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Wahlverwandte II

Über die freundschaftliche Begegnung des Malers Jörg Hofer mit dem Schriftsteller Franz Tumler. [Teil II]
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Foto: Foto Salto.bz

Gastbeitrag von Erika Wimmer Mazohl

 „Geistiger Mäzen“ und Freund – die Tumler-Arunda 
Was auffällt ist, dass bis auf Grassl und Kaser alle Künstler und Autoren, die bisher genannt wurden [Teil 1], deutlich älter sind als Jörg Hofer – sie gehören geradezu einer anderen Generation an, und das trifft erst recht auf den Schriftsteller Franz Tumler (1912-1998) zu. Mit Tumler, der in Linz aufgewachsen war und in Berlin lebte, dessen Vater aber aus Laas stammte, weshalb er auch immer wieder Verwandte in Laas besuchte, verband Hofer eine, den beträchtlichen Altersunterschied mühelos überwindende Freundschaft. Diese Verbindung, man darf es annehmen, speiste sich zum einen aus der Tatsache, dass der bedeutende und im Tal auch hochgeschätzte Schriftsteller Tumler – es war vor allem seine „singuläre Sprachkapazität“, „die „unglaublich starke Sprache“, die faszinierte  – sich gerade dem jungen Hofer zuwandte, was zugleich (umgekehrt) eine Wertschätzung für dessen Kunst zum Ausdruck brachte.

Zum Zeitpunkt der Begegnung der beiden in den frühen 1980er Jahren hatte Hofer seine Bilder bereits in Einzelausstellungen in Bozen gezeigt, ein Katalog war erschienen. Und Hofer war federführend daran beteiligt, zum 70. Geburtstag des Schriftstellers in der Arunda-Reihe eine Anthologie mit Texten Tumlers herauszugeben. Gemeinsam mit Norbert Florineth besorgte er die Auswahl der Texte bzw. Textausschnitte und zeichnete überdies für Gestaltung und Layout verantwortlich. Dass es nicht nur um eine Werkschau ging, sondern auch um die Suche nach ‚dem Verbindenden‘, zeigt die Tatsache, dass in vielen Beiträgen und Textauszügen dieser Ausgabe – exemplarisch – Tumlers Verhältnis zu Südtirol und im Speziellen zu Laas thematisiert wird. Der Autor, dessen Vater starb, als er eineinhalb Jahre alt war, hat wiederholt, wie in literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen vielfältig dargestellt wurde, in seiner Literatur die Suche nach den eigenen Wurzeln, nach ‚Vaterheimat‘ und ‚Ursprungslandschaft‘ inszeniert – beginnend mit der frühen, 1935 publizierten Erzählung Das Tal von Lausa und Duron bis hin zu ästhetisch völlig neu sich positionierenden Texten wie Aufschreibung aus Trient, erstveröffentlicht im Jahr 1965, oder mit jenen Beispielen seiner Lyrik, die sich topographisch in Laas und Umgebung verorten lassen, so etwa mit dem Gedicht Marmorstück (1980). Unter den Texten in der Arunda findet sich auch ein Erstdruck des Gedichtes Töll bei Meran, das mittlerweile zu den bekanntesten Gedichten Tumlers zählt. Die Anthologie enthält darüber hinaus Beiträge über Tumler, so etwa von Maria Luisa Roli, Gerhard Mumelter, Jean Améry und Hans Dieter Zimmermann, weshalb sie vielfach auch als ‚Tumler-Monografie‘ gehandelt wurde und wird.

