Gesellschaft | Interview

„Gewalt gegen Frauen kein Notfall“

Psychologin Francesca Schir ordnet die Zeuginnenaussagen im Fall Benno Neumair ein. Geschlechtsspezifische Gewalt sei ein allgegenwärtiges Phänomen.
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Foto: Salman Hossain Saif on Unsplash

Francesca Schir ist Mitglied im Rat der Psychologenkammer und Mitglied im Komitee für „Chancengleichheit“ des Nationalen Psychologenrats. Die ehemalige Polizistin arbeitet im Moment bei der Kinder- und Jugendanwältin.

Salto.bz: Der Prozess zum Elternmord gegen Benno Neumair zeigt, dass der mutmaßliche Täter unangemessenen Druck auf ihm nahestehende Frauen ausgeübt hat. Zeuginnen sprachen bei der Anhörung von Manipulation und dominantem Verhalten ihnen gegenüber, was eine beträchtliche psychische Belastung zur Folge hatte. Was zeigt dieser Fall in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter?

Francesca Schir: Zunächst möchte ich sagen, dass der Fall Neumair nicht das richtige Beispiel ist, um die Frage der Gleichstellung der Geschlechter oder der geschlechtsspezifischen Gewalt anzusprechen und weiterzuentwickeln: Es handelt sich in erster Linie um ein noch laufendes Gerichtsverfahren, bei dem die Frage der Manipulation und der Gewalt wahrscheinlich unterschiedliche und komplexe Beweggründe hat. Im Fall Neumair handelt es sich um eine Person mit hypothetischen psychischen Störungen, die noch definiert und untersucht werden. Wenn wir über geschlechtsspezifische Gewalt sprechen und sie mit einem so auffälligen Fall in Verbindung bringen, laufen wir Gefahr, das Thema sehr weit von der so genannten Normalität zu betrachten. Geschlechtsspezifische Gewalt ist hingegen ein weit verbreitetes und allgegenwärtiges Phänomen. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass der Prozentsatz der Frauen, die Opfer von körperlicher und/oder sexueller Gewalt durch Sexualpartner und Nicht-Partner sind, bei 35 Prozent liegt: Jede dritte Frau erleidet mindestens einmal in ihrem Leben Gewalt. Deshalb ist es notwendig, nach den Gründen für diese Gewalt zu fragen, auch um sie zu bekämpfen und zu verhindern.

 

Diese falschen Überzeugungen und die damit verbundenen Stereotypen erschweren die Bekämpfung von Gewalt.

 

Welche Gründe stecken denn hinter geschlechtsspezifischer Gewalt?

Die Fortdauer geschlechtsspezifischer Gewalt wird durch falsche Vorstellungen und Stereotypen sowohl über die Gewalt selbst als auch über die Beziehungen zwischen den Geschlechtern begünstigt, die dazu führen, dass die Übergriffe oder diejenigen, die sie begehen, gerechtfertigt werden oder dass ihre Schwere geringer wahrgenommen wird. Beispiele hierfür sind die so genannten „Vergewaltigungsmythen“, die den falschen Glauben vermitteln, dass der männliche Sexualtrieb nicht kontrolliert werden kann, weil er „in seiner Natur“ liegt. Das stimmt nicht, denn Männer können sich sehr wohl beherrschen. Ein anderer verbreiteter Mythos lautet, dass Vergewaltigungen bei Frauen, die sich „aufreizend“ kleiden, wahrscheinlicher sind, was bedeutet, dass das Opfer selbst einen Teil der Schuld an dem sexuellen Übergriff trägt. Dieser Mythos wurde unter anderem im Rahmen einer Ausstellung mit den Kleidungsstücken vergewaltigter Frauen widerlegt. Vergewaltigungsmythen rechtfertigen und mindern die Schwere der Gewalt gegen Frauen und des sexuellen Missbrauchs, so dass die soziale Stigmatisierung geschlechtsspezifischer Gewalt verringert wird. Diese falschen Überzeugungen und die damit verbundenen Stereotypen erschweren die Bekämpfung von Gewalt, gerade weil sie nicht als rechtswidrig anerkannt wird.

 

 

Bei welchen Anzeichen von Gewalt sollten sich Frauen Hilfe holen?

