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„Meine Mutter hat mich verschenkt“

Markus Zwerger hat in seinem Buch „Opa, erzähl mir!“ die Lebensgeschichte seiner Großvater niedergeschrieben, der neunzig Jahre Südtiroler Geschichte erlebt hat.
Arthur Dalsass mit seinen Enkeln Ivan und Arno in Kanada, 1995
Foto: Archiv Arthur Dalsass
Markus Zwerger nahm sich nach dem Abschluss der Oberschule eine Auszeit, auch bedingt durch die Pandemie, die ihn zum online-Studenten machte. Er wohnte mit seinem Großvater im selben Haus in Leifers und verbrachte, schon seit er Kind war, gerne Zeit bei den Großeltern. Beim alten Großvater dann auch, um ihm Gesellschaft zu leisten und die Lebensgeschichten, die Großvater Arthur Dalsass seiner Familie und seinen Bekannten immer wieder erzählte, festzuhalten. Es ist ein Stück Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, das Markus in den Dialogen mit seinem Opa auf lebendige und zugeneigt kritische Art zugänglich macht.
 
Salto.bz: Herr Zwerger, die Lebensgeschichte Ihres Großvaters versetzt uns stellenweise in eine Welt, die wir nicht als unsere wahrhaben.
 
Markus Zwerger: Als Säugling brachte ihn der Postbote von Leifers nach Deutschnofen zu einer Ziehfamilie. Die leibliche Mutter konnte das Baby nicht behalten, weil sie arbeitete und die damalige Gesellschaftsmoral ledige Mütter und ledige Kinder in einer Weise diskriminierte, die heute nicht mehr vorstellbar ist. Die Mutter zahlte nach zwei Monaten nichts mehr an die Ziehfamilie, die arme Bauern waren und die das Kind ursprünglich als Zuverdienst aufgenommen hatten. Arthur hatte wie oft im Leben Glück, die Ziehmutter kümmerte sich um ihn weiterhin. Mein Großvater sagte dazu: „Meine Mutter hat mich verschenkt. Doch sie hatte keine Wahl. Und auch ich bin aufgewachsen; habe das nicht einmal so schlecht hinbekommen!“
 
 
Wie in der Geschichte vom hässlichen Entlein von Hans Christian Andersen.
 
Opa erzählte seine Lebensgeschichte sicher auch deshalb so gern, weil er sich selbst und allen anderen bestätigte, er hatte sein Leben zum Guten gewandt. In seinen Erzählungen der Kindheit schwang immer eine immense Belastung und Trauer mit, doch Opa verstand es, auf das Gute zu schauen. Deshalb erzählte er mir meistens, wenn er von seiner frühen gesellschaftlichen Ausgrenzung sprach, im Anschluss von einem seiner Streiche oder von der Behauptung seines Platzes mit der bloßen Kraft seiner eigenen Hände.
 
Das Leitthema des Buchs?
 
Sicher die Familie. Familie war ein für Opa prägendes Thema. Familie machte er zu Beginn seines Lebens an der leiblichen Mutter fest; durch ihr Verlassen war er von Beginn an ganz allein, hatte also keine Familie. Da waren “nur” seine Zieheltern, doch er lernte rasch, die Dinge zu schätzen, die andere für ihn taten. Schon früh verstand er, was das Wichtigste für ihn war; eine eigene Familie erträumte er sich sicherlich von Beginn an. Und schließlich gründete er, allen Schwierigkeiten zum Trotz, mit seiner geliebten Rosa 1952 eine Familie. Aus dem Knecht auf Deutschnofner Bauernhöfen wurde ein unermüdlicher LKW-Fahrer, der mit 19 Jahren schon den Führerschein hatte. Dass das schönste Mädchen von Deutschnofen, jüngste Tochter des Obernocker Hofs, seinen Heiratsantrag akzeptiert hatte, das erwähnte er in seinen Geschichten oft. Sie hatte schon sechs Bewerber, reiche Bauernsöhne und ein Schmied, aber ihr gefiel der wache Arthur, obwohl er ein „Lediger“ war, einer am Rand der Gesellschaft.
In seinen Erzählungen der Kindheit schwang immer eine immense Belastung und Trauer mit, doch Opa verstand es, auf das Gute zu schauen.
Opa lebte bis kurz vor seinem Tod in seiner Wohnung im Haus in Leifers. Es war und ist in unserer Familie normal, dass wir aufeinander schauen. Nach Omas Tod kümmerten sich seine Kinder um ihn, vor allem meine Mutter und Tante Cristina. Das verlangte von allen viel Akzeptanz und Geduld, vor allem, als wir Opa nicht mehr allein lassen konnten. Er war uns dankbar dafür, und wir taten es sehr gern.
 
