter sagte, sie wollte keine Kinder mehr, die nur dauernd streiten würden. Sie sagte immer: „Studiere, damit dir nicht dasselbe passiert wie mir, die am Obststand hart arbeiten muss.“Heute arbeite ich als Lehrerin der sechsten Klasse im Centro Educativo El Carmelo. Angefangen hatte ich mit Tiermedizin, dann aber habe ich gemerkt, dass mir die Arbeit mit Kindern besser gefällt, also wechselte ich zu Pädagogik.

 

In „Time Warp“ wird nicht der Ästhetik gefrönt, sondern Ludwig Thalheimer hat ein politisches Buch gemacht. „Die Bilder erzählen unaufdringlich und subtil. So werden Zusammenhänge im Politischen erkennbar, ohne dass der politische Diskurs die Deutungshoheit übernimmt“ schriebt die Südtiroler Autorin Maxi Obexer in ihrem Essay im Buch.
Ludwig Thalheimer ist kein Mann der großen Worte. Der Bozner Fotograf schafft es aber, in seinen Bildern und Texten Eindrücke zu vermitteln, Emotionen zu transportieren und den Betrachter zum Nachdenken anzuregen. Ohne dabei plakativ oder reißerisch zu sein.
„Time Warp“ erzählt Geschichten, die das Leben schrieb, und das Buch ist eine Lebensgeschichte. Dazu passt auch eine traurige Episode, die  das Buchprojekt ganz am Ende fast noch scheitern ließ.
Ludwig Thalheimer hat für die Buchproduktion mehrere internationale Fotobuchverlage angeschrieben. Em Ende entschied er sich für den Berliner Verlag „peperoni books“ von Hannes Wanderer. Fünf Monate lang arbeitet Thalheimer mit Wanderer an dem Buch, das pünktlich zur Frankfurter Buchmesse im Oktober erscheinen sollte.
 
Der Verleger hatte Anfang September die Andrucke für das Buch gemacht, am 10. September sollte Thalheimer zur Endabnahme in Berlin sein. Er wartet aber vergeblich vor der Bürotür. Am Tag davor war Hannes Wanderer völlig überraschend an einem Herzinfarkt verstorben. Auf seinem Bürotisch findet man wenig später die fertigen Andrucke von „Time Warp“.
Ludwig Thalheimer gelingt es innerhalb kürzester Zeit, in der Salzburger „Fotohof edition“ einen gleichwertigen Ersatz zu finden. Der Verlag übernimmt die Produktion und das Buch wird am Tag der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse fertig. Am 11. Oktober stellt Ludwig Thalheimer sein Buch in Frankfurt vor.