            Aus der Zeit der Vorbereitung der Tumler-Arunda ist ein Briefwechsel zwischen dem Dichter und Jörg Hofer erhalten, der die Arbeit an Auswahl und Zusammenstellung der Texte und Bilder dokumentiert und zeigt, dass diese in enger Absprache und mit Tumlers Unterstützung erfolgte; der Autor steuerte bisher unbekannte Materialen bei, zum Beispiel Familienfotos und die beiden Gedichte Die Töll bei Meran und Marmorstück. Tumlers bereitwillige Kooperation kommt in mehreren Briefstellen zum Ausdruck, und das allein lässt auf eine vertrauensvolle Beziehung zur Arunda, aber vor allem zum unmittelbaren Korrespondenzpartner Hofer schließen. Mehrfach ist auch seine Freude am Gedeihen der Vorbereitungen für die Publikation dokumentiert, so etwa, wenn er schreibt: „Ich freue mich, daß euch die Fotos zugesagt haben. Und ich habe mich sehr und lebendig gefreut, daß ihr euch so eingehend und liebevoll mit der Sache beschäftigt und daß etwas so Gutes aus ihr wird.“ (Tumler an Hofer, 25.20.1981) Die Auswahl der Redaktion lobt Tumler wiederholt, doch lässt er es sich nicht nehmen, diese genau zu prüfen und gegebenenfalls einzugreifen. Am 2.2.1982 schreibt er an Hofer die folgenden Zeilen, die Tumlers Selbstdisziplin in Sachen Sprache und seine Skepsis gegenüber allem, was sich nicht einwandfrei als wahrhaftig darstellte, unter Beweis stellt.

„Lieber Jörg,

du wirst dich wundern, daß du schon wieder einen Brief bekommst. Aber es läßt mir keine Ruhe: es betrifft das Stück aus Görz (über den Sprachklang der Dialekte, das mit Grado beginnt, dann mit einem Erlebnis im Münstertal fortgesetzt wird, das mit der Donau und Mitteleuropa endet – kurz, du weißt schon). Ich habe mir das Stück hervorgeholt, ich finde es doch nicht sehr gut. Es hat seinerzeit Anklang gefunden, ist auch als ‚Rede‘ passabel; aber als ‚Schreibe‘??. Ich finde nicht. Es ist eher ein ‚schönes Gerede‘ als wirkliche Substanz.“

Der besagte Text wurde denn auch aus den für die Publikation vorgesehenen Texte herausgenommen. Hofers und Florineths Bemühungen rund um eine dem „geistigen Mäzen“ voll und ganz entsprechende, hochqualitative Veröffentlichung wurde begleitet von Vorbereitungen für die Präsentation der Tumler-Arunda und einigen Werbemaßnahmen. So kündigte die RAI, namentlich Gerhard Mumelter, auf Anregung von Hofer an, „ein Team“ nach Berlin zu schicken, „zu Anfang Jänner, für eine Aufnahme, die Mitte Jänner gesendet werden soll“ (Tumler an Hofer, 10.11.1981). Man war sich bewusst, einem großen Schriftsteller zu begegnen, seinem viel zu wenig bekannten Werk zu dienen. Tumlers Stellung im Feld der deutschsprachigen Literatur war in den frühen 1980er Jahren, nachdem er zunächst wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus mit einem Imageeinbruch zu kämpfen hatte, zwar wieder hergestellt, große Verbreitung fand seine Prosa aber nicht. Die Arunda-Anthologie zum 70. Geburtstag hat zur Bekanntmachung von Tumlers Texten in Südtirol einen wesentlichen Beitrag geleistet. Tumler selbst habe sie Norbert Florineth zufolge „große Freude“ gemacht: „Er war mit der Anthologie sehr zufrieden und hat gemeint, die Textauswahl könne nicht besser sein.“

            Doch auch nachher kam Tumler immer wieder nach Laas. Er, der bei den Verwandten in der unmittelbaren Nachbarschaft von Jörg Hofer wohnte, dort auch einige seiner Texte schrieb, suchte offenbar mit den Arunda-Leuten nicht weiterhin intensiv Kontakt; er verkehrte mit den Verwandten, mit den Leuten im Dorf und mit Jörg Hofer.

