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Nation vs. EU: Wer entscheidet wirklich?

Beim Gipfeltreffen am Donnerstag gab es keine Einigung über den nächsten Kommissionspräsidenten. Warum fällt es der EU so schwer, Entscheidungen zu treffen?
Nation vs EU
Foto: Peter Bettin

Die Europäische Union ist weder ein loser Staatenbund noch ein Bundesstaat. Sie hat eine Exekutive, eine Legislative und eine Judikative, einen gemeinsamen Binnenmarkt und einheitliche Währung, doch fußt sie gleichzeitig auf dem Willen seiner Mitglieder, den Nationalstaaten. Somit ist die EU eine Konstruktion zwischendrin, ein weltweit einzigartiges Gemisch aus nationalen und supranationalen, also überstaatlichen, Elementen. Ein sogenannter „Staatenverbund“, wie sie im Fachjargon genannt wird. Doch gerade diese Einzigartigkeit und Mehrschichtigkeit macht die EU zu einem undurchdringlichen Gebilde, aus dem niemand so richtig schlau wird. Wo fallen die Entscheidungen? Wer hat hier mehr zu sagen, die EU oder die eigene Nation? Wer diktiert welche politischen Entscheidungen? Noel Löcse, Student der Politikwissenschaften und Praktikant in Brüssel, umschreibt die Beziehung zwischen EU und Nationalstaaten mit folgendem Gleichnis: „Es ist eine gegenseitige Einflussnahme. So wie bei Mond und Erde: Nicht etwa kreist er um sie, sondern beide umeinander, und beide beeinflussen sich gegenseitig in ihrer Umlaufbahn.“ 

Ausdruck des Spannungsverhältnisses zwischen supranationalen EU-Organen und nationalen Regierungen ist der derzeitige Streit um den EU-Chefposten: die Nachfolge Jean Claude Junckers als Kommissionspräsidenten. Seit 2014 muss dieser vom Parlament gewählt werden, anstatt wie früher, undurchsichtig von den einzelnen Regierungschefs der Länder bestimmt. Diese nominieren den potentiellen Kandidaten zwar, dabei müssen sie aber die Ergebnisse der Parlamentswahlen respektieren. Einige Länder, darunter Frankreich, sprechen sich jetzt aber gegen dieses sogenannte Spitzenkandidatensystem aus, denn, so deren Meinung, diese Entscheidung liege bei den nationalen Regierungen, nicht beim Parlament.

Kein einzelnes Land alleine kann einfach die Regeln ändern, wie Salvini es behauptet.

In der Geschichte der europäischen Integration stellten sich die nationalen Regierungen oftmals quer gegen mehr Macht an supranationale Organe, wie Kommission und Parlament. Ersteres Organ hat das alleinige Initiativrecht, d.h., nur die Kommission kann Gesetze initiieren. Dies erklärt auch die Wichtigkeit des Kommissionspräsidenten und den Grund, warum so vehement um die Position gestritten wird. Das europäische Parlament beschließt dann die Gesetzesentwürfe gemeinsam mit dem Rat, der aus den Ministern der einzelnen Länder besteht, und somit ein klassisches intergouvernementales Organ darstellt. Das heißt, beim Rat haben nationale Regierungen, und keine europäischen Funktionäre, das Sagen. Und hier liegt häufig das Problem, denn in vielen Themenfeldern herrscht Einheitsprinzip, das heißt, dass jeder einzelne nationale Vertreter zustimmen muss, um ein Gesetz durchzubringen. Und so blockieren die Länder sich oft gegenseitig. Zwar haben sich die Themenfelder, die mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden können, im Laufe der europäischen Integrationsgeschichte ausgeweitet, aber von den 192 bedarf es immer noch bei 92 Fällen die Zustimmung jedes einzelnen nationalen Vertreters. Zudem gilt bis heute der „Luxemburger Kompromiss“. Dieser war eine Antwort auf die sogenannte Politik des leeren Stuhls vom französischen Präsidenten Charles de Gaulle, der sich gegen Mehrheitsabstimmungen im Rat sperrte, und einfach nicht mehr zu den Sitzungen erschien. Den Kompromiss, der die Blockade auflöste: Wenn es für einen Staat um essentiell wichtige Themen geht, so gilt keine Mehrheit mehr, sondern alle müssen zustimmen bzw. jeder kann ein Veto einlegen. Zu diesen Feldern gehört auch die Einwanderungs- und Asylpolitik, was erklärt, warum es Europa so schwerfällt, eine Lösung für die Migrationsbewegungen und ein gemeinsames Asylsystem zu entwickeln.

 

Herr Löcse, der sein Praktikum bei der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der EU absolviert, ist der Meinung, dass die Nationalstaaten am Ende am längeren Hebel sitzen. Davon hat er nämlich genug mit eigenen Augen mitbekommen. Auch die nationalen Vertretungen sind derzeit mit der anstehenden Neubildung der Kommission beschäftigt, insbesondere mit der Besetzung der neuen Kabinette. Dabei schrecke kein Land vor Ellenbogentechnik zurück, erzählt Löcse, selbst bei der EU Kommission, das überstaatliche Organ par excellence. Doch statt diese Überstaatlichkeit zu repräsentieren, achte jeder Staat darauf, einen prozentualen Mindestsatz des Kommissions-Managements zu stellen. Dieser Prozentsatz wird zwar festgelegt, aber nur durch einen unverbindlichen Sollwert. Für diese Einhaltung bzw. Überschreitung streite sich jeder Nationalstaat, besonders in den wichtigen Generaldirektoren. „Es gibt zwar eine These, dass die Beamtenschaft der Kommission ein eigenes supranationales Kollektiv darstellt,“ so Löcse, „aber meiner Erfahrung nach ist sich jeder Kommission Beamte seiner Nationalität und der Nationalität seiner unmittelbaren Kollegen und Vorgesetzten klar bewusst“. Auch Italien ist im Moment mit der Zusammenstellung der neuen Kommission beschäftigt. Insbesondere im Hinblick auf jüngste Spannung mit Brüssel, hat Rom natürlich besonderes Interesse daran, in thematisch wichtigen Bereichen eigene Leute zu schicken. Wen wundert es also, dass die italienische Regierung unbedingt den Haushaltkommissar stellen will, der zurzeit von Frankreich mit Pierre Moscovici gestellt wird. „Von diesen Personalfragen hängt sehr viel – nicht weniger als die politische Grundausrichtung der Kommission – ab,“ so Löcse. 

