Gesellschaft | Salto-Gespräch

„Ich bin in der Politik“

ICC-Richter Cuno Tarfusser über den internationalen Strafgerichtshof, die italienische Justiz, den Fall Durnwalder und den Reiz, in die Politik zu gehen.
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Foto: Salto.bz

salto.bz: Herr Tarfusser, was ist die größere Schlangengrube, die Politik oder die Justiz?
Cuno Tarfusser: (lacht) Ich denke, die Politik hat mehr Möglichkeiten, aber grundsätzlich ist es ziemlich ähnlich. In beiden Bereichen geht es um Macht und um Machtpositionen. Dabei kommen eben die negativen wie auch die positiven Seiten der Menschen zum Vorschein. Der Unterschied ist deshalb relativ gering.

Der Bürger hat eine höhere Auffassung von der Justiz. Er glaubt an die Gerechtigkeit. Hinter den Kulissen schaut es aber in Wirklichkeit anders aus?
Um zur sogenannten „menschlichen Gerechtigkeit“ zu kommen, muss man durch verschiedene Prozeduren gehen. Diese Prozeduren sind von Menschen geschaffen. Dabei geht es um gegensätzliche Interessen zwischen den Parteien. Etwa zwischen Anklage und Verteidigung im Strafrecht oder zwischen Gläubiger und Schuldner im Zivilrecht. Das ist relativ normal. Aber natürlich ist es schwierig, zwischen These und Antithese am Ende die Synthese zu finden, was eigentlich die Gerechtigkeit sein sollte. Oft schafft man es nicht einmal in die Nähe davon zu kommen...

Sowohl in Politik wie auch in der Justiz geht es um Macht und um Machtpositionen.

Ist das nicht eine Bankrotterklärung für das Justizsystem?
Nein, und ich sehe das von meiner Seite, als Ankläger oder Richter, der das System kennt. Der Bürger, der auf der anderen Seite sitzt, kann das sicherlich anders sehen, denn er sieht das aus seiner persönlichen positiven oder negativen Erfahrung heraus.

Steht das italienische Justizsystem vor dem Kollaps?
Jein. Auch hier kommt es auf die Sichtweise an. Wenn man das Gesamtsystem sieht, dann besteht sicherlich diese Gefahr. Aber das ist in der internationalen Justiz ähnlich. Auch dort haben wir nicht das Gelbe vom Ei. Wenn ich das Gesamte sehe, dann habe ich natürlich Kritik anzubringen. Sehe ich das aber vonseiten der Akteure, eines Staatsanwaltes, eines Richters, eines Rechtsanwaltes oder eines betroffenen Bürgers, dann kann das System auch durchaus positiv funktionieren.

Wer es intelligent anstellt, schafft es in Italien, jeden Prozess in die Verjährung zu treiben.
Hier gäbe es eine ganz einfach Lösung. So wie es in anderen zivilisierten Ländern üblich ist, etwa in Deutschland, wo die Verjährung an einem gewissen Punkt unterbrochen wird. Etwa nach dem Urteil ersten Grades. Dann verjährt der Prozess nie mehr. Dazu braucht es nicht viel. Das Problem ist, in Italien fehlt der politische Wille für eine solche Reform.

Wir haben in Südtirol mit dem zweisprachigen Prozess eine italienische Einmaligkeit. Ein Fluch oder ein Segen?
Sicher ist das ein Problem. Ende der achtziger Jahre habe ich bei einer Tagung zur Justiz dieses Problem aufgeworfen. Ich habe gesagt, dass das nicht machbar ist. Viel zu schwerfällig der Mechanismus. Man muss das Prinzip, das absolut richtig ist, mit der Machbarkeit in Einklang bringen. Damals habe ich den Gesetzesentwurf kritisiert und vorgeschlagen, dass man genau das macht, was auch die Politiker für sich beanspruchen: Eine Simultanübersetzung. Das wurde damals vom stellvertretenden Landeshauptmann als totaler Affront empfunden.

Nein, Tarfusser kommt nicht. Tarfusser bleibt in Den Haag. Die einzigen zwei Suppen, die aufgewärmt gut sind, sind die Gulaschsuppe und die Pasta e Fagoli.