Spuren künstlerischer Verwandtschaft
Genügend Gesprächsstoff dürften der 70jährige Tumler und der 30jährige Hofer tatsächlich gehabt haben, denn abgesehen von der gemeinsamen Aktivität für die Arunda gab es einige wesentliche Anknüpfungspunkte im Interessensbereich und Verbindungen auf der Ebene des Werks. Für Tumler möchte der junge Laaser, der als Sohn eines Metzgers trotz anderer familiärer  Erwartungen die künstlerische Laufbahn einschlug und darin erfolgreich war, das dargestellt haben, was auch er hätte sein können, wenn sein Vater nicht früh verstorben und die Mutter mit den Kindern nicht nach Oberösterreich gegangen wäre: ein Südtiroler, der sich auf der Basis fester Wurzeln in der Region auf den Weg machen konnte, um Grenzen zu überschreiten, Entfaltung und Erkenntnis zu finden. Tumler, der in Laas „nach dem Umriß der Vatergestalt“ suchte und sich die Prägung seiner Herkunft in rationaler Weise wieder aneignen musste, fand in Hofer einen Gesprächspartner, der nach dem Studium in Wien in freier Entscheidung ins Tal zurückgekehrt war, weil die umgebende Landschaft eine Inspirationsquelle für seine Kunst darstellte. Wie der junge Künstler die Farben und Strukturen dieser Landschaft in seine Malerei aufnahm, legte Tumler immer wieder und in kontinuierlicher Suchbewegung Fährten auf dem Weg zu diesem Landstrich, zu den Leuten und ihrer Arbeit, zu Wirtschaft und Politik des Landes – und das hatte er schon lange vor seiner Begegnung mit den Arunda-Leuten und Hofer getan. Und auch er sammelte noch immer die Farben und Strukturen des Vinschgaus ein, wenn er darüber schrieb. Beiden ging es nicht um eine romantische Hinwendung zum Kleinen und Kleinteiligen, nicht um eine harmonisierende ‚Heimatgeborgenheit‘, sondern um das Ausmachen der authentischen Gestalt des Landes, um das Erkennen und Feststellen dessen, was war und wie es war. Es waren zwei verwandte Geister, die sich hier trafen. Dass diese Verwandtschaft a priori gegeben war und wohl die gegenseitige Anziehung bedingt hatte, lässt sich im Vergleich der Tumlerschen Prosadichtung mit der Malerei Hofers an vielen Passagen von Tumlers frühen Südtirol-Texten ablesen – hier ein Beispiel, der Beginn des Essays Dorf in Südtirol, entstanden 1948:

„Der Fluß entspringt sogleich breit und rauschend aus drei Seen, die das braune Gewässer der Moore sammeln und das hellere, gelb strömende der Gletscher, er fällt zwischen Farnesdunkel rasch talab, und wo er ins Ebene tritt, läuft er grau und dünn übers Gestein, ein schmales Rinnsal in dem Bette, das so breit ist wie das eines mächtigen Stromes. Weiß und glanzlos liegt es im Sommer da, und die Adern, die ihm aus Tälern und Karen zulaufen, führen kein Wasser, doch im Frühjahr brichts aus den Stürzen der Gletscher, und der Fluß schwillt breit über den Sand.“        

Dem genauen Blick folgt eine präzise Transformation in Sprache; die mit dem Auge erfasste Landschaftsstruktur wird in Sprachbilder  übersetzt, optischen Eigenschaften werden in adäquate, das Farbspektrum auslotende Landschaftsattribute gebannt, doch das Ergebnis ist nicht starr, kein statisches Bild entsteht, vielmehr eines, das über die Verben akustische Elemente und die Bewegung des Wassers mittransportiert. Wie Hofer die materielle Welt mit all ihrer Vielfalt an Formen und Farben in einem Bild zu amalgamieren vermag, schafft auch Tumler facettenreiche Landschaftsbilder von herber konzentrierter Schönheit. Wie der Maler sein Material ernst nimmt und die Materialität der Natur studiert, so prüft und protokolliert der Schriftsteller die vorgefundene Dinge auf das Genaueste:

„Wir sind in Lagàr, da mache ich eine Zeichnung. Die Mauern einen Meter dick; alles, was Holz war, weg; aber alles, was Stein war, wie von gestern fest. Der Vetter kann alle Räume benennen: Kammer, Stube, Küche, hier war die Feuerstelle, die Steine sind schwarz; da sind Stufen, das war der Abgang zum Stall; und dort draußen die Auffahrt zur Tenne, das ist das einzige Stück eingebrochener Mauer.“

