Books | Salto Weekend

Ein Werdungsroman

Der italienisch-österreichische Autor und Künstler Ivo Rossi Sief hat den Roman "Granatapfel" publiziert. Salto veröffentlicht ein Kapitel daraus und blickt ins Atelier.
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Foto: edition raetia

Sturm und Drang und Orientierungssuche

Reinhard hatte, wie gesagt, nicht eben eine hässliche Fratze und er hatte außerdem eine recht schöne röhrende Stimme. Obwohl er kaum ins Publikum zu schauen pflegte, hatte er es geschafft. Er war nun Sänger, und zwar gleich einiger Pop-&-Rock-Bands seiner Region. Doch bis auf zahlreiche Auftritte bei verschiedensten Veranstaltungen und einen Pokal, den er bei einem Studentenfestival gewann, sollte es auch dabei bleiben. Er hatte es ernst genommen, aber es sollte nicht für mehr reichen. Allerdings half ihm die Bühne zumindest dabei, seine pubertären und spätpubertären Komplexe zu überwinden oder zumindest zu kaschieren.
Reinhard wurde ein paar Jahre lang Sprachlehrer. Die Erfahrung war auf jeden Fall und vor allem für die Mittelschüler, die er unterrichtete, eine schöne. Er hatte nicht nur Beat-langes Haar, sondern in der Tat ein Talent zum Lehrer mit experimentell-alternativen Methoden. Und trotzdem träumte er weiter seinen Traum, die Zukunft war in seiner Vorstellung damals bevölkert mit Metronomen, die den Takt für sein Glück hätten schlagen sollen.
Raffinessen und Harmonien - oder harmonische Raffinessen - waren, um Bombenleger und Panikmacher zu besänftigen, noch nicht dabei. Und von solchen allgemeinen sozialen und politischen Friedhofsstimmungskatastrophen, wie Poliklinikpolitik, Sanatoriumswirtschaft oder Machtfettleibigkeit, hatte man noch absolut keine Ahnung.

 

Versucher in der Wüste gab es nur in der Sonntagspredigt. Es gab erst einige kleine Finanzkapitalismusinitiationen und -initiativen, noch keine Schulsozialarbeiter oder Projektleiter im Ökosozialbereich. Nähe und Abstand hatten für Reinhard mit emotionaler Beteiligung zu tun. Nicht bereits mit Flucht und Waffenarsenalen.
Er übte eine möglichst nicht in die Irre führende Beziehung zum Sein und zur Notwendigkeit von Poesie und Kunst. und Magie im Leben. Was aber hätte er bis dato lernen sollen? Sich immer wieder Sorgen zu machen um die Zukunft? Prinzipiell dachte er - Verantwortung hin, Verantwortung her -, dass er sich alles verdienen würde, was das Schicksal für ihn - natürlich Positives - bereithielte.
Reinhard befand sich im zweiundzwanzigsten Lebensjahr. Um wichtige Einflüsse zu finden, begann er größere Reisen, zum Beispiel nach Holland, zu unternehmen - und hatte, als er das erste Mal in der größeren Welt draußen war, der Muse der Kreativität hinterherrannte, nach diesem ersten Ausbruch in die bewusste Selbstständigkeit weder Holland noch den unsteten Fluss der Gefühle verstanden. Dadurch diesen auch noch nicht gelernt im Zaum zu halten. Kaum zu sagen, ob diese frühen Einflüsse ein oder der Auslöser waren, dass Reinhard jedenfalls (Allgemeinbezeichnung) Künstler werden würde.
Welcher Weg aber würde ihn dorthin führen? Aufmüpfige Kunstszenen und moderne Manipulationsfähigkeiten mochte er nicht. Richtige Kunstaffären hatte er noch keine. Er war auch nicht in Wien geboren, sondern in den Bergen. Haustore zur Oper, zu Studiobühnen und zu feinen Galerien waren ihm noch unbekannt. Wie man Bekanntschaften machte, musste er erst lernen.
Reinhard wollte Verantwortung übernehmen. Welches Tun, welche Arbeit hätte für ihn Sinn gemacht? Welche Möglichkeiten der Handlungen auf dem Podest der Prioritäten beziehungsweise Dringlichkeiten? Wieder kam er zu seinem Thema, wollte es aber weiter fassen.

