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Die Ukraine ist ein Kulturland

Die Europäische Union erklärte die Ukraine zum Beitrittskandidaten. Beim EU-Gipfel am Donnerstag. Europa braucht die Kultur der Ukraine.
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Foto: ukrainenow / imagebank / artfotoss

Tatsächlich hätte die Europäische Union bereits vor zwanzig Jahren reagieren müssen. Mit der raschen Integration der Ukraine. Dann wäre die aktuelle Eskalation vermieden worden. In der Ukraine war die Begeisterung für Europa damals schon stark spürbar.

Jetzt wurde die Ukraine als Beitrittskandidat von der Europäischen Union anerkannt, beim EU-Gipfel am 23. Juni. Der Europäische Rat schrieb dazu in seiner Erklärung:

"Der Europäische Rat erkennt die europäische Perspektive der Ukraine, der Republik Moldau und Georgiens an. Die Zukunft dieser Länder und ihrer Bürgerinnen und Bürger liegt in der Europäischen Union. Der Europäische Rat hat beschlossen, der Ukraine und der Republik Moldau den Status eines Bewerberlands zuzuerkennen".

Es ist die Hochachtung von Kultur, die Aufmerksamkeit für traditionelle Werte, weshalb Europa die Ukraine braucht.  In der zeitgenössischen Ukraine gelten Schriftsteller als bedeutend für das Land, tragen Städte ihren Namen.
 

Tiefe Verbundenheit

In seinem Roman "Zwölf Ringe" erzählte der ukrainische Autor Jurij Andruchowytsch von einem österreichischen Fotografen, der in die Ukraine reist, auf den Spuren einer gemeinsamen Vergangenheit, aber auch den Wahrnehmungen einer, manchmal verwirrenden, Zeitgenossenschaft.

Als Jurij Andruchowytsch  das erste Mal nach Wien fuhr, von Iwano-Frankiwsk, seiner Geburtsstadt in der Westukraine, die nach dem Schriftsteller Iwan Franko benannt wurde, da war er bewegt, denn er war der Überzeugung, dass eine tiefe Verbundenheit mit der Literatur Galiziens bestehe, in der ehemaligen Hauptstadt der Donaumonarchie, deren viertgrößte Stadt, zur Jahrhundertwende, Lemberg genannt wurde. Andruchowytsch betrachtete diese Wurzeln als bedeutend, auch für sein Schaffen als Schriftsteller.

Mit dem sensiblen Humor, der die Menschen der Ukraine  auszeichnete, jedenfalls bis in die Zeit vor diesem Krieg, erzählte Andruchowytsch, wie er dachte, dass in Wien wohl jeder Straßenbahnschaffner sofort die gemeinsame Geschichte der Kultur betonen würde.

Tatsächlich kann man neben der ukrainischen orthodoxen Kirche in Wien, in der Postgasse, einem Zentrum der Exilukrainer, die seit Jahrzehnten in Österreich leben, ein Denkmal finden, das Iwan Franko gewidmet wurde, als eine Erinnerung an die literarische Tradition, die die Länder verbindet.

Doch wurde Andruchowytsch enttäuscht. Tatsächlich waren in Österreich nur wenige Experten an der Kultur der Ukraine interessiert, zwar verfasste Jerzy Got am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Wien seine Habilitationsschrift, die in den neunziger Jahren erschien, über das "Theater in Lemberg", doch Galizien wurde damals in der Volksbildung nicht erwähnt und in den Medien deutlich ignoriert. Diese Unkenntnis über Geschichte und Kultur der Ukraine trägt Mitschuld, als ein langjähriges Versäumnis, dass nicht rechtzeitig Entscheidungen getroffen wurden, in der europäischen Politik, die gleich im Ansatz die jetzige Krise in der Ukraine verhindert hätten.

Begeisterung für Europa

Jurij Andruchowytsch war im November 2008 bei einer Veranstaltung in Wien, im Odeon in der Taborstraße, in dem prunkvollen Saal, der im 19. Jahrhundert als Warenbörse eingerichtet wurde, mit schmuckvollen, stabilen Säulen, da war die Welt am Schwarzen Meer noch in Ordnung, das freundliche Kherson noch nicht von Russen okkupiert, Odessa noch nicht von Raketen angegriffen.

Damals wurde Literatur aus der Ukraine präsentiert. Die anschließende Podiumsdiskussion trug den Titel "Ukraine - Zentrum Europas?". Es sollte nachgedacht werden, über die Bedeutung der Ukraine für Europa.

Die ukrainische Bevölkerung blickte, wie auch Jurij Andruchowytsch in seiner Rede betonte, schon mit Begeisterung nach Europa. Wenn man mit einer Ware in der Ukraine erfolgreich sein wollte, so wurde diese mit dem Präfix Euro versehen, wie Euro-Schuhe oder Euro-Kleidung. Damals fügte Andruchowytsch noch einen kleinen Scherz hinzu, um seine Rede amüsanter zu gestalten.

Jetzt wäre es wohl angebracht, dass man anmerkt, es darf keine russische Kleidung werden, auch keine UdSSR-Stiefel, die das Land zertreten, als würden die Mongolen nochmals am Schwarzen Meer aufmarschieren, plündernd und sengend.

