Gesellschaft | 75 Jahre Option

Zeitzeugen berichten über die "Verfolgung"

Die Autorin Eva Pfanzelter hat in ihrem Buch die Berichte von Südtiroler Zeitzeugen, Optanten und Dableibern versammelt und salto.bz zur Verfügung gestellt. Der 2. Teil.

Der Erinnerungsort „Verfolgung“ deutet auf eine ganze Reihe von Personen hin, die im Zuge der nationalsozialistischen Rassenpolitik und im Zuge der Option zu Opfern von Gewalt, Zwangsverschickung und -rekrutierung wurden, die in Konzentrations- und Vernichtungslager eingewiesen und dort auch ermordet wurden. Während der Option verband sich deutschnationaler Fanatismus mit „Rassenwahn“ und wurde, besonders nach dem 8. September 1943, politisch opportun.

Es kam zu gewaltsamen Übergriffen und Enteignungen, zu großteils unangefochtenen Deportationen von Jüdinnen und Juden, behinderten Menschen und Alten aus Heimen sowie zur Denunziation und Abschiebung von politisch Unerwünschten – vornehmlich Dableiberinnen und Dableibern – in die deutschen Konzentrationslager. In der Reschenstraße in Bozen entstand im Winter 1943/44 eine SS-Haftanstalt, die im darauffolgenden Sommer zu einem Polizeilichen Durchgangslager umfunktioniert wurde und den NS-Behörden als Durchgangsstation für Jüdinnen und Juden, Oppositionelle, Deserteure und Kriegsgefangene diente. Die Inhaftierten wurden bis Kriegsende auch als Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in den zahlreichen Außenlagern in Südtirol eingesetzt. Von rund 11.000 bekannten Häftlingen wurden etwa 7.500 in die Konzentrationslager Dachau, Mauthausen, Flossenbürg und Auschwitz deportiert.

Der diese Zeit in Südtirol prägende Antisemitismus wird in den Erinnerungen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen auf unterschiedlichen Ebenen sichtbar: sei es aus der Perspektive des Kindes, dessen jüdischer Freund samt Familie deportiert wird, sei es aus der Perspektive des Wachpersonals im Durchgangslager Bozen oder in den Konzentrationslagern im Deutschen Reich wie auch aus der Perspektive der Zivilbevölkerung, die von der Ansiedlung auf arisiertem Besitz profitierte und nach 1945 von Rückstellungsforderungen ehemaliger Besitzerinnen und Besitzer betroffen war. Bezeichnend ist, dass im kollektiven Bewusstsein eine Änderung dahingehend stattgefunden hat, dass ein (Teil-)Wissen um die Konzentrationslager im Dritten Reich nicht länger geleugnet wird und das Sprechen darüber auch kein Tabu mehr darstellt.

Karl Tarfusser, Nals, Landwirt

geb. 1926 in Nals, Dableiber

Einmal sind wir nach der Panzerfahrschule von Berlin wieder zurück nach Paderborn und über Osterreich runter. In Linz mussten wir drei Tage auf die Weiterfahrt warten und einmal, einen Tag lang, mussten wir rübergehen, in Mauthausen Wache halten. Ich bin da dabei gewesen, als Wache einfach, im Konzentrationslager. Ein paar Posten bewachen und drinnen spazieren gehen vor allem. Das war verheerend! Ja, weil die Leute haben nichts mehr gewogen. Die sind derart mager gewesen, mager und zusammengefallen. Nicht zu beschreiben, wie die ausgesehen haben. Von Zeit zu Zeit haben sie Isolatoren eingeschaltet beim Zaun – da sind überall oben Isolatoren gewesen, mit Strom. „Schaut rüber, wie sie Zitter spielen“, haben sie gesagt, wenn immer wieder einmal einer gehangen ist drüben am Zaun.

Es sind oft solche im Lager gewesen, wo die Eltern … oder weil es Juden gewesen sind. Die Juden können ja nichts dafür, dass sie als Juden geboren sind. Oder die Frau, wenn sie einen Juden geheiratet hat, ist der Mann weggekommen, den hat sie nie mehr wieder gesehen. Die Frau ist auch ins  Konzentrationslager gekommen, was hat denn das für einen Sinn gehabt? Die hat ja nicht gewusst, warum sie drin ist. Und die Männer – die haben nichts angestellt. Es hat geheißen, die ganzen Juden von Deutschland müssen verschwinden, sonst tut er sie internieren. Das hat er dann gemacht, das hat aber niemand geglaubt, dass er so langsam mit allen abfahren wollte. Sechs Millionen ist doch ziemlich eine Masse. Sechs Millionen Juden, die hat der Eichmann auf dem Gewissen. Ja, ich bin einmal da drinnen gewesen und habe genug gesehen gehabt.