Es gibt verschiedene Arten der Gewaltausübung sowie Indikatoren, auch auf europäischer Ebene, um sie zu erkennen. Das ISTAT (Istituto nazionale di statistica, Anmerkung d. R.) misst die Gewalt gegen Frauen anhand sexueller, physischer, psychologischer oder wirtschaftlicher Indikatoren. Auch Stalking gehört dazu, das durch wiederholte Verfolgungshandlungen das Opfer in Angst und Schrecken versetzt und seine Gewohnheiten beeinflusst.

Natürlich kann sexuelle Gewalt auch im häuslichen/ehelichen Kontext vorkommen: Sexuelle Gewalt liegt immer dann vor, wenn Frauen gegen ihren Willen gezwungen werden, sexuelle Handlungen verschiedener Art vorzunehmen oder zu vollziehen. Auch körperliche Gewalt kann – auch im häuslichen Kontext – in relativ leichten bis sehr schweren Formen auftreten. In jedem Fall gilt auch die Androhung von körperlichem Schaden als Gewalt. Das gilt auch für Schieben, Geschubst werden, Ohrfeigen.

Und wie sieht psychische Gewalt aus?

Psychische Gewalt, die zwar subtiler, aber nicht weniger schmerzhaft und traumatisierend ist, umfasst als Indikatoren Verunglimpfung, Verhaltenskontrolle, Absonderungsstrategien und Einschüchterung. Um die Frage eindeutig zu beantworten, ist eines der ersten Alarmzeichen, nach dem es ratsam ist, Hilfe zu suchen, der Versuch des Partners, die Frau zu isolieren und ihre Beziehungen zu ihrer Herkunftsfamilie oder zu Freunden einzuschränken sowie sie an der Arbeit oder am Studium zu hindern. Daraus ergibt sich die sogenannte wirtschaftliche Gewalt, das heißt eine Reihe von Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen, die die Freiheit unter der ständigen Bedrohung einschränken, dass einem die finanziellen Ressourcen, die Möglichkeit, einen Arbeitsplatz und ein persönliches finanzielles Einkommen zu haben und es nach eigenem Willen zu verwenden, verweigert werden. Dadurch entsteht ein schädliches Abhängigkeitsverhältnis, das die Opfer dazu zwingt, diese Art von Beziehung nicht zu durchbrechen, da sie nicht über die notwendigen Mittel (Geld, Unabhängigkeit und psychische Stärke) verfügen, um dies zu tun und selbständig zu sein. Ein weiterer Indikator, der berücksichtigt werden muss, ist der typische zyklische Charakter der Gewaltphasen: Isolation, Einschüchterung, Drohungen, Erpressung, körperliche und sexuelle Aggression werden oft von falschen Versöhnungen unterbrochen, in denen das Paar, die sogenannten „Flitterwochen“ noch einmal zu erleben scheint. Dieser Prozess trägt dazu bei, die Frau zu verwirren und ihre Unsicherheit zu vergrößern.

 

Zahlreiche Studien belegen, dass Missbrauch in der Familie in seinen psychologischen Auswirkungen mit traumatisierenden Situationen wie Naturkatastrophen oder Krieg vergleichbar ist.

 

Welche Folgen hat psychische Gewalt auf Menschen?

Wir haben gesehen, dass sich psychische Gewalt in verschiedenen Formen äußern kann, zum Beispiel durch Beleidigungen, Anschuldigungen, Drohungen, Demütigungen, Abwertung, soziale Isolation, Formen der allgemeinen Kontrolle (Überwachung von Bewegungen, sozialen Kanälen, E-Mail, Telefon, Passwörtern, Kleidung usw.). Ich möchte noch ein paar Worte über eine Form der psychologischen Gewalt sagen, die als „Gaslighting“ bezeichnet wird. Es handelt sich dabei um eine Form der psychologischen Manipulation, bei der der Täter darauf abzielt, das Opfer an sich selbst, seinem Gedächtnis, seiner Wahrnehmung und seiner Analysefähigkeit zweifeln zu lassen und es sogar glauben zu lassen, dass es an einer psychischen Störung leidet. Gaslighting kann sich auch darin äußern, dass bestimmte Vorfälle (einschließlich Misshandlungen) geleugnet oder im Gegenteil Tatsachen erfunden werden, die nie stattgefunden haben.

Eine der ersten Auswirkungen von psychischer Gewalt ist daher der Verlust des Selbstwertgefühls, der die Wahrnehmung der Identität des Opfers selbst beeinträchtigt. Der typische kontinuierliche Charakter psychischer Gewalt kann dazu führen, dass sich das Opfer zunehmend unzulänglich, schuldig und unfähig fühlt.