Kommen wir zum Gossip: Guido Rispoli geht, Cuno Tarfusser kommt?
Nein, Tarfusser kommt nicht. Tarfusser bleibt in Den Haag. Die einzigen zwei Suppen, die aufgewärmt gut sind, sind die Gulaschsuppe und die Pasta e Fagoli.

Als Richter am internationalen Strafgerichtshof ICC in Den Haag haben Sie auf Weltebene eines der höchsten Ämter, die es in der Justiz gibt. Ganz gleich, wo Sie danach hingehen. Es wird immer ein Abstieg sein?
Ich bin einer von 18 Personen auf der Welt, die diesen Job machen. Viel mehr geht nicht. Sieht man das als Pyramide, geht es auf jeden Fall nach unten. Aber ich empfinde das nicht so. Ich gehe dorthin, wo ich für mich eine Herausforderung finden kann. Mir ist wichtig, dass ich etwas gestalten kann.

Haben Sie nie gedacht, die Schuhe in Den Haag sind für mich zu groß?
Das habe ich sehr wohl gedacht, bevor ich das Amt angetreten habe. Ich bin mit zittrigen Knien und mit sehr viel Demut nach Den Haag gegangen. Man stellt sich vor, dass dieser Gerichtshof wirklich das Gotha der Justiz ist. Aber man merkt sehr schnell, dass überall nur mit Wasser gekocht wird. Auch, dass man die eigene Erfahrung und Persönlichkeit doch sehr gut einbringen kann. Ich glaube nicht, dass mir sehr viele Leute in Den Haag etwas beigebracht haben...

Ich bin mit zittrigen Knien und mit sehr viel Demut nach Den Haag gegangen.

Typisch Tarfussers Arroganz...
Nein, es mag zwar überheblich klingen, aber es ist einfach Tatsache, dass ich mit allen Leuten dort auf Augenhöhe reden kann. Der Grund dafür ist ein zweifacher: zum Einen habe ich ein erhebliches Maß an Erfahrung und Praxis mitgebracht, zum Anderen sind meine Richterkollegen in Den Haag nicht alles ausgebildete Richter. Die Voraussetzung, um Richter am Internationalen Strafgerichtshof zu werden, sind unterschiedlich. Während einige Kollegen in ihrem vorherigen Leben Diplomaten oder Universitätsprofessoren waren und von der Justizpraxis sehr wenig Ahnung haben, gibt es andere, die eben aus der strafrechtlichen Praxis kommen wie ich selbst und der deutsche Kollege Bertram Schmitt, der als Mensch, als Jurist und als Kollege einfach formidabel ist. Schmitt war zuletzt Richter am Bundesgerichtshof. Vor diesem Hintergrund kann ich ganz ohne Arroganz sagen, dass ich niemandem das Wasser reichen muss.

Es gibt Kritiker, die den internationalen Strafgerichtshof als zahnlosen Tiger beschreiben?
Es ist sicher nicht alles Gold, was glänzt. Aber für mich ist der internationale Strafgerichtshof etwas Phantastisches. Allein die Idee, dass es ein internationales Organ gibt, das einen Staats- oder Ministerpräsidenten für etwas, was er innerstaatlich getan hat, zur Rechenschaft ziehen kann, finde ich fast schon revolutionär. Bei der Umsetzung der Idee in die Praxis gibt es durchaus Probleme, das stimmt. Wir haben ein riesiges Potential, das aber nur zu einem relativ kleinen Prozentsatz ausgenützt wird.

Haben Sie eine Erklärung dafür?
Eine ist sicher dadurch gegeben, dass wir erst seit 1. Juli 2002 existieren und somit eine Institution in den Kinderschuhen sind, die es gilt, Tag für Tag aufzubauen. Es gibt aber auch eine andere Erklärung, und ich denke oft darüber nach und frage mich, warum alles so schwerfällig ist. Dabei kann ich mich oft des Eindruckes nicht erwehren, dass man diese Institution zwar geschaffen hat, aber nicht so wirklich will, dass sie funktioniert. Warum? Meine Antwort darauf ist eine weitere Frage: Gibt es auf der Welt überhaupt einen Staat, der will, dass die Justiz innerstaatlich funktioniert?

