Gesellschaft | Reportage

Endstation Glück

Woche zwei in Georgien. Über die Herzlichkeit eines Landes und seiner Straßenhunde.
Freundlich lächelnde Art der Georgier
Foto: Julia Tappeiner

Die Menschen in Georgien geben einem das Gefühl, nie alleine zu sein. Egal, in welcher Stadt oder Region, egal, ob man erst seit zwei Stunden angekommen ist und man es vielleicht noch gar nicht weiß – an irgend einer Ecke wartet immer ein Freund. Es begann bei meiner Hotelsuche am ersten Tag in Tbilisi. Ich sprach zwei ältere Herren an, die am Straßenrand standen und sich unterhielten. Ich fragte sie nach dem Weg, doch sie kannten die Adresse nicht. In jedem anderen Land hätten die Leute wohl den Kopf geschüttelt: „Tut mir leid, kenne ich nicht.“ In Georgien aber wird ein Gast nicht so einfach abgeschüttelt. Sie riefen Nachbarn an, die sofort auf die Straße liefen. Konsultierten gemeinsam Google Maps, riefen Bekannte an und erkundigten sich so lange, bis sie meine Adresse nach einer viertel Stunde fanden, und brachten mich direkt vor die Tore des Hostels. Dort wurde ich genauso warm empfangen. Ich endete um 12 Uhr Mittags mit den Besitzern auf der Couch, ihren hausgemachten Schnaps trinkend vor einem flimmernden Schwarz-Weiß Fernseher aus den 70er Jahren, in dem georgische traditionelle Tanzschows liefen. Wenige Tage später lernte ich Zura kennen, ein Touristenführer, der mir und der Reisegruppe die Stadt zeigte. Wir unterhielten uns gut und er nahm sich am nächsten Tag die Zeit, mit mir gemeinsam zu frühstücken. Einige Abende später lernte ich Irakli und Mancho kennen, zwei junge Filmstudenten, die auf der Straße fotografierten. Sie luden mich prompt zum Essen ein. Die Menschen nehmen sich hier Zeit füreinander. Zeit für Gäste und Besucher. Bei uns würde man sich höchstens die Zeit für einen Kaffee nehmen, wenn überhaupt Zeit für Fremde bleibt. Dann muss jeder zurück in die Alltagshektik.
 

Die Herzlichkeit der Leute widerspiegelt sich in ihrem Umgang mit Straßenhunden. Dreckige Köter eigentlich, doch werden sie nicht gestoßen oder einfach ignoriert. Die Menschen nehmen sich die Zeit für eine Liebkosung, oder ein Stück Brot. Deshalb sind die Hunde in Georgien so liebesbedürftig, wedeln sofort mit dem Schwanz, wenn man auf sie zugeht, anstatt verschreckt weg zu laufen. Sie brauchen viel Aufmerksamkeit und knurren genüsslich, wenn man sie hinter den Ohren krault. Mancho, die Filmstudentin, war sehr erfreut darüber, dass mir dieser zärtliche Umgang auffiel: „Die Hunde hier sind sehr warmherzig“, sagte sie. „Das liegt an den Menschen. Georgier sind sehr gastfreundlich und haben ein warmes Herz. Daher sind ihre Tiere genauso. Sie nehmen den Charakter der Bewohner an.“

