Rettungsaktion auf dem Mittelmeer
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Gesellschaft | Einwanderung

Was ist aus Europa geworden?

Wirtschaftsparadigmata und Menschenrechte: die Flüchtlingsdebatte dieser Tage zeigt Europas wahres Gesicht.
Seit mehreren Monaten scheint die Debatte um die Zukunft Europas durch die Flüchtlingsthematik monopolisiert zu sein. Dabei offenbart kein anderes Thema so unmittelbar und unverzerrt die Grundwerte einer Zivilisation, die Geschichtsbücher des 22. Jahrhunderts werden die wohlhabendsten Länder der Welt wohl auch und vielleicht vor allem daran beurteilen, ob und wie sie die unermessliche Katastrophe der Massenmigration aus den durch systematische Ausbeutung und liberalistische Wirtschaftsrezepte zerstörten Ländern Afrikas auf sich nahmen.
Die Wertehierarchie der Europäischen Union erkennt man daran, wie eingehend und akribisch die Mechanismen der Währungsunion geregelt sind, während im Umgang mit Migration und Einwanderung jedes Land auf sich allein gestellt ist und selbst eklatante Menschenrechtsverletzungen ohne Konsequenzen bleiben. Seit der Unterzeichnung des Vertrages von Maastricht am 7. Februar 1992 und der Einführung der Währungsunion und anschließend der Einheitswährung am 1. Jänner 2002 wurden den Mitgliedsländern klar definierte Konvergenzkriterien vorgeschrieben, durch die die Stabilität der neuen Währung gesichert werden sollte. Es wurden die Rollen der Europäischen Zentralbank und der nationalen Zentralbanken der einzelnen Länder definiert, Höchstquoten für Staatsdefizit und Staatsverschuldung festgelegt sowie (ab 1. Januar 1993) der gemeinsame Europäische Binnenmarkt gegründet. Bezeichnend für die liberalistische Grundphilosophie des Vertrages sind dabei der Mangel einer progressiven Vereinheitlichung der Steuersätze (was einen Steuersenkungswettlauf zugunsten von Unternehmen und Spitzeneinkommen ausgelöst hat) und des Arbeitsrechtes (progressiv war in den letzten zwei Jahrzehnten nur der Abbau von Arbeitnehmerrechten im Namen der Flexibilität) sowie das allgemeine Verbot von Staatshilfen (mit Ausnahme der Rettung von bankrotten Privatbanken, dort sind Interventionen durch Steuergelder in Milliardenbeträgen durchaus erwünscht).
 
Der in der Flüchtlingsdebatte dominierende Zynismus ist gerade in diesen Tagen kaum noch zu überbieten.
Wie sieht es nun mit der Einhaltung von Menschenrechten von MigrantInnen aus? Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 bezeichnet eine Person als Flüchtling, die „[…] aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will […]“. Dass man das eigene Land verlässt, weil Großkonzerne, Weltbank und Internationaler Währungsfonds die autochthone Landwirtschaft und damit die Lebensgrundlage von hunderte Millionen Menschen zugunsten monokultureller Produktion billiger Rohstoff- und Exportprodukte verheert haben, gilt nach dieser Definition keineswegs als Kriterium zur Asylberechtigung. Und dies obwohl Artikel 23 der UN-Menschenrechtscharta von 1948 es nicht klarer formulieren könnte: „Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen gewährleistet sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.“ Dass allen Menschenrechten genau dieselbe Wichtigkeit zusteht, wird übrigens in Artikel 2 unmissverständlich klargestellt: „Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.“
 
 
Wer kann leugnen, dass heute in Europa Waren wesentlich mehr Rechte innehaben als Menschen?
Dennoch werden Menschenrechte von MigrantInnen in Europa tagtäglich mit Füßen getreten, der in der Flüchtlingsdebatte dominierende Zynismus (dazu der Spiegel-Artikel von Hans-Jürgen Schlamp „Irrfahrt auf dem Mittelmeer“) ist gerade in diesen Tagen kaum noch zu überbieten. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron möchte kontrollierte Zentren innerhalb der EU für aus dem Mittelmeer gerettete Asylsuchende errichten, um diese dann auf jene Länder zu verteilen, die sich zur Bearbeitung der Asylanträge freiwillig bereit erklären. Freiwillig. Die Regierungschefs der sogenannten Visegrad-Staaten Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen haben Tränen gelacht. Nach dem Eklat und anschließenden Abkommen zwischen dem christsozialen deutschen Innenminister Horst Seehofer und der christdemokratischen deutschen Kanzlerin Angela Merkel sollen AsylbewerberInnen an der deutsch-österreichischen Grenze, für deren Asylverfahren andere EU-Länder als primäre Ankunftsländer zuständig sind, zurückgeschickt werden. Vorerst nach Österreich, wo die erzkatholische Regierung nicht nur diese Lösung ablehnt, sondern mit der Sperrung der Grenze zu Italien droht (schade für den Doppelpass). Mit Österreichs Vorsitz im EU-Rat hat Sebastian Kurz zudem vorgeschlagen, die von Frontex-Schiffen aus Seenot geretteten MigrantInnen unmittelbar in sichere Drittstaaten zu bringen. Nach der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels denkt er dabei wohl an Gaza.
 
