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Erinnerung: Die neue “39NULL”-Ausgabe

Angenehme Gedanken, Warnung und/oder Orientierung? Auf 148 Seiten gibt es über 30 Beiträge zum Thema Erinnerung. Am 31.3. wird 39NULL vorgestellt - ein Vorgeschmack.
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Foto: Camille Lévêque, Serie Dads, 2014 - 2016

Am Samstag 31. März, ab 16 Uhr, im Steghof bei Naturns gibt es einen must Termin für die Südtiroler Kulturszene. Es wird die neue Nummer der Zeitschrift „39NULL“ mit einer Ausstellung von Hannes Egger, Maria Walcher und Markus Pritzi sowie einer Soundinstallation mit Andi Stecher vorgestellt, dessen hybride Klangmischungen - die er als Schlagzeuger/Perkussionist und elektronischer Musiker auf ganz eigene Art zusammenmixt - als musikalische Unterlage fungieren werden. Vielleicht ist es kein Zufall, dass es ein wunderbar restaurierter Heustadel ist, in dem die neue Ausgabe des Magazins für Gesellschaft und Kultur vorgestellt wird, denn das diesjährige Hauptthema ist Erinnerung.
„39NULL“ gibt es seit 2013, als eine Gruppe von emigrierten Südtirolern, die allesamt in der kreativen Szene in Berlin tätig sind, beschlossen haben, darüber eine Reflexion zu starten, woraus dann die Erstausgabe unter dem Titel Kommen Bleiben Gehen – Landflucht der Kreativen entstanden war. Nachdem dies ein total unerwarteter Erfolg war, kam alsbald eine zweite Nummer und eine dritte…
Nun sind wir bei Nummer 6 im Jahr 2018 angelangt und haben darüber mit dem Chefredakteur Martin Santner gesprochen.

salto.bz: Nach der Nummer “Aufbruch” kommt jetzt “Erinnerung” … Nach welchen Kriterien wählen Sie das Thema, worum die jeweilige Ausgabe konstruiert wird?
Martin Santner: Das Heft zum Aufbruch sollte eine Sammlung von Geschichten des Gelingens sein, eine Ausgabe, die Mut machen sollte, nachdem in den vorherigen Jahren ziemlich viele politische, soziale, ökologische und ökonomische Krisen zu bewältigen waren und der soziale Zusammenhalt darunter sichtlich zu leiden begann. Darüberhinaus zeichneten die Massenmedien sowie wütende Internet-User ein manchmal noch viel düsteres Bild von unserer Welt, und verschwiegen oftmals ganz bewusst, dass es auch viele Menschen gibt, die dafür kämpfen, dass unser Zusammenleben funktioniert. Sie tun das, weil sie es nicht hinnehmen wollen, dass der soziale Frieden einfach so zerbricht.
Auf diese Polemik und den Zynismus der letzten Jahre wollten wir mit Optimismus reagieren und den LeserInnen Impulse geben, sich dem Engagement dieser Menschen anzuschließen und nicht nur das Narrativ des Scheiterns zu reproduzieren.
Nach dem Aufbruch-Heft ist wieder ein Jahr vergangen und der Zeitgeist ist zurück in die Vergangenheit geflüchtet, in eine Welt, in der Nostalgie und die Sehnsucht nach dem Heimeligen zu Hause sind. Das wollten wir aufgreifen und darüber nachdenken: Wie wirkt sich Erinnerung auf das Jetzt und vor allem auf die Zukunft aus? Wie wichtig sind persönliche, aber auch kollektive Erinnerungsprozesse für das gesellschaftliche Zusammenleben?