Das ganze Ausmaß der Gastfreundlichkeit wurde mir aber erst in der zweiten Woche bewusst, als ich ein paar Tage in die Natur fuhr, nach Bordschomi, einem Kurort im Westen Georgiens. Die Stadt ist eine der grünsten, die ich je gesehen habe. Sie beherbergt das größte Naturschutzgebiet des Landes. In jenem Naturpark hatte ich vor, zwei Tage zu wandern und in der Wildnis zu zelten. Ich hatte nur leider kein Zelt dabei und steuerte daher als erstes ein Tourismusbüro an. Dort sollte ich Otto kennen lernen. Das erste, was ich von ihm sah, war ein Schild an der Tür des Büros wo darauf stand: Kurze Pause. Bitte diese Nummer anrufen. Bevor ich die Zahlen in mein Handy tippen konnte, stürmte ein großer Mann mit schicker schwarzer Haarpracht aus einem Café auf der anderen Straßenseite zu mir herüber. Es war Otto, der im Tourismusbüro arbeitete. Später stellte ich fest, dass das Schild eigentlich immer an der Tür hängt. Die Menschen in Georgien haben gelernt, glücklich zu sein: Sie gehen dem nach, was sie lieben. Das, was wir als faulbezeichnen, ist hier Lebensphilosophie. Eine georgische Legende verdeutlicht die Einstellung der Georgier sehr gut: Als Gott die Erde an die Menschen verteilte, herrschte großer Andrang. Jeder wollte das beste Stück Land abbekommen. So bekamen die Italiener Italien, Amerikaner Amerika, Chinesen China usw. Als Gott die Erde aufgeteilt hatte, blieb nur mehr ein letztes Fleckchen übrig, das Schönste auf der ganzen Welt. Dieses wollte Gott für sich selbst behalten. Da bemerkte er plötzlich einen alten Mann unter einem Baum liegen und schlafen. Er weckte ihn und fragte, warum er sich nicht auch um ein Stück Land gekümmert hätte. Der Mann entgegnete verdutzt 'Ach, ich fand es gerade so schön hier unter dem Baum, da wollte ich mich kurz hinlegen und den Ort geniessen.' Gott war so entzückt von dieser Lebenseinstellung, dass er dem Mann sein letztes und bestes Stück Land schenkte. Und nein, der Mann war kein Südtiroler, er war Georgier. So entstand der Legende nach das Land Georgien.

Dieses Lebensmotto ist wohl auch der Grund für die enorme Herzlichkeit und Gastfreundschaft. Nur wer selbst glücklich ist, mit wenig zufrieden, kann Glück weitergeben. Unerfüllt und unglücklich fällt es schwer, nett zu anderen zu sein. Wer immer mehr will, kann nur schwer glücklich werden. Georgier sind keine reichen Leute, aber sie sind mit dem zufrieden, was sie haben. Auch Otto ist mit wenig zufrieden und gibt das Glück, das er aus sich schöpft, an andere weiter. Als ich ihm von meinem Plan erzählte, im Naturpark zu zelten, bot er mir, einer Fremden, sein eigenes Zelt an. „Du kannst auch meinen Schlafsack haben, das ist gar kein Problem.“ Er schaute auf die Uhr. „Weißt du was? Du bist gerade angekommen, und kennst Bordschomi noch nicht. Lass mich dir die Stadt zeigen.“ Und so schloß er einfach die Tür ab, das Schild mit Kurze Pause hing schon parat, und brachte mich zu seinem Auto, mit dem wir eine Rundfahrt durch Bordschomi starteten. Während ich im Auto eines wildfremden Mannes saß, dachte ich mir kurz: „Julia, was machst du eigentlich? Gastfreundschaft schön und gut, aber ist das nicht alles ein bisschen suspekt?“ Es ist schon traurig, dass wir Hilfe von Anderen immer misstrauisch betrachten und irgendeinen Hintergedanken dahinter vermuten. Haben wir Westeuropäer es verlernt, Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft zu akzeptieren, weil wir dieser Werte selbst nicht mehr mächtig sind? Am Ende stellten sich meine Zweifel als unbegründet heraus, denn Otto war sehr zuvorkommend und zeigte mir, ohne irgend ein Geld dafür zu verlangen, die schönsten Ecken von Bordschomi.

