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Der Kopf unter der Perücke

Auf 1200 Seiten arbeitet sich eine neue Warhol-Biografie zum Menschen durch. Eine Buchrezension mit winterlicher Warhol-Bebilderung aus der Slowakei.
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Foto: Salto.bz

„Art is what you can get away with.“ Andy Warhols Glaubensbekenntnis lässt sich auf zweierlei Weise übersetzen. Zum einen ist Kunst laut dieser Definition alles, was man sich erlauben kann. Warhol erlaubte sich eine ganze Menge. Vor allem erlaubte er sich, Kunstwerke – eigentlich etwas Einzigartiges und Originales – in seiner Factory genannten Artefakteschmiede zu reproduzieren und als Konsumartikel mit ihnen jede Menge Geld zu scheffeln. Am Ende war er selber das Kunstwerk. 


Spinnt man den Gedanken etwas fort, könnte Warhols Leitsatz auch so lauten: Kunst ist das, womit du ungeschoren davonkommen kannst. Im recht toleranten, dem erklärten Freiheitsideal sich wieder annähernden Amerika der Nach-McCarthy-Ära wähnte sich Warhol sakrosankt. Durchschaute er nicht den Zusammenhang zwischen Kunst und Kommerz? Erkannte er nicht die Möglichkeiten eines die Gesetze des Kapitalismus befolgenden Kunstmarkts? Schätzte er nicht den Einfluss von Kritikern und Galeristen ebenso treffend ein wie deren Naivität und wusste genau, welche Spielregeln es im Kulturbetrieb zu beachten galt und welche er auch mal brechen durfte? Nur eins war ihm nicht bewusst: was passiert, wenn eine Kugel aus einer 7,65er Beretta, aus nächster Nähe abgefeuert, in den Innereien eines menschlichen Körpers rotiert. 
Mit dem Anschlag auf Warhol, verübt am 4. Juni 1968, lässt der US-Kritiker Blake Gopnik seine Biografie über den Künstler beginnen. Die Attentäterin, aus dem Dunstkreis der Factory, eine studierte Psychologin, aber inzwischen obdachlos geworden und auch psychisch krank, hatte ihre Wahnvorstellungen in Warhol hineinprojiziert: Sie kreidete ihm persönlich das im männerdominierten US-Showbiz übliche Macho- und Ausbeuterverhalten an, übersah jedoch oder wollte übersehen, dass der eher effeminierte, schwule Warhol eben nicht in jenes Klischee passte, sondern eher zu den Leidtragenden zählte. Zwar wusste auch er sich manche Dienste ihm ergebener Bewunderer gegen geringen Lohn oder gar unentgeltlich zu sichern. Andererseits wurde der queere Warhol viel härter angegangen als straighte Konkurrenten. Im Notfall verschanzte er sich hinter seiner Kunst. 
Es ist harter Tobak, was Gopnik gleich zu Beginn seiner Biografie schildert. Einem medizinischen Bulletin nicht unähnlich, wird hier ein sehr überzeugender Eindruck vermittelt, was in Warhol alles kaputtging – zuerst physisch, dann psychisch. Nach der Nahtoderfahrung war nichts mehr wie zuvor. Zurück blieb ein Wrack; allerdings eines, das im Haifischbecken der Kultur weiter munter mitschwamm, statt sich nur passiv an der Oberfläche zu halten. 


Immerhin war Warhol besser dran als Robert Kennedy, der einen Tag später die Schüsse eines ebenfalls derangierten Attentäters nicht überlebte. Der Präsidentschaftskandidat der Demokraten stammte wie der Künstler Warhol aus einer Einwandererfamilie, der eine mit irischen, der andere mit slowakisch-russinischen Wurzeln. Beide standen für ein liberales, weltoffenes Amerika, das jeden sein Glück finden ließ, wenn er nur hart genug an sich arbeitete und ebenso fest an sich glaubte. Die Täterin und der Täter, ebenfalls mit Immigrationshintergrund, repräsentierten die dunkle Seite des amerikanischen Traums und ergingen sich, nachdem sich ihre Hoffnungen nicht erfüllt hatten, in Ressentiments.
Warhol kämpfte sich ins Leben zurück, blieb aber zutiefst verstört. „Seit ich angeschossen wurde, spielt sich für mich alles wie im Traum ab. Als wüsste ich nicht,  ob ich noch am Leben oder wirklich gestorben bin. Vorher hatte ich nie Angst gekannt. Und als einmal bereits Toter sollte ich ja auch keine Angst verspüren. Aber ich habe Angst. Ich verstehe nicht, warum.“ Um mit seiner verwundeten Psyche klarzukommen, vertiefte sich Warhol noch mehr in seine Arbeit. Er produzierte Kunst am Fließband, zu höheren Preisen als je zuvor – dank des Attentats, das ihm weiterhin mediale Aufmerksamkeit garantierte. Reich wurde er aber noch nicht. Die Summen, die Sammler mit vorher erworbenen Warhol-Artefakten beim Wiederverkauf erzielten, waren für seine frischen Werke außer Reichweite. Für die überhöhten Preise seiner Produkte wurde allein Warhol verantwortlich gemacht. Als schwuler Paradiesvogel gab er eine willkommene Zielscheibe ab. 
Warhols Umgang mit der eigenen Person, auch das arbeitet Gopnik fein heraus, durchfuhr nach dem Attentat ebenfalls eine Wandlung. Er entwickelte eine Art Körperkult, indem er bereitwillig die Wundmale der zahlreichen an ihm vorgenommenen chirurgischen Eingriffe zur Schau stellte: „Ich bin so voller Narben“, sagte er einmal, „dass ich wie ein Diorkleid aussehe.“ Künftig mied Warhol keineswegs die Öffentlichkeit, minimierte aber persönliche Kontakte. Seine Factory, früher allen zugänglich, sicherten Panzertüren. Er selber tarnte sein Äußeres, so gut es ging. Verstecken konnte er sich nicht, dazu war er zu auffällig. Doch engagierte er zahlreiche Doppelgänger, die ihn doubelten und manchmal auch seine Auftritte abwickelten. Und er steigerte seinen Hang zu Perücken zu einer wahren Manie. In Gopniks Register finden sich allein 23 Einträge zum Stichwort ‚Toupet‘.

 

Den Kopf unter der Perücke, den Menschen hinter dem Kunstwerk freizulegen: Gopnik ist das sehr gut gelungen. Auch weil sein Hintergrund ein ähnlicher wie Warhols ist: kein russinischer, aber ein russischer; einer kinderreichen Familie entsprungen, wenn auch bürgerlicher und nicht proletarischer Prägung; aufgewachsen in einer industriellen Metropole Pennsylvanias (Gopnik in Philadelphia, Warhol in Pittsburgh) und den amerikanischen Traum in New York erfolgreich zu Ende geträumt.
Gopniks Biografie ist durchaus auch eine amerikanische Geschichtslektion, ebenso unterhaltsam wie tiefschürfend. Natürlich können nicht ständig neue Fakten an die Oberfläche gezerrt werden, dazu ist der Boden um Warhol in der Vergangenheit bereits zu gut beackert worden. Amüsant ist das ganze allemal, und langweilig wird’s auf keiner der fast 1200 Seiten.