 

Ein scheinbar leichterer Weg war für Reinhard zunächst das Meditieren über die Fundamente des Kleingläubigen und die des, wenn auch kälteren, universellgrößeren Komplexeren. Aber kein Begriff des Großen gab ihm ausreichenden Halt, um Botschaften zur Verantwortung zu formulieren. Lauter oder leiser.
Und alles stand versteckt in den Tiefen der Lebensfalten, auch der Unsinn als solcher und somit auch das Wiesenrunterlaufen diskutierend. Oder die tiefere erd-himmelverbundene Suche (Wolken kommen und gehen) des höheren Niveaus des Geistes. Und doch: Nur Berge wissen. Berge sind absurd, auch wenn sie den Horizont erfrischend uneitel zum Zurückrufen bringen, anstatt dass der Horizont am Horizont weiter nach hinten verschwindet.
Alles also in keine Verantwortung gedrängt und getaucht? Alles ist immer verschieden(st)e Sachen zugleich.
Gute, richtige Entscheidungen treffen also. Für einen guten Auftritt oder für einen guten Anfang. Immer. In der Zeit der etwas späteren Jugend, somit des frühen Stadiums des Erwachsenseins, kam für Reinhard unweigerlich der Moment, an dem die Existenz plötzlich und unaufhaltsam drängte, eine ernste Sache zu werden. Es wurde ihm klar, dass Impulse und Filme Form annehmen mussten. In dieses Gefühl eingetaucht, hielt er von Heiligen und Huren kaum mehr etwas.
Er beschloss, dass es mitunter eine Lösung sein könnte, sich zunächst hinter einem Schatten, einer vollständigen Abdeckung - einem Sonnenschutz gar - zu verstecken. Er, der mit so vielen Talenten, mit der Feder, dem Korrekturstift und dem Pinsel, der gerne ge- und erleuchtet hätte, beschenkt zu sein sich wähnte. Antiallergisch in der Wirkung aber alles noch, allerdings. Und duftlos oft.
Reinhards innigste Neigung war es jedoch von Anbeginn, die Äpfel vom Zweig zu schütteln, überzeugt davon, sein bevorstehendes Leben überraschend und deutungsvoll gestalten zu können - um die Zukunft also nicht bangen zu müssen.
Unbeabsichtigt entdeckte er andere Vorstellungen, die erforderten, das Lernen anders zu planen. Er war also absichtsvoll, aber in gewissem Sinne noch absichtslos -mit geschlossenem Mund im Alltag, weil er immer noch nicht allzu viel zu sagen hatte.

 

Im Spiegel am Becken voll mit Morgentoilettenwasser sich geheime Kurse auf dem Lebensmeer ausdenkend, schaute Reinhard sich - der Schiedsrichter in ihm immer bereit abzupfeifen - mit Verwunderung an, weil er eine revolutionäre Reihenfolge an eintretenden Ereignissen, wirre schon, aber auch mutige in den auslösenden Entscheidungen vorausahnte. Schlüsselerlebnisse diese?
„Die Wege des Herrn sind unergründlich. Er würde den Seinen die richtigen im Schlaf zeigen." Diese Sätze hatte Reinhard gerade noch in den Seelenohren. Die Bereitschaft, an so etwas zu glauben, sich dieser scheinbar automatischen Lösung hinzugeben, war immer noch groß. Seine Straße war bis hierher mit keinerlei genauen Vorstellungen bevölkert. Er musste also weiter ... Es zog ihn fort, ein noch nicht definierbares Locken und Rufen.
Es lockten ihn Siegertreppchen. Umlaufbahnen lockten in dieser Zeit noch nicht. Er wollte als Newcomer besser sein als erwartet. Mittelmäßig angenehme Dinge reichten manchmal nicht und er wollte eine Goldmedaillenexistenz.
Reinhard peilte einen Vertrag bei einer Plattenfirma an - und zwar in München. Er nahm in einem Hochhaus im Stadtteil Giesing vorerst eine Tätigkeit als Fern-sprechanlagenplaner bei einer mächtigen Elektrofirma
Wolfgang Amadeus Mozart hatte Musik von Weltrang komponiert, Reinhard schaffte es bis zum Vorsingen bei Ariola und bei einigen anderen Plattenfirmen. Er erntete bei seinen Bemühungen im geblümten Hemd aber immer wieder nur: „Stimme schön, Sie hören dann von uns, wir schreiben Ihnen demnächst eine Antwort!"