Otto liebt seine Stadt. Und seine Stadt schien ihn zu lieben. Otto grüßte jeden, winkte jedem aus dem Autofenster aus zu, die Leute riefen ihn, wechselten ein paar freundliche Worte. Selbst auf einen Hund, der auf die Straße lief und den er fast überfuhr, reagierte er gelassen. Lachend sagte er „Wir scherzen nur! Das ist mein Freund. Das macht er dauernd, um mich zu ärgern.“ Ab und zu mussten wir zu seinem Büro zurück, wo genervte Touristengesichter sich erhellten, da ihr fünfter Anruf endlich seine Aufmerksamkeit erregt hatte und sie seine Dienste in Anspruch nehmen konnten. Prioritäten liegen hier bei dem, was man tun möchte, nicht, was man tun muss. Bordschomi ist ein Hügelmeer aus dem zwischendurch niedrige Häuser wie Pilze sprießen. Die Luft ist im Gegensatz zu Tbilisi so rein. Einatmen. Ausatmen.Welch wunderbares Gefühl. Als ich davon schwärmte, war Otto sichtlich erfreut: „Du wirst sehen, du bist hier im Paradies gelandet.“ Die kommenden Tage sagte er oft Ähnliches: „You will see, it will be amazing“. Alles bezeichnete er als amazing.Und es war auch unglaublich schön. 

Nachdem ich eine Nacht mit Ottos Zelt in der Wildnis des Nationalparks verbracht hatte, holte er mich am Ausgang des Parks wieder ab und brachte mich in die Stadt zurück. Am letzten Tag zeigte mir Otto sein Herzstück. Es ist ein großes grünes Gelände, umgeben von Wiesen und Wald. Dazwischen liegen alte Kriegsruinen, die einst herrliche Paläste waren. Ihr Glanz ist hinter den Fassaden zu erahnen. Aus dem verlassenen Gelände will Otto ein Elektrofestival machen. „Es ist alles schon in meinem Kopf. Wie eine Stadt“. Vor wenigen Jahren war es von Flüchtlingen aus Abchasien und Südossetien bewohnt. Einer davon war wohl Fan der portugiesischen Nationalmannschaft, wie eine Schrift in schwarzem Graffiti mit C. Ronaldoandeutete. An einem alten griechischen Säulengebilde soll das DJ Pult hin. Gleich daneben befindet sich ein kleines Pantheon, wo eine Bar entstehen soll. Otto will etwas aus seiner Stadt Bordschomi machen. Auch wenn die Regierung das meiste Geld in die Hauptstadt investiert. Sein Determinismus faszinierte mich. Es ist der Beweis, dass Gelassenheit nicht unbedingt Faulheit bedeutet und auch Menschen, für die es mehr als nur Arbeit gibt, engagiert sein können.

Nach drei Tagen verließ ich die grüne Insel der Frische. Und selbst der Abschied aus Borschomi wurde von einer neuen Bekanntschaft begleitet. In der Marshrutka, die mich zurück nach Tbilisi brachte, saß ein Junge, höchstens 16 Jahre alt, zerrissene Jeans. Sein neugieriger Blick verfolgte mich. Auf der Fahrt wehte der Wind durchs offene Fenster, die Hitze brannte in den Bus. Wir kämpften beide mit unseren Mähnen, die im Wind über unsere Gesichter tanzten. Ich mit meinen kurzen Haarsträhnen, die mir in die Augen fielen, der Junge mit seiner langen Lockenmähne. Wir beobachteten uns gegenseitig in unserem Haarkampf und lachten uns dabei verständnisvoll an, wie zwei Leidensgenossen in einer Autoschlange. Wenn ich manchmal zu ihm hinüber lugte, sah ich einen nach unten genickten Kopf mit geschlossenem, von Locken bedecktem Gesicht und manchmal zwei große braune Kinderaugen die mich neugierig beobachteten und freundlich anlächelten. Er erfreute sich an meinem staunenden Blick über die Landschaft Georgiens: Ein sattes Hügelmeer, ein bisschen wie die malerische Landschaft der Toskana, an jeder fünften Erhöhung eine einsame zerfallene Bilderbuch Ruine, und im Hintergrund die schneebedeckten Spitzen des Kaukasus Gebirges. Irgendwann setzte sich der Junge neben mich und bot mir lachend sein Haargummi an. Meine Haare zu bändigen, war am Ende doch zwecklos, sie sind zu kurz um sie zusammenzubinden. Madlobasagte ich -Danke auf georgisch- bevor ich ihm das Haarband zurückgab. Bevor er ausstieg, drehte er sich nochmal zu mir um und schenkte mir dieses warme georgische Lächeln, das mich auf meiner gesamten Reise begleiten sollte.