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Weinen können

Weinen hilft jetzt auch nicht weiter”
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weinen können
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“Weinen hilft jetzt auch nicht weiter”. Wie oft haben wir diesen Satz in unserem Leben gehört! Und wie oft haben wir ihn selbst gesagt. Weil wir denken: „Nur Heulsusen weinen. Wer weint, ist schwach.“ Als ob Weinen etwas Ungehöriges wäre. O tempora, o mores! Wie akzeptiert kann in einer Gesellschaft, in der man immer zu den Gewinnern zählen, sich stark und widerstandsfähig geben muss und in der das Zugeben der eigenen Schwächen – wie im Krieg – das Ende bedeutet, wie akzeptiert kann in solch einer Welt ein sinnloses Weinen sein? Man weint aus Schmerz, aus Wut, aus Freude oder wegen eines erlittenen Unrechts. Man heult in sein Bier oder über vergossene Milch. Man kann auch nur so tun, als ob man weinte. Oder der Vergangenheit nachweinen: „Vom Leben ungewiss gegängelt, beweint‘ ich meine schöne Jugend und die Blüthe meiner armen Tage“, wie es unser großer italienischer Dichter Giacomo Leopardi so schön formuliert hat. 

Ist es wirklich sinnlos, wenn man wegen eines Buchs oder Films weint? Dürfen wir denn nicht weinen, wenn Pfleger und Ärzte ihre Gesundheit für das Leben anderer aufs Spiel setzen – Szenen, die wir mittlerweile ständig erleben? Wer entscheidet eigentlich, wann ein Weinen „sinnvoll“ ist und wann sinnloses Flennen? In der griechischen Dichtung weinen auch die Helden: „Erde und Tränen, so entstand das Menschengeschlecht.“ Odysseus weinte, als er gezwungen war, mit der von der wunderschönen Tochter von Atlas verkörperten unsterblichen Schönheit ins Bett zu gehen, weil unser Held diese einseitige, falsche Beziehung nicht ertrug. Es weinten Achilles und Agamemnon, Diomedes, Patroklos und Hektor, legendäre Helden, die die härtesten Kämpfe überstanden und die stärksten Feinde besiegt hatten. Die Götter beneiden uns ganz schrecklich um unsere Sterblichkeit, die wirklich göttlich ist und unser Handeln heiligt, während Unsterblichkeit, welche ja jedes Handeln sinnlos macht, die wahre Strafe darstellt.

Wir müssten uns transformieren und die Wichtigkeit dieser gleichermaßen unsinnigen wie grundlegenden Sache wie dem Weinen erkennen. Dazu müssen wir nicht einmal neue Geschichten erfinden. Auch hier kommen uns die griechischen Helden zur Hilfe: „Gnothi seauton“, erkenne dich selbst, so lehrt und ermahnt und leitet uns das Orakel von Delphi. Ohne Angst vor dem Weinen und ohne die Tränen aufzuhalten, die sich sonst im Herzen stauen und es verkrusten lassen, ähnlich wie der Kalk in der Waschmaschine, wenn der Vergleich erlaubt ist. Ja, damit ein Mensch zu sich selbst werden kann, muss er weinen können.

Michil Costa