Books | Salto Afternoon

Immer unterwegs

Morgen hätte Karl-Markus Gauß sein neues Buch „Die unaufhörliche Wanderung" in Innsbruck präsentiert. Die Veranstaltung wurde leider abgesagt. Hier eine Buchbesprechung.
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Foto: Paul Zsolnay Verlag

Als Karl-Markus Gauß 60 wurde, widmete ihm sein Verlag Zsolnay eine Festschrift. Mit Vergnügen steuerten zahlreiche Autorenkollegen ihren Beitrag dazu. Nur einen hatte man vergessen, ausgerechnet einen der ältesten Weggefährten. Ludwig Hartinger hatte Gauß seinerzeit zum Eingangskapitel jenes Werks angeregt, mit dem er seinen Durchbruch schaffte: Die sterbenden Europäer. Gauß reiste an die kroatisch-slowenische Grenze, quartierte sich in einem merkwürdigen, längst nicht mehr existierenden Hotel ein und schrieb eine wunderbare Reportage über die letzten Deutschen in der Gottschee (slowenisch: Kočevje). 
Einen Tag vor Drucklegung erreichte Hartinger ein Anruf aus Wien: Bei Zsolnay hatte man mit Erschrecken das Versäumnis bemerkt und versuchte nun, es halbwegs wiedergutzumachen. Hartinger, alles andere als beleidigt, setzte sich hin und schrieb ein Gedicht. Es ist ein sehr kurzes Poem, doch beschreibt es den zu Würdigenden aufs Trefflichste: "Dem Wandelnden wächst Blatt für Blatt, Unruhe um Unruhe." 
Mehr als ein halbes Jahrzehnt ist bei Gauß seitdem hinzugekommen. Seiner Unruhe hat das fortschreitende Alter keinen Abbruch getan, und immer noch wächst ihm Blatt für Blatt in Form neuer Bücher. Das jüngste ist soeben erschienen, wieder bei Zsolnay. Es trägt den Titel Die unaufhörliche Wanderung. 

Im Internet kommen Leute zusammen, die etwas suchen, was es außerhalb ihrer Kommunikation nicht mehr gibt. Indem sie es suchen, erschaffen sie es neu.
(Karl-Markus Gauß)

Wieder ist Gauß unterwegs, entdeckt, während er nach den Wurzeln des multiethnischen Odessa gräbt, wie viel Neues an Vielfalt diese wahrhaft internationale Stadt zu bieten hat, tummelt sich auf einem Truppenübungsplatz im Waldviertel, wo ganze Dörfer, nachdem ihnen die nationalsozialistische Okkupation ebensowenig anhaben konnte wie ein Jahrzehnt sowjetischer Besatzung, letzten Endes der schwer ergründlichen Logik von Bürokratenhirnen der zweiten österreichischen Republik weichen mussten, trifft im albanischen Berat einen muslimischen Sommelier als lebenden Beweis, dass die Absenz von Logik nicht immer identisch ist mit dem Fehlen von Sinn und begegnet im zum Weltkulturerbe erhobenen mährischen Třebič leider keinem Juden mehr, weil sich der von den Deutschen ausgelöste historische Totalschaden selbst durch gründlichste Erinnerung und Aufarbeitung nicht mehr reparieren lässt.  
Daneben fließen immer wieder Betrachtungen aus dem Gauß`schen Alltag ein. Wenn der Rastlose mal nicht auf großer Wanderung ist, sondern nur für ein paar Stunden sein Salzburger Viertel verlässt, richtet sich sein scharfer Blick auf Dinge, die den meisten Bewohnern und Besuchern der Mozartstadt verborgen bleiben. Etwa die unscheinbare Bäcker-Bacher-Kreuzung, schon außerhalb der Altstadt, aber gleich hinterm Neutor: Für Gauß repräsentiert sie schlicht und einfach „die soziale und kulturelle Vielgestalt des urbanen Lebens.“


Unterwegs ist Gauß nicht zuletzt in seiner eigenen Wohnung. Darüber hat der ebenso kosmopolitische wie bodenständige Autor mal ein eigenes Buch geschrieben, Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer. Manchmal muss Gauß gar nicht erst seinen Schreibtisch verlassen. Die jüngste Reise an den Ort seines ersten großen  Erfolgs absolvierte er komplett im Netz. Das ist auch gar nicht anders möglich, denn die Welt der Gottscheer existiert nur mehr virtuell. Dafür ist sie mit erstaunlich viel Leben gefüllt. Da sie ganz ohne Deutschtümelei auskommt, finden sich im ‚Plauderzimmer‘ genannten Chatroom auch Slowenen, Kroaten und Italiener ein, Angehörige der Völker, deren Begehrlichkeit der Gottschee galt: „Was früher heftig umkämpft und endlich zerstört wurde“, frohlockt Gauß, wird heute „gemeinsam gefeiert. Im Internet kommen Leute zusammen, die etwas suchen, was es außerhalb ihrer Kommunikation nicht mehr gibt. Indem sie es suchen, erschaffen sie es neu.“
Daheim im Zimmer oder draußen in der Welt – möge Gauß auch weiterhin die Unruhe antreiben, damit er seine Energie in Geschichten umsetzen kann, den Lesern zur Freude.