Als Richter begeben Sie sich jetzt aber auf gefährliches Terrain?
Meine Antwort ist: nein. Es gibt keinen Staat, der das wirklich und konsequent will. Ich rede jetzt nicht von Diktaturen, in denen man von Justiz ja kaum sprechen kann, sondern ich spreche von sogenannten zivilisierten Rechtsstaaten. Diese wollen, dass die Justiz sehr wohl funktioniert, aber nur solange sie Konsens schafft. Im Klartext: Wenn es gegen den Bankräuber, den Ladendieb, den Drogenhändler oder den Mörder geht, dann gibt es kein Problem. Hier soll die Justiz funktionieren. Denn das fördert ja letztlich den Konsens auch für die Politik. Wenn man aber die Justiz als die Kontrolle der Legalität in allen Bereichen ansieht, dann wird das Ganze schon problematischer.

Gibt es auf der Welt überhaupt einen Staat, der will, dass die Justiz innerstaatlich funktioniert?

Sie sagen: Hier wird ganz bewusst gebremst?
Ja. Und nicht nur in Italien. In Deutschland gibt es zum Beispiel 17 Justizminister und der Staatsanwalt muss dem jeweiligen Ministerium Bericht erstatten. Erst vor wenigen Wochen hat der deutsche Bundesjustizminister den Bundesgeneralanwalt entlassen, weil er offensichtlich wider die politischen Erwartungen gehandelt hat. In Österreich ist der Statsanwalt dem Justizminister weisungsgebunden, usw. Das heißt, in jedem System ist der Staatsanwalt irgendwie von der Politik kontrolliert. Das führt unweigerlich dazu, dass dem Staatsanwalt, solange er den Konsens fördert, freie Hand gelassen wird. Sonst bekommt er schnell Probleme. Aber zurück zum ICC. Warum soll eine Reihe von Staaten, die im eigenen Land so verfahren, eine internationale Instanz akzeptieren, die perfekt funktioniert? In Wirklichkeit sind alle Staaten mit der internationalen Strafjustiz einverstanden, solange es sie selber nicht trifft.


Cuno Tarfusser im Salto-Gespräch:  "Ich sehe heute die Welt viel gelassener."

Sie entscheiden in Den Haag Fälle, wo es um Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschheit geht. Wir hier streiten um Durnwalders Sonderfonds. Kommt Ihnen das nicht absurd vor?
Nicht nur wegen dem Sonderfonds von Durnwalder. Man hat in Den Haag mit Dingen zu tun, die ich mir auch als Staatsanwalt, der einiges erlebt hat, nicht vorstellen konnte. Man kann es sich wirklich nicht vorstellen, wie es auf der Welt zugeht. Dann komme ich nach Bozen, kaufe eine Zeitung und lese auf der Titelseite vom überfahrenen Bären, vom Stau auf der Autobahn oder einigen Einbrüchen, und mir geht das Herz auf, denn es macht deutlich, dass man hier zu Lande noch aus jeder Mücke einen Elefanten machen kann. Bei mir hingegen hat der Beruf wirklich auf mich abgefärbt, aber im positive Sinne. Ich sehe heute die Welt viel gelassener, und mir persönlich geht es viel besser als früher. Denn ich habe unsere Situation und meine persönliche viel mehr schätzen gelernt.

Zurück zum Sonderfonds. Aus Ihrer Aussage vor Gericht kam deutlich heraus, dass Sie die Anklage für einen Blödsinn halten?
(lacht) Ich will es nicht so formulieren. Ich kann aber sagen, dass es diesen Prozess wahrscheinlich nicht gegeben hätte, wenn ich Chef in Bozen gewesen wäre...