Kunst ist eine Art der Verarbeitung von Erinnerung. Da gibt es vielfache Beispiele und in dieser Nummer finden wir dazu die Beiträge Gedächtnisraum, The Daughter of the Great Library und La verità su Mnemosine… und auch zahlreiche Zeichnungen und Fotos. Wie wurden diese ausgewählt? Wer hat da das Wort, der Chefredakteur oder die Grafik? Denn was auffällt, ist eine dynamische Beziehung zwischen Text und Bild…
Text- und Bildredaktion sowie Grafikdesign arbeiten bei uns sehr eng zusammen. Über jedes Bild wird in der Gruppe diskutiert und entschieden. Wir alle im Team haben ein großes Interesse an Fotografie, Kunst und Literatur, weshalb auch unser Anspruch an die Bildsprache und die Ästhetik im Heft sehr hoch ist.

Wir versuchen in jeder Ausgabe, dass unterschiedliche Disziplinen sich miteinander verknüpfen bzw. sich herausfordern oder über ein Thema, das in den jeweiligen Forschungsgebieten eine zentrale Rolle spielt, sich gemeinsam annähern und in einen Diskurs treten.

Es ist wichtig, dass wir erkennen, wie stark Bilder auf uns wirken, welches Emotionalsierungspotenzial sie in sich bergen. Besonders der Fotografie wird nachgesagt, sie würde die Wirklichkeit - und somit die Wahrheit - abbilden. Bilder sind somit glaubwürdig und transportieren starke Emotionen. Die meisten Informationen nehmen wir beim Durchblättern einer Zeitschrift zunächst über das Betrachten von Bildern wahr, weshalb visuelle Kommunikation uns sehr wichtig ist. Und wenn wir schon beim Thema Erinnerung sind: Wir träumen und erinnern uns in Bildern – und dennoch wird ihre Macht, die sie über unsere Meinungsbildung hat, oftmals noch unterschätzt. 

Im Vorwort heißt es: “auch der Stoff unserer Erinnerungen selbst ist nicht bloß das Datenmaterial vergangener Erfahrungen, sondern durchwirkt mit Emotionen”. Genau so gibt es einige Beiträge, die sich gerade mit diesem Aspekt des Themas beschäftigen. Wie verhält sich Ihrer Meinung nach das Verhältnis zwischen Erinnerung und Emotion in der Geschichtsschreibung?
Der Zusammenhang auf den mit dieser Aussage im Heft Bezug genommen wird, ist derjenige des individuellen Erinnerns, seiner emotionalen Kodierung im Hinblick auf Wichtigkeit. Beispielsweise in der Geschichtsschreibung wird Emotion, so weit ich das sehe, unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturabhängigkeit betrachtet. D.h. einerseits wird die strikte Trennung von Vernunft und Gefühl problematisiert; andererseits aber die gängige Vorstellung einer durch die Geschichte hindurch zunehmenden Selbstkontrolle der Individuen in Frage gestellt.
Inwiefern hier spezifisch Emotionen und Erinnerung thematisiert werden, weiß ich nicht. Die beiden für eine Geschichte der Emotionen genannten Aspekte haben sicherlich interessante Implikationen, wobei ich im Hinblick auf eine zunehmende Selbstkontrolle der Subjekte doch denke, dass das auch weiterhin eine plausible These ist. Zumindest in einem dialektischen Zusammenhang von Freisetzung und Disziplinierung des Subjekts in modernen Gesellschaften, insbesondere des Westens. Zur Emotionalisierung der Geschichtsauffassung: Ich denke, dass das immer wieder ein Thema, derzeit gerade im Hinblick auf eine Geschichte der Opfer, eine Art Selbstkritik der westlichen Geschichte ist. Dabei geht es längst nicht um eine Aufarbeitung des Holocaust allein. Themen sind sicher Kolonialismus, Sklaverei, usw. und dem Eindruck nach dringt diese Thematik bis in ein breiteres Bewusstsein vor. Dass Emotionen involviert sind, steht dabei wohl vor allem im Kontext moralischen Empfindens.

