Politik | Meinung

Der Brexit, klare Luft

Die Briten möchte er jetzt mit einem Fußtritt davontragen, der gute Dorfmann; doch die Lektion, die uns der Brexit lehrt, ist eine andere.
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Der Brexit soll uns klar machen, dass wir auch die Motive der anderen anerkennen müssen, das Unterschiedliche umarmen und nicht verleugnen.

Warum geht es auf einmal nur noch dauernd darum, wie wir am Brexit zugrunde gehen werden? Ich finde die Diskussion viel spannender, wie wir damit leben können. Nun bin ich halt auch ein Mann der Berge, und daher verbinde ich das neue Europa eher mit dem Bild einer Klettertour: Wie kommen wir denn nur hinauf auf den Sassongher? In Flipflops? In Badeshorts? Wer kümmert sich um die Wettervorhersage? Wer sagt uns, was wir anziehen sollen? Was packen wir in den Rucksack, um für alle klimatischen Eventualitäten gerüstet zu sein? Wie sieht der ideale Proviant aus, mit dem wir uns nicht überfressen, aber trotzdem die nötigen Kalorien erhalten? Wer macht den Guide? Und sollen wir überhaupt hoch, wenn wir uns kränklich fühlen oder sogar eine Lungenentzündung im Anmarsch ist? Oben in den Bergen atmen wir die frische, klare Luft, die viel sauberer ist als unten in der Ebene. Da erlauben wir uns auch einen gewissen Optimismus. Doch natürlich bleiben auch viele Unwägbarkeiten, das ist klar.

Ist der Ausgang des Referendums in Großbritannien wirklich nur ein Sieg der Populisten? Das hieße, die Dinge zu banalisieren. Haben die Briten ohne rationale Grundlagen und einfach nur emotional abgestimmt? Auch das wäre eine grobe Vereinfachung. Es gibt Millionen von Europäern, die in keiner Weise mit der EU von heute einverstanden sind, mit dieser Verklumpung von Banken und Ölindustrie, diesem perfekten Spielplatz für die Eliten. Für rein in wirtschaftlichen Interessen denkende Lobbys, die sich überhaupt nicht für den Sinn einer Gemeinschaft im weiteren Sinne interessieren. Unsere aktuelle EU hat sich unfähig gezeigt, auf die Bedürfnisse ihrer Bürger einzugehen, weil sie die Arroganz des konföderalen Wegs ausnutzte und weil sich der Gemeinschafts-Weg als völlig unzureichend erwies. Stört das Dorfmann, der mit seinen Parteifreunden immer noch die aktuelle Regierung lobt und unterstützt? Und dass inzwischen das Movimento Cinque Stelle etwas frischen Wind in die verkrustete italienische Politik bringt? Hoffentlich stört es Dorfmann nicht, dass die Fünfsterne-Leute die Halbierung der parlamentarischen Diäten fordern!

Die Briten möchte er jetzt mit einem Fußtritt davontragen, der gute Dorfmann. „So leid es mir für die Briten tut, wir müssen jetzt egoistisch sein“. Glückwünsch, was für ein schönes Vorbild er abgibt! Dorfmann tönt genauso hart und unversöhnlich wie Salvini in seinen schlimmsten Momenten.

Da stehen wir ja großartig da. Als hätte es jemals etwas gebracht, Gewalt mit Gewalt zu beantworten.

Dorfmann weiter: „Wir können doch nicht zulassen, dass genau jener Bereich, in dem wir jetzt besonders schauen müssen, dass unsere Interessen gewahrt werden, in den Händen eines britischen Kommissars ist oder dass er die Präsidentschaft der Europäischen Union übernimmt“. Es wirkt wohl nicht besonders angriffslustig, wenn wir an dieser Stelle feststellen, dass die Regierung Großbritanniens mit ziemlicher Sicherheit nicht die Ratspräsidentschaft innehaben wird. Abgesehen davon werden die britischen Vertreter künftig auch weder zu den Sitzungen des Europäischen Rats noch zu denen des Ausschusses der Ständigen Vertreter der Mitgliedsländer eingeladen, auch nicht zu denen der Zwischenstaatlichen Ausschüsse. Die Institutionen und Organe der EU müssen britische Bürger nun zwangsläufig von ihren Beschlüssen und Entscheidungen ausschießen, von der Kommission bis hin zum Gerichtshof. Da werden nun in verschiedenen Kommissionen und Delegationen Präsidenten und Vizepräsidenten fehlen, so steht es in den Regeln. Und Regeln sind dazu da, befolgt zu werden. Es hat keinen Sinn, hier gegen die Briten zu stänkern, lieber Dorfmann.

Was soll das heißen: „Ich glaube schon”, dass „die EU sich an die Menschen annähern wird müssen?“ Das ist doch eine conditio sine qua non. Das ist die Basis von allem, die existentielle Grundlage. Von wegen „ich glaube schon“!

Wenn Dorfmann sich apokalyptische Szenarien ausmalt, sind seine Thesen einfach zu dramatisch, zu negativ, zu pessimistisch. Die Gespenster der Vergangenheit werden durch das britische LEAVE nicht geweckt. Womöglich wird es weitere sezessionistische Schübe geben, angefangen von den Schotten, was mehr als wahrscheinlich ist.  Die Lektion, die wir noch lernen müssen, lautet noch mehr auch die Motive der anderen anzuerkennen (nicht die anderen „hier bei uns“, sondern die wirklich anderen!), das UNTERSCHIEDLICHE zu umarmen und nicht zu verleugnen. Wir müssen das ebenso lernen wie die Engländer und Österreicher. Es ist nie zu spät, um mental auf die Schulbank zurückzukehren.