 
 
Sie als Enkel und als Autor. An mehreren Stellen ist mir aufgefallen, dass es Sie sehr beschäftigt, wie weit Sie die Erinnerungen Ihres Großvaters wiedergeben oder sich selbst auf der Diskussionsebene einbringen sollen. Nehmen wir das Gespräch, das Sie wunderbar einfangen, Ihr Großvater spricht mit seinem Nachbar Leo Sölva über Krieg.
 
Es geht um den Zweiten Weltkrieg, den Leo Sölva an einer der Russland-Fronten erlebt hatte. Der um einige Jahre jüngere Arthur wurde im März 1945 zur Grundausbildung nach Villach geschickt, nachdem er als Mitglied der Hitlerjugend unterschrieben hatte, sich zur SS zu melden. Wie alle seine gleichaltrigen Kameraden hatte er unterschrieben, ohne zu verstehen, was es bedeuten sollte. Als die Grundausbildung zu Ende war, war es auch der Krieg. Von Leo Sölva sagt meine Mutter, „er sei ein weiser, belesener Mann, den die schrecklichen Erfahrungen im Krieg gezeichnet haben. Nicht geknickt, aber gebrannt.“ Opa kam während dieses Gesprächs vom Tagesgeschehen auf’s Grundsätzliche. „Ja, an Ordnung fehlt es schon gewaltig! Früher war das nicht so. Da herrschte Ordnung. Bei Hitler gab es Ordnung. Hitler bräuchte es wieder einmal!“.
Bei Hitler gab es Ordnung. Hitler bräuchte es wieder einmal!.
Hier blenden Sie vom Großvater auf sich, wenn er mit seinen Stammtisch-Parolen für Hitler, für Krieg und gegen die Juden zieht. Sie halten den Erzählfluss ein und schreiben: „für mich wie ein Schlag in die Magengrube. Bei aller Liebe zu meinem Opa zeigen solche Aussagen, die ich eigentlich äußerst selten von ihm höre, wie wenig Ahnung er von den Ereignissen des Weltkrieges hat. Er ist in dieser Hinsicht für mich keine Autorität, nur weil er diese Zeit miterlebt hat.“
 
Ich zitiere jetzt auch aus dem Buch: „Ich bin weit entfernt, ein Urteil sprechen zu wollen, es geht einzig darum, die Person meines Großvaters möglichst facettenreich zu schildern. Die Reaktion von Leo – vom alten, weisen, standhaften Leo – ist umso erstaunlicher: Arthur hat diese Worte zum Krieg gesprochen und redet weiter, als Leo erstarrt und ins Leere zu blicken scheint. Nur langsam, sehr zaghaft, rührt er sich nach Augenblicken der vollkommenen Regungslosigkeit. Sein Blick, noch immer ins Nichts gerichtet, kehrt nach und nach zu Arthur zurück, er spricht behutsam und umso bedachter folgende Worte: ‚Nein. Nein. Einen Krieg braucht es nie mehr!‘ “.
 
 
 
Wie schätzen Sie selbst Ihr Buch „Opa, erzähl mir!“ ein? Mehr Erzählung oder Dokument?
 
In diesem Buch versuchte ich, die Perspektive meines Opas wiederzugeben und meine, die sich auf das stützt, was ich in der Schule und in meinem Umfeld erfahren habe, seiner gegenüberzustellen. Meine Bewunderung für seine und Omas Lebensgeschichten, das Verbindende, Schwere und Reizvolle der fernen Zeit bewogen mich dazu, das festzuhalten, was ich von meinen Großeltern erfahren haben. Auch, um so geliebte Menschen zu bewahren.