Weil Sie keine Straftat sehen?
Man muss die Fakten juristisch einordnen. Einmal faktisch und einmal psychologisch aus der Sicht des mutmaßlichen Täters. Hier scheint mir, dass es faktisch umstritten ist, ob es überhaupt eine Straftat ist. Wenn ich ein Kilo Heroin im Sack habe, dann gibt es nichts zu diskutieren. Hier aber gibt es durchaus verschiedene Blickpunkte. Wobei man die Fakten vor allem in einem größeren Kontext sehen muss. Tut man das, dann sind sie für mich so irrelevant, dass ich mir denke....mah. Dann gibt es noch das psychologische Element, also den Willen, die Tat zu begehen. Die Frage dazu ist, ob dieser Wille bestanden hat. Aber damit möchte ich es belassen, denn immerhin war ich Zeuge im Prozess.

Ich kann sagen, dass es den Sonderfonds-Prozess wahrscheinlich nicht gegeben hätte, wenn ich Chef in Bozen gewesen wäre.

Die Welt wird zum Polizeistaat. Die Bürgerrechte werden immer mehr aufgehoben. Es gibt bald nur mehr Verbote und die totale Überwachung.
Das ist alles ein zweischneidiges Schwert. Wenn ich das als außenstehender, mündiger Bürger betrachte, dann sehe ich das auch so. Wenn ich aber überfallen werde, dann bin ich auch froh, dass es eine Kamera gibt, die alles aufgenommen hat...

Dass aber jeder Bürger und jede Bürgerin unter Generalverdacht steht, ist einer Demokratie doch nicht würdig?
Ist es wirklich der Generalverdacht? Oder der Versuch, die Möglichkeiten zu erweitern, den Täter zu finden. Am Ende geht es darum, ein Gleichgewicht zu finden. Es ist ein problematisches Thema, und wir werden uns noch lange mit diesem Spannungsfeld beschäftigen müssen.

Seit vielen Jahren machen Sie keinen Hehl daraus, dass Sie für die Legalisierung der leichten Drogen sind?
Nein, ich würde noch weiter gehen. Ich würde alle Drogen legalisieren. Die leichten sowieso, aber auch die sogenannten harten Drogen. Die Abhängigen sollen sie auf Rezept in der Apotheke bekommen. Gleichzeitig soll der Staat Ausstiegsprogramme anbieten. Wie so oft und überall ist der Prohibitionismus gescheitert, er hat eine florierende kriminelle Industrie geschaffen, das Suchtproblem vergrößert und das Sicherheits- und Justizsystem durch die Ermittlungen und Verfahren bezüglich der Drogendelikte gelähmt. Hier ist ein radikales Umdenken dringend nötig.

Ich würde alle Drogen legalisieren. Wie so oft und überall ist der Prohibitionismus gescheitert, er hat eine florierende kriminelle Industrie geschaffen, das Suchtproblem vergrössert und das Sicherheits- und Justzsystem durch die Ermittlungen und Verfahren bezüglich der Drogendelikte gelähmt. Hier ist ein radikales Umdenken dringend nötig.

Wann wird Cuno Tarfusser in die Politik gehen?
Ich bin in der Politik. Ich bin ein politisch denkender Mensch. Aber ich werde nicht in die Mandatspolitik gehen. Auch weil mich niemand fragt.

Es würde Sie aber reizen?
Es würde mich nur reizen in einer Position, wo ich etwas tun kann. Ich könnte nie ein Yes-Man für jemanden sein. Oder nur in die Politik gehen, um einen Sessel zu besetzen. Ich habe derzeit aber ganz andere Prioritäten. Seit 28. Januar bin ich Vorsitzender im größten und kompliziertesten Prozess, den der ICC jemals hatte. Es geht dabei um das Verfahren gegen den ehemaligen Präsidenten der Elfenbeinküste Laurent Gbagbo. Ihm und seinem engsten Vertrauten und Minister Charles Blé Goudé werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen, Es geht dabei um Morde und Vergewaltigungen nach der Präsidentenwahl 2010. Diese Prozess wird mich die nächsten zwei, drei Jahre beschäftigen. Danach wird man sehen. Ich habe aber keinerlei Leidensdruck. Ich werde auf jeden Fall zufrieden sein, egal was passiert.