Robert Lageder, Kastelruth, Koch

geb. 1927 in Tagusens/Kastelruth, Optant, nicht ausgewandert

Das waren wenige, die sich freiwillig gemeldet haben. Das waren am Anfang vielleicht ein paar Fanatische, nicht mehr. Manche haben sich versteckt, und die haben auch nichts zu feiern gehabt. Deserteure hat es auch gegeben. Drüben haben wir einen gehabt, der war schon eingerückt, dann ist er abgehauen. Der hat das aber nicht ausgehalten, den Winter auf der Alm und sich vor allen zu verstecken. Er hat sich dann freiwillig gemeldet und ist nach Innsbruck ins Lager gekommen. Da musste er Minenbomben entschärfen, das hat er nach dem Krieg auch noch gemacht, Bomben entschärft, drüben in Tagusens, so Blindgänger. Das hat er können. Sonst hat ihm nichts gefehlt. So schlecht ist es ihnen auch nicht gegangen, wie manche getan haben. So war es eben.

Als die Front von Süden her naher ruckte, wurden in Bozen ein Polizeiliches Durchgangslager und zahlreiche Arbeitslager im ganzen Land errichtet. Vom Bozner KZ wurden rund 7.500 Haftlinge ins Deutsch Reich abtransportiert.

Magdalena Altstätter, geb. Künig, Schwaz, Hausfrau, Haushälterin am Bauernhof des Vaters

geb. 1935 in St. Peter/Ahrntal, Optantin

Die Auswanderung war eine Reise ins Ungewisse und wir waren traurig. Wir waren zuerst in Innsbruck, im Gasthaus Goldener Stern in Hötting. Gekauft hat der Vater einen Bauernhof in Achenkirch. Es war ein großer Hof, aber desolat bis zum Gehtnichtmehr. Wir waren enttäuscht, entsetzt. Es war ein desolater Bauernhof, den die Deutsche Umsiedlungstreuhandgesellschaft uns übergeben hat. Also mein Vater hat schon dafür zahlen müssen. Den Hof haben sie einem Juden enteignet. Ein gewisser Hörger hatte den Hof gekauft gehabt und dann haben sie ihn enteignet, die Deutsche Umsiedlung. Nach dem Zusammenbruch hat der Jude, der nun in London war, den Anspruch gestellt, dass er das Haus wieder zurück will. Mein Vater kannte in Innsbruck einen gewissen Rudolf Schlesinger [Obmann des Gesamtverbandes der Sudtiroler mit Sitz in Innsbruck], der sich für die Sudtiroler eingesetzt hat, mit dem hat er sich unterhalten und ihm das Leid geklagt. Der hat das alles in die Hand genommen und sie haben dann mit dem Juden Korrespondenz geführt. Der war eigentlich ganz nett. Er hat Geld verlangt, wollte Wiedergutmachung. Er hat eben seine Ansprüche gestellt nachher. Wie der zu dem Hof gekommen ist, das weiß ich bis heute nicht. Der wird da vielleicht sein Geld angelegt haben oder was. [sic!] Das war ein umgänglicher Mensch, so eigentlich. Ja, Hörger, das steht heute noch auf dem Haus oben. Er hat uns wirklich einen guten Preis gemacht, und dann hat der Vater viel, viel Holz heruntergeschlagen, damit er das zahlen konnte.

Erich Innerebner, Lana, Regisseur

geb. 1932 in Meran, Optant, nicht ausgewandert

Wir haben immer in der Gasse gespielt, ich hatte so einen Roller. Da waren drei, vier Buben und auch zwei Mädchen. Ein einziger Bub war da, das war ein Judenkind, der war gleich alt wie ich, und alle haben „Judenbengel“ zu ihm gesagt. Meistens ist er dann weggelaufen. Er mochte mich einfach, und ich mochte ihn. Er war ein sehr kluger, sehr lieber, netter Mensch. Die Familie hat im letzten Stock gewohnt und er hat mich manchmal mit hinaufgenommen. Es waren sehr vermögende Leute, der Vater war ein Arzt und sie war eine sehr feine Dame, ein wunderschönes Haus. Auf einer Konsole stand ein Reiherpaar, das hat mich besonders fasziniert. Die waren mindestens einen halben Meter hoch, aus Silber, zwei Reiher, die den sogenannten Balztanz machen. Ich hatte sowas noch nie gesehen. Ich bin immer davor gestanden und hab mir das angeschaut. Er hatte viele Spielsachen und schone Bucher. Eines Tages, das war dann im ’43er-Jahr, hat mich seine Mutter hinaufgerufen. Da waren die ganzen Möbel bedeckt, alles war zusammengepackt, viele Koffer. Sie hatte geweint und der Bub, Burschi hieß der, stand in einer Ecke und war auch ganz verweint und sie hat gesagt: „Also, Erich, wir haben dich geholt, weil der Burschi mochte sich von dir verabschieden. Wir müssen morgen fort.“ Er ist hergekommen, hat mir die Hand gegeben, mich aber nicht angeschaut. Sie hat gesagt: „Der Erich hat immer so gern dieses Buch gehabt, das habt ihr immer zusammen angeschaut.“ Das war eine Pharaonengeschichte, ein Krimi aus der Pharaonenzeit, das hat uns immer sehr amüsiert. Sie hat gesagt: „Burschi! Hol es und schenk es ihm.“ Ich sehe noch, wie er so den Kopf schüttelt und sie dann sagt: „Geh! Hol es und schenk es ihm!“ Dann ist er mit dem Buch gekommen und hat es mir geschenkt. Das hab ich heute noch.

