Kultur | Salto Afternoon

Passt! Perfetto!

Wie steht es um das Zusammenleben der Sprachgruppen in Südtirol? Ein Film macht sich auf die Suche nach der Südtiroler Identität. Ein Vorgespräch mit der Regisseurin.
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Foto: Langbein & Partner Media

salto.bz: Mit dem Film „Der Graben – Zwei Volksgruppen, eine Geschichte“ haben Sie vor einigen Jahren in Eisenkappel/Zelezna Kapla, im Kärntner Vellachtal, die Zerwürfnisse, das Nebeneinander und Miteinander der dort lebenden Volksgruppen erzählt. Ist der Film zu Südtirol aus dieser Idee heraus entstanden?

Birgit Sabine Sommer: Ja, das hat schon miteinander zu tun. Kurt Langbein begann als Journalist unter Claus Gatterer und ist Südtirol daher besonders verbunden. 2015 sind Zdravko Haderlap und ich bereits das erste Mal zum Location Scouting nach Südtirol gereist und haben begonnen, uns mit der historischen und politischen Situation Südtirols zu beschäftigen. Das war für mich als Deutsche besonders interessant, da hier die deutschsprachige Gruppe innerhalb der Republik Italiens die Minderheit darstellt. Und als studierte Romanistin war es interessant für mich, in den italienischen Sprachraum einzutauchen. Und dann war es ein großes Glück, mit dem Filmemacher Thomas Hanifle einen Südtiroler Partner an der Seite zu haben für das Drehbuch – unsere Blicke von außen und von innen auf das Land haben sich gut ergänzt.
Kärnten und Südtirol - es geht in beiden Regionen um die Folgen von Grenzziehungen nach dem ersten Weltkrieg und um die schwierige Situation sprachlicher und kultureller Minderheiten in einem Land, in einer Region.

Identität ist immer ein Konstrukt. Ob ich meine individuelle Identität zu benennen versuche oder die einer Nation. Irgendwann wird daraus fast ein Mythos. Und dann wird es gefährlich, denn die weiter tradierten Erzählungen von Identität werden ja irgendwann als wahrhaftig oder real von vielen Menschen angenommen.

Was unterscheidet die beiden Minderheitengebiete? Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten?

Die wirtschaftliche Situation könnte unterschiedlicher nicht sein. Südtirol als autonome Region Italiens bekommt sehr viel Förderung auch durch die EU und ist wirtschaftlich sehr stark. Der Tourismus boomt, Obst- und Weinbauern wirtschaften erfolgreich, neue Firmen lassen sich nieder, Zweisprachigkeit ist ein enormer Vorteil für die jungen Leute, es gibt so etwas wie Vollbeschäftigung. Kärnten hat keinen Autonomiestatus, ist wirtschaftlich eher angeschlagen, obwohl es derzeit aufholt. Zweisprachigkeit ist vielleicht kein Makel mehr, aber noch immer eher Grund zum Misstrauen. Aber während in ganz Österreich 8,4 Prozent Arbeitslosenquote herrscht, liegt sie in Kärnten noch um die 11 Prozent, also deutlich höher. Der Tourismus müsste rasch weiter entwickelt werden – modern und nachhaltig.
Aber: Südtirol ist das Tor zum Süden, zu Italien – entsprechend viele Menschen nutzen es für ihre Reisen. Kärnten als Tor zum Balkan – das klingt befremdlich, hat sich so nicht etabliert.
Gemeinsamkeiten, das ist schwer zu beantworten. In Bozen und in Klagenfurt gibt es zwei umstrittene Flughäfen, die fast nicht genutzt werden können oder sollen. Und es wird viel geschimpft – hier auf Rom, da auf Wien.


Wie prägt die Südtirolerinnen und Südtiroler ihre Geschichte? Welche neuen Eindrücke haben Sie gewinnen können, was war ihnen bereits bekannt?

Über die vielen Gespräche und Interviews habe ich viele verschiedene Facetten aufscheinen sehen, von denen ich zuvor nichts ahnte. Einmal habe ich lange den Kopf geschüttelt, mit welcher Ahnungslosigkeit ich 1982 durchs Grödner Tal gewandert bin mit meiner ersten Studenten-Wohngemeinschaft. Ich wusste praktisch nichts von Südtirol.
Die Zeit der Option beispielsweise. Geht man, verrät man sein Volk und seine Herkunft, bleibt man, verrät man eine Idee. „Dableiber“ und Optionskoffer – noch nach Generationen in den deutschsprachigen Südtiroler Familien ein Begriff, die Entscheidung eine schier unüberwindbare Belastung. Nicht zu verwinden ist auch das Verbot der deutschen Muttersprache. Übrigens eine Gemeinsamkeit mit den slovenischsprachigen Kärntnern. Und vielleicht auch mit den russischsprachigen Ukrainern? Wo man Menschen die Zunge verbietet, geschieht Unrecht. Wer nicht reden darf, wie er es gelernt hat, wird mundtot gemacht mit allen schlimmen Folgen. Das ist die eine Seite.
Wie die Italienisierung Südtirols organisiert wurde und wie schwer es für die Italiener war, im Norden Fuß zu fassen, das ist die andere Seite. Sie kamen als Fremde, als Arbeitskräfte und Zollbeamte, als Polizisten in ein Land, das auf einmal zu Italien gehörte. Konnten kein Wort Deutsch, so wie die Alteingesessenen kaum Italienisch konnten. Wie soll man da zusammenfinden? Vor allem, wenn man von deutschsprachigen Südtirolern als Stellvertreter der verhassten italienischen Regierung wahr genommen wird?