Ob das Gespenst das einst in Europa umging nicht bald wieder sein Antlitz zeigt? 
Und dann hätten wir noch Italien. Der Innenminister Matteo Salvini hat kürzlich die Hafenblockade für NGO-Schiffe auf sämtliche EU-Marineschiffe erweitert und wenige Tage später nach Einsichtnahme der Gesetzesbestimmungen (er kann lesen) wieder aufheben müssen. Der Versuch das Verbot gar auch für Boote der eigenen Küstenwache zu erlassen (Gesundheitsministerin Giulia Grillo hat unmittelbar die psychiatrische Notaufnahme des Policlinico Umberto I in Rom verständigt) stammt angeblich aus einer genialen visionären Intuition Eugène Ionescos.
Wer kann leugnen, dass heute in Europa Waren wesentlich mehr Rechte innehaben als Menschen? Erstere können frei zirkulieren, werden in millionenteuren Werbekampagnen glorifiziert und bestimmen Status und soziale Anerkennung deren BesitzerInnen. Letztere, wenn nicht im Genuss der Europäischen Staatsbürgerschaft oder des Privilegs aus einem wohlhabenden Land einzureisen, betrachtet man als wertlose, unerwünschte, zu entsorgende Gegenstände. Im ersten Band des Kapitals bezeichnete Karl Marx die Werteumkehrung zwischen Ware und Mensch als Warenfetischismus. Ob das Gespenst das einst in Europa umging nicht bald wieder sein Antlitz zeigt?
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Karl Trojer Do., 26.07.2018 - 07:53

Dem Gianluca Battistel danke ich für seine treffenden Darlegungen. Leider ist der derzeitige Trend "Ware+Kapital vor Mensch" weltweit ein Hammer (siehe auch China oder indien). Leider wird der Großteil der Wählerschaft weltweit von Angstmache und damit Fremdenfeindlichkeit dominiert. Hier geht es nicht um links oder rechts, es geht darum, welchen Menschen, in Demokratien, Macht gegeben wird. Denjenigen Parteien, die "christlich" in ihrem Namen führen und sich gleichzeitig fremdenfeindlich verhalten, sollten die christlichen Kirchen medial das Recht auf "christlich" aberkennen. Einen Ausweg aus dieser Entwicklung sehe ich im sich Konzentrieren aufs Wesentliche. Was ist wesentlich für den einzelnen Menschen und seine Gemeinschaften ? Schein oder Sein ? Es geht um wenige, wesentliche Werte wie Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Subsidiarität. Wenn jemand einer Gemeinschaft angehören will und z.B. Solidarität für diese Gemeinschaft als wesentlicher Wert anerkannt wird, dann ist Solidarität für alle verpflichtend und nicht der Freiwilligkeit preisgegeben; freiwillig ist der Verbleib in dieser Gemeinschaft. Für Europa, das immer noch das weltweit bedeutenste Friedensprojekt ist und aufgewertet werden muss, wird eine Weiterentwicklung in 2 Geschwindigkeiten immer dringlicher. Europa muss zu einer Staaten-Föderation finden, die in der Umsetzung von Macht das Prinzip der Subsidiarität (diese ist etwas anderes als eine "Regionalisierung") lebt, und jenen Staaten, die derzeit noch nationalstaatlicher bleiben wollen, die Möglichkeit zu späteren Beitritten anbietet, Diese Föderation muss in erster Linie eine Wertegemeinschaft sein.

Do., 26.07.2018 - 07:53 Permalink
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Karl Trojer Do., 26.07.2018 - 10:53

Solidarisch sein heißt auch : Verpflichtungen, die man nicht nur im einzelnen sondern auch in Gemeinschaft eingegangen ist, einzuhalten. Herr Oliver H. sind Sie "selbst aktiv" ? Vielleicht könnten Sie durch gute Tips andere zum Handeln ermuntern...

