Kultur | Am Bau

Die Baustelle

Das Herumwuseln der Arbeiter, das Aufheulen von Baumaschinen und die Undefiniertheit von Dingen.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
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Foto: Florian Scartezzini

Text: Thomas | Hucky | Huck

In Zusammenarbeit mit der Architekturstiftung Südtirol / in collaborazione con la Fondazione Architettura Alto Adige.

 

Wer kennt sie nicht, die „anziani cantieri“, ältere Leute, die an einem Bauzaun stehen und das Geschehen beobachten. Wortlos sind sie gefesselt vom Anblick der Baustelle, nur ab und zu fällt ein kleiner Kommentar. Meist denkt man sich, sie sind alt und haben nichts anderes zu tun, dabei betrifft dieses Phänomen durchaus uns alle. Erst neulich stand ich gut zwanzig Minuten in einer spontanen Gruppe aus unterschiedlichsten Leuten, welche den Abriss eines Hauses beobachtete. Wortlos standen auch wir da und waren vom Geschehen gefesselt. Weder war es ein besonderes Gebäude, noch handelte es sich um den spektakulären Höhepunkt des Abrisses. Es war lediglich die Ecksituation, welche den Abriss besonders einsehbar machte und so auch die Blicke von Uninteressierten anlockte. Sollte die Baustelle für den Neubau gleich einsehbar bleiben, dürfte diese Ecke wohl noch oft zur spontanen Gruppenbildung animieren.

Um eine Baustelle jedoch wirklich zu erleben, muss man sie betreten - sogar öfters

Der Anblick von Vergehen und Entstehen scheint unser Interesse zu wecken, die kleine Sensation im Alltag:  Was passiert da?; Gibt es was Neues und was wird es? So ist es zu erklären, dass geführte Baustellenbesichtigungen oder Tage der offenen Baustelle mittlerweile bei vielen Bauten zur Tagesordnung gehören. Je seltener die Gelegenheit, umso länger die Warteschlangen. Allzu oft wird einem allerdings nur die leere Baustelle ohne Baugeschehen präsentiert. Ein fertiger Rohbau, der kurz vor der Fertigstellung steht und so bereits sicher begehbar ist. Auf dass sich die Besucher besser vorstellen können, wie das Gebäude in Zukunft aussehen soll. Dabei geht genau das verloren, was eine Baustelle ausmacht. Das Herumwuseln der Arbeiter, das Aufheulen von Baumaschinen und die Undefiniertheit von Dingen sind es, was die Baustelle so interessant macht und Leute zum spontanen Beobachten anregt. Deshalb sind es oft die kleinen, runden Löcher im Zaun, von welchen man den besten Überblick auf eine Baustelle hat. Ein willkürlicher Blickwinkel, in einem zufälligen Moment, keiner merkt, dass man spioniert und schon zeigt sich die Baustelle von ihrer ehrlichen Seite. Und jedes Mal, wenn man wieder am Bauzaun vorbeikommt, kann man die Veränderungen im Vergleich zum letzten Mal beobachten. Denn wie ein Festsaal scheint die Baustelle stetig neu dekoriert zu werden, je nach anstehendem Anlass. Der gesamte Ort  verändert sich ständig, nicht nur das Gebäude selbst, auch das Rundherum mit seinen Hilfskonstruktionen. Ein ständiger Wandel von einfach allem. Die Schalung verschwindet und präsentiert den frischen Beton, am Boden wird ein schwarzer Teppich ausgerollt und an den Wänden werden bunte Folien befestigt.

 

 

Um eine Baustelle jedoch wirklich zu erleben, muss man sie betreten - sogar öfters. Lärm, Staub, Chaos. Überall liegen Dinge und alles strahlt einen Charme von Gefahr aus. Rohe Flächen, raue Haptik, pure Formen. Räume sind noch nicht zu erkennen, Stockwerke nur grob zu erahnen. Ein Raumerlebnis wie man es sonst nicht kennt. Eine Nutzung gibt es noch nicht. Maßstäbe scheinen verzerrt oder verformt. Ein Ort, den es erst in der Zukunft geben wird, doch scheint er schon lange zerstört. Licht und Schatten regieren. Geräusche durchbrechen die Stille. Viele Geräusche. Und Wasser, überall Wasser. Ein wichtiges Element jeder Baustelle, es tropft von der Decke, sickert aus der Wand und rinnt am Boden entlang. Für den Menschen unverzichtbar, scheint es auch diesen Ort zu beleben. Alles scheint hier möglich zu sein, und so gut wie alles kann hieraus noch entstehen. Der Fantasie kann freier Lauf gelassen werden.

Ein Ort, den es erst in der Zukunft geben wird, doch scheint er schon lange zerstört

Doch je weiter die Baustelle voranschreitet, mit jeder Wand, die hinter einer Gipsplatte verschwindet, mit jeder Installation, die verblendet, und jedem Boden, der verlegt wird, wird die zukünftige Nutzung klarer und die alternativen Fantasien verschwinden, bis sie schließlich durch die eindeutige, funktionale Definition aller Bauteile die Magie des Unfertigen verliert. Es bleibt für jede Baustelle also nur ein kurzes Zeitfenster, um sie zu erkunden und zu erleben. Und das am besten, indem man sie einfach betritt. Denn in dem Chaos und der Hektik der Baustelle weiß eigentlich niemand genau was gerade alles so passiert bzw. wer alles gerade auf der Baustelle ist. So kann man eigentlich fast jede Baustelle problemlos betreten, solange man jeden grüßt und so den Eindruck erweckt, dass man durchaus hierher gehört.