Anfang der 1950er-Jahre bin ich mit einem Schulkameraden in ein großes Meraner Speditionshaus gegangen, weil dort dessen Vater gearbeitet hat. Da kamen wir in einen Saal, ich hab so etwas noch nie gesehen: Da waren Hunderte von wunderbaren Möbelstucken und Teppichen, große Luster und ein großer, großer Tisch mit Silberschalen, mit Silberkannen und allem, und am Ende stand mein Reiher. Ich bin dann heim und hab das der Mama erzählt. „Ja, den Burschi wirst du nie wieder sehen“, hat sie gesagt. Die Juden mussten alles verkaufen und da haben einige Leute davon profitiert – logischerweise.

Das Mahnmal im Bild erinnert an das Konzentrationslager Bozen und steht vor der Pius-X.-Kirche in unmittelbarer Nähe zum Ort des Lagers, von dem nur noch eine Mauer erhalten ist. Dort findet jährlich am 27. Janner, dem Tag des Gedenkens an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, die eine Kranzniederlegung im Beisein des Bozner Bürgermeisters statt.

Marialuise Mahlknecht, geb. Oberrauch, Meran, Arbeit im Textilgeschäft

geb. 1924 in Bozen, Dableiberin

Ich war vorher noch bei einer Tante in Düren. Dort bin ich am 28. August ’38 eingeschult worden, ich kam in die Obertertia. Da hab ich schon mitbekommen, wie die Nazis arbeiten. Im November, am 9. November ’38, habe ich selbst am Schulweg erlebt, wie die Synagoge gebrannt hat. In der Früh auf dem Weg zur Schule waren acht Lampen um die Synagoge herum aufgestellt, so Feuerstellen, die wurden dort in die Synagoge hineingeschoben. Ich hab zu meiner Freundin gesagt: „Warum ruft man denn nicht die Feuerwehr?“. Wie wir dann um ein Uhr von der Schule zurückkamen, war bereits nur mehr ein Schutthaufen übrig. Das hat mich schon als Kind so beeindruckt. Warum das passiert ist, wussten wir ja gar nicht. Wir wussten nicht, wer da so bös war, dass das ein Politikum war. Ich war, wie gesagt, bei einer lieben Tante, die wusste von der Politik auch nicht viel. Der Onkel, der war Rechtsanwalt, aber der hat nichts gesagt. Der hat überhaupt wenig gesprochen.

Franz von Walther, Bozen, Journalist und Koordinator der deutschsprachigen Programme des RAI-Senders Bozen

geb. 1933 in Bozen, Dableiber

Wir waren während des Krieges oben in Oberbozen auf dem Ritten und ich war Ministrant. Der Pfarrer, auch ein überzeugter Dableiber wie die meisten Geistlichen in Trient, sagt eines Tages: „Heut beten wir für diese jüdische Familie, die in Oberbozen verhaftet worden ist.“ Das hat er gesagt! „Die werden wahrscheinlich nicht mehr zurückkommen.“ Er hatte auch gewisse Vorbehalte. Aber jedenfalls hat er für sie gebetet. Erwähnenswert ist vielleicht, dass eine Nichte von den Juden von einem SOD-Mann aufgenommen worden ist. Die haben das Kind sozusagen adoptiert und dadurch gerettet. Die war sonst natürlich mit nach Auschwitz gekommen. Das hat man dann schon irgendwie mitgekriegt. Auch der Dr. [Wilhelm Alexander] Loew [auch Loew-Cadonna], der Rechtsanwalt, war in Oberbozen und ist dann von einer Abordnung verhaftet worden. Dann haben sie ihn … haben sie ihn … Er ist danach an Hunger gestorben, weil er auch eine Magenerweiterung gehabt hat. Das war schon … das war … Natürlich, das Ausmaß der Morde in den KZs hat man nicht gekannt. Aber dass man mit den Juden, dass sie da … das war schon irgendwie … Die bekannten Juden sind alle weggekommen.