Ist eine 100jährige Identitätssuche ein Fluch oder doch vielleicht ein Segen für die Menschen in Südtirol?

Natürlich ist es beides und vor allem ist das eine fiktive Frage. Identität ist immer ein Konstrukt. Ob ich meine individuelle Identität zu benennen versuche oder die einer Nation. Irgendwann wird daraus fast ein Mythos. Und dann wird es gefährlich, denn die weiter tradierten Erzählungen von Identität werden ja irgendwann als wahrhaftig oder real von vielen Menschen angenommen. Das erleben wir heute mit den neuen Nationalisten überall.
Die Lösung kann meiner Meinung nach nur darin bestehen, weiter zu suchen, damit das Bild bunter, schillernder und offener wird. Menschen kommen aus einem Umfeld und gehen weiter, betreten neue Umgebungen, lernen dazu, verändern und entwickeln sich. Südtirol hat im Gegensatz zu anderen Regionen Italiens und im Gegensatz zu anderen Regionen Österreichs die Möglichkeit, selbstbewusst genau diesen Weg zu gehen. Italienisch oder Ladinisch zu sein und doch auch Österreichisch oder einfach – Europäisch.


Welchen Stellenwert nimmt die Sprachminderheit der Ladiner in Ihrem Film ein?

Wir haben lange gerungen um das Thema der Ladiner und um ihre Bedeutung für unser Filmprojekt. 4% der Einwohner Südtirols gelten als Ladiner. Ein wundervoller Reichtum, sprachlich, kulturell. In diesem Film aber, der von der historischen Auseinandersetzung im ersten Weltkrieg zwischen Italien und Österreich ausgeht, den späteren Vereinbarungen zwischen Mussolini und Hitler und den Folgen dieser historischen Ereignissen nachspürt, wären die Ladiner wie ein Fremdkörper gestanden, den man immer wieder hätte erklären müssen. Darum haben wir uns auf die zwei großen Sprachgruppen beschränkt. Ein Film muss nicht vollständig sein, er muss es auch nicht allen Recht machen. Die Geschichte der Ladiner ist eine andere, sehr spannende Geschichte und muss ein anderes Mal erzählt werden.

Südtirol ist auch ein Land, welches wegen seiner Landschaft auch für prachtvolle Imagebilder  bekannt ist. Wie gefährlich kann Idylle für Identitätsbildung sein?

„Misstraue der Idylle, sie ist ein Mörderstück. Schlägst du dich auf ihre Seite, schlägt sie dich zurück“ - diese Zeilen von André Heller fallen mir dazu ein. Die Landschaft Südtirols ist für mich weniger idyllisch als vielmehr immens beeindruckend und spektakulär. Und im Übrigen tut Südtirol selbst sehr viel gegen die Idylle: Die Autobahnen und Industriegebiete, die großen Monokulturen. Das alles scheint notwendig zu sein, damit die Menschen in Südtirol ihr Auskommen haben. Ist Idylle gefährlich für Identitätsbildung? Doch nur dann, wenn man sie für sich allein beansprucht und glaubt, man sei allein befugt, in ihr zu leben? Das sind beides sehr schwierige und komplexe Begriffe..


Mit welchem Blick sehen Sie – nun nach der Fertigstellung des Filmes – auf das Land südlich des Brenners?

Ich habe wundervolle Begegnungen erlebt, für die ich sehr dankbar bin. Menschen haben uns Einblicke in ihr Leben und ihr Denken ermöglicht und damit unseren Blick geweitet und vervollständigt. Der Wohlstand der Region ermöglicht es allen Südtirolern, ein gutes Leben zu führen. Gleichzeitig ist der Wohlstand auch manchen schon zu viel. Eine Bergbäuerin hat sehr kritisch darüber gesprochen. Wer viel hat, gibt nicht gern etwas davon ab, das ist manchmal so. Davon wird aber die Zukunft abhängen: Von der Fähigkeit , nicht alles gleich machen zu wollen, den anderen zu tolerieren und zu respektieren und immer wieder auf den anderen zuzugehen. Von den jungen Leuten habe ich gelernt – sie sind lieber Südtiroler als Österreicher oder Italiener – und nehmen sich von beiden kulturellen Erbschaften das Beste. Passt! Perfetto!


Der Film Auf der Suche nach Identität Südtirol 1919-2019 von Regisseurin Birgit-Sabine Sommer, das Drehbuch stammt von Thomas Hanifle, will zum 100. Jahrestag des Vertrages von St. Germain, 80 Jahre Südtiroler Option und zum Paketabschluss vor 50 Jahren seinen Beitrag für den europäischen Geist im kleinen-großen Raum leisten.