Verheerend wäre dagegen das Beharren auf Unions-Entscheidungen im Hinblick auf exzessive Strenge und auf die Egozentrik der Mitgliedsstaaten. Wirklich finstere Zeiten kämen auf uns zu, sollte das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP in seiner aktuellen Form abgesegnet werde. Das wäre noch deutlich schlimmer als das britische LEAVE! In seiner momentan vorliegenden Form respektiert dieses Abkommen nicht einmal die Minimalstandards in Sachen Arbeits-, Menschen- und Umweltrecht. Gegen dieses verabscheuenswürdige Abkommen möge Dorfmann kämpfen. Wenn wir diesem Planeten noch halbwegs eine Zukunft geben wollen, müssen wir Gemeinwohl und gemeinsame Rechte ins Zentrum der Politik rücken.

Nicht, dass hier Missverständnisse entstehen: Auch ich bin unglücklich über den Ausgang des Referendums und darüber, dass eine so wichtige und historische Nation die Europäische Gemeinschaft verlässt. Aber ich habe auch lange nachgedacht in diesen Tagen, und glaube, dass die Gelegenheit auch günstig ist, auf eine kommende Union der Werte zu hoffen, die auf einem föderalen, solidarischen und demokratischen Modell aufbaut. Denn das sollte der wahre Geist unserer europäischen Union sein. Eine Union, die unsere Werte bewahrt. Daran sollte jetzt schleunigst gearbeitet werden, und wer weiß schon, ob das Vereinte Königreich nicht wieder den Anschluss sucht an ein neues, echtes Europa?  An ein Europa, das sich auf ganzheitliche Werte stützt, das an ein bedingungsloses Grundeinkommen glaubt, an Kreislaufwirtschaft und Schienenverkehr. Wirtschaftliches Wachstum darf nicht an erster Stelle stehen, nicht um Profit soll es gehen, sondern darum, dass es den Menschen gut geht. Und zum „Gutgehören“ gehören auch Bildung, Umwelt, Gesundheit, Beziehungen und vieles andere mehr.

Der Ausgang des Referendums ist wie Bergluft! Und wie gut schmeckt die Bergluft, wenn man sie tief einatmet! In die Berge geht man nicht in Flipflops. Eine Klettertour beginnt man nach perfekter Vorbereitung. Also gehen wir sie an, diese neue und wahrhaftige Europäische Union. Statt uns hier auszumalen, wie wir alle sterben werden. Und in den Bergen ist das Wetter bekanntlich unvorhersehbar.

Ohne den Eurokraten zu nahe treten zu wollen: Bringt endlich etwas Ordentliches in Gang, zieht andere Saiten auf und arbeitet an der Zukunft. Denn die Berge mit ihrer guten Luft sind ein Erbe der Menschheit.

 

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F. T. Di., 28.06.2016 - 22:24

Der Brexit ist nicht wie Bergluft, sondern er riecht wie das Mief unter den
Perücken der englischen Richter. Dieses verstaubte, verarmte, Land und seine
eingebildeten Oxbridge boys versuchen schon wieder Europa in Geiselhaft zu nehmen.
Dorfmann und die grosse Mehrheit in Europa hat Recht dass man endlich dafür sorgen muss die Bremser loszuwerden, die ja jetzt schon wieder das
Erpresserspiel versuchen. Sie vergessen auch dass die Briten, bis sie nicht
den Austritt laut Artikel 50 erklären, weiterhin volles Mitglied der Eu sind.
Also ist ihre Annahme, dass sie von allen Posten ausgeschlosen werden falsch.
Und Sie sollten auch nicht so tun als ob die TTIP usw. schon unterschriftsreif wären. Ob die jemals so vereinbart werden ist mehr als ungewiss. England
hat sich über Jahrzehnte als schlechter Partner erwiesen, nun sollen sie sich
die Suppe selbst auslöffeln. Aber man sieht jetzt schon dass sich jeder in diesem Operettenkönigreich davor drücken will.

Di., 28.06.2016 - 22:24 Permalink
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Martin Oberund… Mi., 29.06.2016 - 00:44

Finde diese politische Analyse recht oberflächlich, speziell weil die Briten nur aus wirtschaftlichen Gründen den Brexit verlangt haben und jetzt kalte Füße bekommen, weil sie große wirtschaftliche Einbußen für ihr Land fürchten. Auch ausländerfeindlich soll die Brexit Kampagne gewesen sein und die Briten Angst um "ihre" Jobs haben, die ihnen die Festland-Europäer wegnehmen. Vor diesem Hintergrund ist diese Behauptung recht paradox: "Daran sollte jetzt schleunigst gearbeitet werden, und wer weiß schon, ob das Vereinte Königreich nicht wieder den Anschluss sucht an ein neues, echtes Europa? An ein Europa, das sich auf ganzheitliche Werte stützt, das an ein bedingungsloses Grundeinkommen glaubt, an Kreislaufwirtschaft und Schienenverkehr." Bedingungsloses Grundeinkommen? Für die Polen, Italiener oder Griechen in UK? Nigel Frage lässt grüßen.

Mi., 29.06.2016 - 00:44 Permalink