Do., 26.07.2018 - 10:53 Permalink
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Benno Kusstatscher Fr., 27.07.2018 - 10:54

Oliver, ich will Dir nicht eine gewisse Intelligenz absprechen. Somit halte ich es für vorsätzlich und bewusst durchdacht: Die stete Wiederholung des unrichtigen Vorwurfs, dass ich Dich persönlich derart bezeichnet hätte, macht den Sachverhalt nicht wahrer und auch nicht sachlicher. Du surfst auf einer 6 Monate alten, verflachende Welle und versuchst sie zu einem Brecher aufzutürmen, um Dich in eine Opferrolle zu sonnen. Hätte ich Dein Mimimi, würde ich es wohl als Stalking bezeichnen, würde in elendslangen Kommentaren argumentative Ratio und Ausgeglichenheit vortäuschen um langsam aber sicher Feindbilder aufzubauen, mit deren Hilfe man das Gravitationszentrum seines Wertekatalogs leichter verschieben kann.

Es langweilt mich, dass Du aus einem Like, das ich diesem Beitrag gab, "Heuchelei, Doppelmoral" oder sonst was ableiten willst. Du, der von anderen immere Belege "sachlich" einforderst, wirst mir jetzt wohl die nächsten 6 Monate lang vorwerfen, dass ich Dich persönlich als einen "Unsachlichen" bezeichnet hätte.

Die politische Debatte vergiftet sich nicht durch standhafte Positionen, sondern durch empathielose Schlaumeierei, die als selbstzweifellose, gefressene Überheblichkeit in verlogen vorgetäuschter Rationalität getränkt wird.

Fr., 27.07.2018 - 10:54 Permalink
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Karl Trojer Mi., 01.08.2018 - 11:46

Oliver, meine Sichtweise zu Ursachen und Problemlösungen dazu : Man kann auch vor Mangel an Wasser, an Nahrung, an Überlebenschancen von einem Ort zu einem anderen fliehen und wird dadurch nicht zum Schmarotzer, der besser lebenden Steuerzahlern auf der Pelle liegt. Der anstehende Klimawandel wird genau solche Flüchtlinge in großen Scharen zu uns bringen, wir bereiten uns darauf kaum vor und werden nicht mit Kanonen auf sie schießen können. Über Jahrhunderte hat nicht zuletzt Europa Afrika und andere "unterentwickelte" Lander schamlos ausgebeutet und diese Ausbeute geht weiter, Man bietet Milchpulver zu Billigpreisen an und zerstört so die lokale Landwirtschaft, man kauft riesige Landflächen auf und brennt Urwälder ab , um Monokulturen zu verwirklichen und vertreibt de facto die dort lebende Landbevölkerung.... und schließlich treibt eine weltweit enorme, "freie" Kapitalspekulation ganze Volkswirtschaften über Kursverfall in den Ruin. Solidarität kann sich nicht auf Freiwilligkeit beschränken, wenn die Ausbeutung global geschieht ! Meines Erachtens ist Leben-retten erste Menschenpflicht. Diese ist kurzfristiger Art. Mittel-u.und langfristig geht es darum diesen Menschen berufliche Aus-u.Weiterbildung zu vermitteln, damit sie bessere Chancen zur Heimkehr erhalten. Es gilt in den Herkunftsländern zur Friedensfindung beizutragen, die dortigen Lebensbedingungen umfassend und engagiert verbessern zu helfen und unsererseits den absurden Konsum und die Resourcenvergeudung drastisch zu reduzieren.

Mi., 01.08.2018 - 11:46 Permalink
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Michael Bockhorni Di., 14.08.2018 - 08:56

ich gebe Dir recht, dass es wichtig ist Flucht und Migration unterschiedlich (gesetzlich) zu behandeln. Die meisten europäischen Ländern sind aber bei den Migrationsgesetzen säumig. Sicher wollen viele Flüchtlinge wieder zurück in die Heimat, wenn der Krieg vorbei ist. Denk aber mal an die Juden, die geblieben sind, weil die Diskriminierung / Hass auch nach Ende des Kriegs da war bzw.. die Täter nicht gestraft wurden, denk aktuelle an die Gesetze in Syrien die das Eigentum der Geflüchteten enteignet usw. Die Kosten der Unterbringung hängen stark davon ab, ob (stationär) "versorgt" wird, oder (ambulant) auf die vorhandenen Fähigkeiten aufbauend "unterstützt" wird. Ich habe selbst 9 Monate in einer Flüchtlingsunterkuft gearbeitet und nicht verstanden warum das Personal Essen, Hygieneartikel, Wäsche, Fahrräder etc. ausgeben muss und keine Zeit hat sich wirklich um die Probleme der Flüchtlinge zu kümmern. Und bei dritten Punkt ist die Frage, ab wann wird jemand als "kriminell" etikettiert: bei einem Verwaltungsvergehen (z.B. unerlaubtes Wegbleiben aus der Unterkunft), kleinere strafrechtliche Delikte (z.B. verbale Drohung) ... ab einem Vorfall, ab der Anzeige, ab einer rechtsgültigen Verurteilung? beim ersten Mal, soll jemand eine zweite Chance bekommen usw.

Di., 14.08.2018 - 08:56 Permalink