Um diesen Aspekt des Themas "Erinnerung" geht es auch im Beitrag "Erst was erzählt wird, ist auch passiert" - ein Gespräch zwischen der Literaturwissenschaftlerin Katharina Rahn und der Psychotherapeutin Kathrin Stöwahse. Wie kam dieses Gespräch zustande?
Wir versuchen in jeder Ausgabe, dass unterschiedliche Disziplinen sich miteinander verknüpfen bzw. sich herausfordern oder über ein Thema, das in den jeweiligen Forschungsgebieten eine zentrale Rolle spielt, sich gemeinsam annähern und in einen Diskurs treten. In diesem konkreten Fall war es Frau Rahn, die dieses Gespräch vorschlug, da es sowohl in der Literaturwissenschaft als auch in der Psychotherapie um Erinnerung als kreativen Prozess geht. Wie erinnern wir und wie erzählen wir? Wo liegt die Wahrheit? Was ist Fiktion? Denn wir schaffen mit jeder Erzählung von uns und unserer Erinnerung eine Art Konfabulation, d.h. jeder von unseren Erzählungen wird mit jedem neuen Erzählen etwas neues angedichtet. Wir manipulieren unsere Erinnerung und filtern aus unserem Gedächtnis das, was gerade in dem Moment des Erzählens für uns wichtig erscheint. So ist es auch möglich, dass wir anderen Erinnerungen unterjubeln können, die so nie stattgefunden haben. Das passiert ständig. Eine objektive Wahrheit gibt es somit nicht, sondern nur falsche Erinnerungen.

Interessant finde ich den Beitrag zum Slow Journalism mit dem Herausgeber des deutschsprachigen "Follow Up Magazins", David Korsten. Können Sie uns dazu kurz was sagen?
Bei der redaktionellen Themenbesetzung von “39NULL” haben wir fast ein Jahr Zeit, um AutorInnen auszuwählen und mit ihnen gemeinsam am Text zu arbeiten. Diese Kapazitäten gibt es gerade im wachsenden und tagesaktuellen Onlinejournalismus nicht so ausführlich, wie es manchmal wünschenswert wäre. Deswegen fanden wir ein Gespräch mit “Follow Up” spannend: Das Magazin geht immer sechs Monate zurück, um herauszufinden, was aus Themen oder ProtagonistInnen geworden ist, um mit Zeit und Recherche der extrem Schnelllebigkeit von News etwas entgegenzuhalten und Hintergründe zu beleuchten. Ein ähnliches Beispiel gibt es in Großbritannien, wo das Magazin Delayed Gratification ähnliches macht, nämlich zu entschleunigen: www.slow-journalism.com.

Wie finden Sie Ihre Mitarbeiter, z.B. Widad Nabi, eine kurdisch-syrische Lyrikerin, die über die Stolpersteine in Berlin schreibt?
Die syrische Autorin Widad Nabi ist mir durch ihre Texte in einer Berliner Tageszeitung aufgefallen, für die sie zusammen mit einer deutschen Autorin über interkulturelle Themen schreibt. Mir gefiel die Idee, wie offen sie über ihr neues Leben als Geflüchtete in Berlin schreibt, über den Kulturschock, Sprachbarrieren und Intergrationsversuche, über die Schwierigkeit, sich oftmals in dieser neuen Welt zurechtzufinden. So ist ja auch die Geschichte für “39NULL”, als sie zum ersten Mal dem Stolperstein-Projekt begegnet und sich darüber wundert, warum man mit Stolpersteinen an die Vernichtung der Juden erinnert, eine solche Geschichte des Verstehenwollens der neuen Kultur.
Eigentlich suchen wir nicht nach den AutorInnen, es ergibt sich meistens durch das Thema, wer dafür geeignet ist. Eine gezielte Recherche nach MitarbeiterInnen im klassischen Sinne gibt es eigentlich nur, wenn wir nach ExpertInnen suchen, z.B. für Interviews. 

TEIL 2, MORGEN, 31.3., SALTO WEEKEND (IN ITALIANO)