Immer wieder ist es, wie bei Hofer, der Stein, der in den Mittelpunkt des Interesses rückt: der Stein als essentielles Stück Natur, der Stein als Basis und Stützpunkt, der der Natur entrissene Stein und der Stein als Baumaterial, als Werkstoff für die Kunst. In dem Gedicht Marmorstück, entstanden 1981, heißt es: „weißer Stein auf meinem Tisch / hier losgehauen – dort schlummernder Stein / hier glatt – dort rissig […]“. Tumler erfasst die Beschaffenheit des ‚kultivierten‘, des bearbeiteten Steins auf seinem Tisch im Gegensatz zum draußen im Berg befindlichen Stein ganz schlicht, doch in der Anordnung der Wörter überaus poetisch. In der Metapher „schlummernder Stein“ ist das menschliche Tun eingeschlossen, wird das Gedicht topografisch verortet: Es geht um den Laaser Marmor, demselben Marmor, den Hofer in seine Farben mischt. Viermal fällt in Tumlers kürzerer Version des Gedicht Marmorstück das Wörtchen „weiß“, und es erscheint immer ein wenig anders konnotiert: als ein Weiß „unter Fichten gelblich erspäht“ oder „von Fern schimmernd“ und „geahnt“. Man fühlt sich an Hofers vielfältige Weißschattierungen in Bildern wie Eis (2009) oder Permafrost II (2012) erinnert. Eindrucksvoll ist auch Tumlers sechszeiliges Gedicht Mit Poren, das die Materialität des Steins gewissermaßen von innen her untersucht: „der durchlässige stein / der stein bleibt / mit allem was mit ihm fließt / durchlässig / poriger / stein“. Indirekt wird hier die Kraft des Wassers, das den Stein zu höhlen und zu löchern vermag, beschworen. Parallel denke man an Bilder Hofers, in denen die (gefährliche) Mischung von Erde und Wasser visualisiert ist: so etwa die Bilder Erosion I, Erosion II, Erosion III und Erdrutsch I, Erdrutsch II, Erdrutsch III. Dergestalt lassen sich mühelos viele Parallelen zwischen dem Werk Tumlers und der Malerei Hofers entdecken. Und die Orte, auf denen sich beide beziehen, sind offensichtlich. Hofers Arbeiten würden zeigen, so Peter Wiermair,

„wie sehr das Konzept einer Naturerfahrungen transformierenden Malerei, einer mit unterschiedlichen Malschichten operierenden ‚Peinture‘, die nach wie vor mit Marmorstaub ‚verstärkt‘ wird, zu einer Kunst führt, die das Konzept der Malerei innovativ weiterführt und sowohl eine persönliche Handschrift trägt, wie sie auch nicht verheimlicht woher sie ‚geographisch‘ stammt.“

Tumlers Poetik ansprechend, äußert Leonhard Huber Vergleichbares über Franz Tumler. Laas sei für Tumler das „dichterische Material und gleichsam der Bühnenraum, in dessen Teilräumen Figurenaktivität stattfindet“. Der klar festzumachende geografische Raum schafft jene Bezugspunkte, die dem freien Werk eine wohltuende Konkretheit verleihen. Und auch die Auseinandersetzung von Künstler zu Künstler, von Mensch zu Mensch ist konkret und schafft Verbindlichkeit. Wie Jörg Hofer und Herbert Grassl in ihrem Projekt Berührungen – 11 Klangbildräume nach Verbindungen suchten, die das jeweilige Werk womöglich steigern konnten, haben Tumler und Hofer – vielleicht – eine ähnliche Steigerung in den Gesprächen über ihre Kunst erfahren. Sicher ist, dass nicht nur auf der inhaltlichen bzw. thematischen und topografischen Ebene Parallelen zwischen diesen beiden Künstlern zu finden sind, sondern auch auf der ästhetischen. Tumlers Sprache, ihr unmittelbarer unverstellter Duktus, erscheint manchmal wie absichtslos hingeworfen, völlig ehrlich und frei von Ideologie, und doch feingliedrig und reich an Detailwahrnehmungen. Dann wiederum sind die Sätze und Wörte präzis kalkulierend gesetzt, auf das Äußerste reduziert und im Ton eher herb als lieblich. Es sind dies Eigenschaften, die auch Hofers Maltechnik auszeichnen.

Salto.bz in Zusammenarbeit mit: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv  (Nr 36)