Ausdruck des Spannungsverhältnisses ist der derzeitige Streit um den EU-Chefposten.

Schenkt man nun aber Reden von Salvini, Le Pen und anderen nationalistisch ausgerichteten Politikern Glauben, wird Politik komplett aus Brüssel diktiert. Ihrer Meinung nach, sollten die Entscheidungsbefugnisse wieder stärker an die eigene Nation zurückgehen. In deren Argumentation wird häuft mit dem Finger auf die EU gezeigt, falls im Land was schiefläuft. Europäische Entscheidungen werden auch häufig aufgeblasen, ohne Details zu nennen, die den Sachverhalt plötzlich in ein anderes Licht stellen. Ein klassisches Beispiel dieses sogenannten „EU-Bashing“ ist der Gurken-Mythos. In den 80er Jahren erließ die EU eine Verordnung, in der festgelegt wurde, dass eine Salatgurke der besten Güteklasse eine maximale Krümmung von 10 Millimetern aufweisen dürfe. Dieser kleine Paragraph wurde aufgegriffen und als Sinnbild des Regulierungswahns Brüsseler Bürokraten. „Die EU schreibt uns jetzt sogar vor, wie krumm unsere Gurken sein dürfen“, hieß es. Die Entscheidung wurde so verhetzt, dass die EU sie nach wenigen Jahren wieder zurückzog, und das gegen den Wunsch der Händler und Bauernorganisationen. Denn es waren eigentlich sie, die den Vorschlag an die EU brachten. Die EU setze nur um, was Händler und einzelne Regierungen bereits seit langem forderten, denn, die Regulierung hat praktische Gründe: gerade Gurken passen leichter in Kartons, als gekrümmte, und sparen somit Platz. Zudem ist es so einfacher für den Händler, die Ware zu zählen. Außerdem war diese Regulierung nur ein kleiner Paragraph eines ausführlicheren Dokuments, das zur Erleichterung des Binnenhandels gemeinsame Qualitätsstandards auch für andere Obst- und Gemüsesorten festlegte. Mit dem Anstieg populistischer Parteien in Europa wird das EU-Bashing nur noch verstärkt.

Das wohl größte Paradox der EU: von Nationalstaaten getragen mit dem Ziel, diese zu überwinden.

Auf die Frage, was Italien mache, wenn der EU-Brief mit der Androhung des Insolvenzverfahrens komme, antwortete Salivini letztens, er werde mit den Stimmen der 9 Millionen Italiener versuchen, die Regeln der EU zu ändern. Wieder spielt er die Karte der „Stimme des Volkes“ und ungerechte Diktatur aus Brüssel. Er verschweigt dabei, dass Italien die EU mitgegründet hat, den EU-Vertrag unterzeichnet und sich somit freiwillig unter europäisches Recht stellte, wozu es jetzt stehen muss. Er verschweigt, dass Italien im Rat immer noch ein Vetorecht hat, und de facto die EU nicht einfach über die Köpfe der Staaten hinweg entscheidet, sondern für die meisten Gesetze mühsam Kompromisse verhandeln muss, um ebenjenes Veto zu vermeiden, was leider nicht oft gelingt, was dann er EU wiederum vorgeworfen wird. Was also tun, um diese strukturell bedingte Blockade zu lösen, d.h. um europäische Politik kompromiss- und regierungsfähiger zu machen? 

Kein einzelnes Land alleine kann einfach die Regeln ändern, wie Salvini es behauptet. Um die Regeln ändern zu können, wir kommen wieder zum Thema Rat zurück, bedarf es Einstimmigkeit. Und zum Thema Schuldenlockerung würden die strukturstärkeren Länder, wie etwa Deutschland oder Frankreich, wohl kaum zustimmen. Und sicherlich auch nicht Salvinis Parteifreunde von der Afd oder Kollegin Marine Le Pen. Dort hört die populistische Solidarität auf. Um die Struktur der EU ändern zu können bedarf es also der Zustimmung der Länder, und genau aus diesem Grund rechnet Noel Löcse in nächster Zeit nicht mit einer bedeutenden Machtverschiebung zugunsten supranationaler Institutionen. „Vielmehr werden Kommission und europäischer Gerichtshof ihre Kompetenzen auf altbewährtem Wege ausbauen. Das europäische Parlament wird versuchen, wenigstens einige der klassischen Legislativbefugnisse wie das Initiativrecht zu erlangen.“ Das ist wohl das größte Paradox der EU: von Nationalstaaten getragen mit dem Ziel, diese zu überwinden. Ob diese Spannung durch strukturelle Reformen irgendwann in ferner Zukunft überwunden werden kann, bleibt nur zu hoffen, bevor Populisten durch ihr EU-Bashing diesem einzigartigen Staatenverbund jegliche Existenzbasis unter den Füßen wegziehen.