Zahlreiche Studien belegen, dass Missbrauch in der Familie in seinen psychologischen Auswirkungen mit traumatisierenden Situationen wie Naturkatastrophen oder Krieg vergleichbar ist. Die Auswirkungen von Gewalt, einschließlich psychischer Gewalt, können verheerend sein und zu Reaktionen wie Angst, Stress und Depression führen, die auch die körperliche Gesundheit beeinträchtigen können. Eine Frau, die Opfer von Gewalt war, hat beispielsweise ein fünf- bis sechsmal höheres Risiko, an Depressionen und ein zwei- bis sechsmal höheres Risiko, an Gebärmutterhalskrebs zu erkranken, je nach Art der Gewalt. Leider ist psychische Gewalt ein Phänomen, das lange Zeit im Verborgenen bleiben kann und oft mit Paarkonflikten verwechselt wird.

 

Die Erziehung der Kinder zur Achtung der Geschlechter und der Kampf gegen häusliche Gewalt können nur dann wirksam sein, wenn wir vor allem an den kulturellen Modellen arbeiten.

 

Wie können Männer dazu beitragen, dass psychische Gewalt auf Frauen weniger wird?

Zunächst möchte ich klarstellen, dass es sich bei der Gewalt von Männern gegen Frauen nicht um einen Notfall handelt, der durch eine bestimmte Zeitdauer, eine momentane Veränderung des natürlichen Zustands der Dinge gekennzeichnet ist. Es ist ein strukturelles Phänomen, das durch einen multifaktoriellen Charakter gekennzeichnet ist, in dem soziale, kulturelle, politische und relationale Aspekte ineinandergreifen. Gewalt gegen Frauen, einschließlich häuslicher Gewalt, ist ein systemisches Phänomen, das in der sozialen und kulturellen Konstruktion der Machtungleichheit zwischen den Geschlechtern wurzelt, die in allen Breitengraden, über geografische Gebiete, sozioökonomische Bedingungen und Religionen hinweg besteht. Es handelt sich also um eine wichtige kulturelle Aufgabe, an der sich alle – Männer und Frauen – beteiligen müssen, angefangen bei der Darstellung von und der Einstellung zu geschlechtsspezifischer Gewalt. Deshalb brauchen wir einen kulturellen Wandel, der darauf abzielt, die Geschlechterstereotypen, die diese Gewalt sowohl hervorrufen als auch reproduzieren, abzubauen, wie auch im Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) betont wird.

 

 

Wie kann dieser kulturelle Wandel angestoßen werden?

Das Erkennen der Mechanismen, die der Gewalt zugrunde liegen, und vor allem die Tatsache, dass diese Mechanismen bei jedem Einzelnen – wenn auch unbewusst – kulturell verwurzelt sind, ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, darüber nachzudenken, wie Stereotype und Vorurteile unser Verhalten, die Beziehungen, die wir eingehen, und ganz allgemein die persönlichen Entscheidungen, die wir treffen, beeinflussen.

Die Erziehung der Kinder zur Achtung der Geschlechter und der Kampf gegen häusliche Gewalt können nur dann wirksam sein, wenn wir vor allem an den kulturellen Modellen arbeiten, die den Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern in der Gesellschaft zugrunde liegen, sie fördern und reproduzieren. Die Prävention muss sich auf Bildungsprogramme stützen, insbesondere für Kinder und Jugendliche, die darauf abzielen, konventionelle Beziehungsmodelle, Geschlechterstereotypen und soziokulturelle Mechanismen, die Gewalt verharmlosen und rationalisieren, zu untersuchen, zu identifizieren und zu hinterfragen. In diesem Sinne sollten die Leitlinien des italienischen Unterrichtsministerium zur Erziehung zum Respekt, zur Gleichstellung der Geschlechter und zur Verhinderung geschlechtsspezifischer Gewalt und jeglicher Form von Diskriminierung vollständig umgesetzt werden, indem Workshops, Erfahrungs-, Ausbildungs- und Bildungswege für Schulen aller Stufen, beginnend mit dem Bildungssystem für Kinder von null bis sechs Jahren, vorgesehen werden. Es ist wichtig, dass die Erziehung zur Unterschiedlichkeit fächerübergreifend ist. Zudem sollte sie eine Kontinuität zwischen den verschiedenen Bildungsstufen aufweisen. Außerdem ist hier auch die Zusammenarbeit in einem Netzwerk mit den lokalen Behörden, den territorialen Diensten, den Polizeibehörden und den Verbänden wesentlich.