Land der Engel

Am Majdan, dem Platz der Unabhängigkeit, im Zentrum von Kiew, steht eine Statue, die einen Engel repräsentiert. Von dort führt nach oben, am Hotel Ukraina vorbei, der Weg zum Höhlenkloster, einer beeindruckenden Klosterstadt, die in ihren Mauern einen ganzen Bezirk umfasst, von Bedeutung als spirituelles Zentrum, seit Jahrhunderten.  Auf der anderen Seite des Engels liegt die Sophienkathedrale, mit der monumentalen Sophienikone, sechs Meter hoch, sie wird gerne als "betende Gottesmutter" bezeichnet, die die Apsis glänzend ziert, als ein Symbol für Erkenntnis und Weisheit.  

Sie sind in der Ukraine traditionell von Bedeutung, die Engel, sollen sie doch dem Land beigestanden haben, wenn es bedroht wurde, einst beim Mongolensturm, dann jahrzehntelang unter russischer Herrschaft. Jetzt soll der Engel nochmals wachen, über die Unabhängigkeit des Landes.  

Ukrainische Tragödie

Die Ukraine erlebte in ihrer Geschichte schon mehrfach schreckliche Bedrohung. Dazu zählte auch das Aushungern des Landes, was mit voller Absicht geschah, in den dreißiger Jahren, unter dem Machthaber Stalin, der die Ernten der blühenden Ukraine rücksichtslos abtransportieren ließ. Mehrere Millionen Ukrainer starben den Hungertod. Diese ukrainische Tragödie, mit dem Begriff Holodomor bezeichnet, Mord durch Hunger,  wurde erst nach 1991 von der europäischen Zeitgeschichte ernsthaft betrachtet. Eine literarische Darstellung gelang der ukrainischen Autorin Marina Lewycka, die in England lebt, in ihrem Roman "Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch".

Es ist diese ukrainische Tragödie, dass  ein nochmaliger Einmarsch der Russen in der Ukraine mit höchster Sensibilität betrachtet werden muss, was auch in den Reaktionen der ukrainischen Bevölkerung gespürt werden kann. Europa muss deshalb stets deutlich erklären, kein Giftgas auf Mariupol, kein Raketenangriff auf Lemberg, kein Massaker bei Kiew. Das Land der Engel darf nicht gestürmt und zerstört werden.

Für diesen Überfall müssen die russischen Machthaber mit deutlichen Sanktionen konfrontiert werden. Die autoritäre russische Führung kann der Unterstützung der eigenen Bevölkerung nicht sicher sein. Zu groß war seit Jahren schon der Widerspruch im Land, auch von der Open Russia Foundation, so dass ein Krieg dazu dienen mag, die Machtposition in Russland zu erhalten.

Hingegen gibt es eine starke Europäische Union, die die Grenzen deutlich ziehen kann. Die Europäische Union muss die Auseinandersetzung mit Russland nicht fürchten.

Bedeutende Kulturnation

Das Opernhaus von Odessa wurde von den Architekten Ferdinand Fellner und Hermann Helmer entworfen, die auch das Wiener Volkstheater und das Landestheater Salzburg zeichneten. Die Oper von Odessa zählt zu den Bauwerken, auf die die Bevölkerung der Ukraine stolz ist, denn Kunst wird dort als wertvoll geschätzt. Gerne erzählt man in Odessa den Gästen, als ein Zeichen der kulturellen Verbundenheit, dass es österreichische Architekten waren, die die Oper errichteten.

In Kiew lebte Michail Bulgakow, dessen Roman "Meister und Margarita" zu den Hauptwerken der Weltliteratur zählt, es ist das Lieblingsbuch der Ukrainer, das dort jederzeit zitiert werden kann, als Prunkstück der  Literatur des Landes.  Das Werk entstand allerdings in der Zeit des Stalinismus, die für die Ukraine eine Tragödie bedeutete. Im Roman von Bulgakow müssen Schriftsteller damit rechnen, in die Psychiatrie gebracht zu werden.

Die Ukraine ist heute ein Land mit literarischen Zirkeln, von Bedeutung für das geistige Leben in Europa. Jurij Andruchowytsch vermittelte einen Eindruck davon, in einem  Essay, er berichtete darin, was es für ihn bedeutete, in Lemberg, in der Privatbibliothek eines ukrainischen Zen-Buddhisten, rare Gedichtbände zu finden.

Beitritt kommt spät

Schon vor zwanzig Jahren hätte die Europäische Union mehr Interesse an der Kultur der Ukraine zeigen müssen. Eine rasche Integration des Kulturlandes in die EU wäre möglich gewesen. Doch zog man es in den Ländern der Europäischen Union vor, in der Öffentlichkeit und in den Medien, hauptsächlich über einen Beitritt der Türkei zu grübeln. Statt die Ukraine zu fördern, ein Land, in dem traditionelle Werte so stark beachtet werden, dass es von Bedeutung für ganz Europa sein sollte, wo ein dramatischer Werteverlust deutlich diagnostiziert werden muss.  

Jetzt erlebte Europa die Konsequenzen dieser bedenklichen Politik, schon der Konflikt um die Krim hätte damals verhindert werden können, durch den raschen Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union. Es folgte die aktuelle Eskalation, die kaum noch heilbar erscheint, mit den Arzneien der Diplomatie.

© Autor: Johannes Schütz, 2022

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Stefan S So., 26.06.2022 - 11:21

schon der Konflikt um die "Krim hätte damals verhindert werden können, durch den raschen Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union."
Vieles ist im Artikel richtig beschrieben aber die Möglichkeit eines EU Beitritt gab es zur damaligen Zeit faktisch nicht. Die ukrainische Wirtschaft war zu stark von Mafia ähnlichen Strukturen untergraben und erst die Krimkrise und vor allem der aktuelle Krieg ermöglicht es jetzt der Ukraine sich von diesen Strukturen zu befreien.

So., 26.06.2022 - 11:21 Permalink