Ein recht glitschiger Musikagent, der bestimmen wollte, was und wie Reinhard singen und wie er dabei ausschauen sollte, und ihm eine dazu passende Band vermittelte, bot ihm an einem Abend dann tatsächlich einen Vertrag an. Die Rolling Stones berieselten gerade mit ihrem Song 19th Nervous Breakdown die ganze Welt, und Reinhard baute seine Enttäuschung in einen Nervenzusammenbruch ein, bekam eine Weile Krankenstand und immerhin auch Krankengeld. Er erkannte, wie traurig es sich anfühlte, in einem Rennen Vierter zu werden, und verließ München wieder. So schnell kann es manchmal gehen. Egal wie groß der Traum einmal gewesen war.
Reinhard stürzte sich nun ins Lesen. Ja, er hatte jetzt Zeit dafür. Und er hatte ganz große Lust. Wollte er sich auf diese Weise wieder sammeln? Er las Handke, Hesse und dessen Steppenwolf. Er übte sich mit derart großer Hingabe in einer Sprache, tauchte in diese vollends ein: das Deutsche, so schwierig und so herrlich geschrieben, eine Sprache, die bis dato auf solch einem Niveau nicht die seine gewesen war. Er teilte sich zwar im breiten deutschen Dialekt der hochgelegenen Täler und Berggegenden mit und konnte seine Sachen auch auf Hochdeutsch recht passabel anbringen, aber er hatte, vom Abiturzug her, noch frisch und nachhaltig Dante Alighieri und Alessandro Manzoni in den Ohren.
Eine ganze (neue) Welt tat sich für Reinhard auf. Und herrlich, dieser Moment des Lebens, a la „Fermati, atti-mo, sei bello!" (im Faust !). Kulturbezogen fühlte sich für ihn schier alles ab diesem Zeitpunkt anders an. Muse und Drang zum Schreiben hatte er nicht, obwohl er Gefühl für Rhythmus und Musikalität mitbrachte und aufgrund seiner Songtexte schon hie und da zu hören bekam: „Warum schreiben Sie eigentlich nicht?"
„Nichts in mir ist Müll (!), alles ist langweiliges oder spannendes Sein, alles ist Werden! Keiner hätte zu urteilen, hätte von mir (!) etwas in den Müll zu befördern -von meiner Art zu sein, meinen Namen oder sonst was." Reinhard wollte ein Ziel haben, wollte sich trimmen, getrimmt sein, sich schlüssig. „Es gibt ernsthaftere Probleme", war damals auch seine Devise.

 

Ein kritisch Hinterfragender, ja ein Nörgelnder war er vielleicht, aber er war nicht grundsätzlich der Negativität verschrieben. Gedankenschwere und kummervolle Hingabe waren ihm durch die Grundstimmung in der Familie und somit die Erziehung auferlegt.
Die Suche nach der ewigen Sonntagswelt - das Schulen seines Geistes, ihm einen Schlüssel für ein gutes Zuhause gebend -, das Einsammeln der mit seelischen Abführmitteln dann doch vielleicht zu erreichenden Erleuchtung - dies waren Themen und Drang, die im Inneren sowie in den darauffolgenden Korrespondenzen Reinhards Leben in anregender Vielfalt thematisierten: Non trovero mai il modo di farmi una vita comoda e leggera - ich werde nie die Art finden, mir ein bequemes und leichtes Leben zu gestalten (nach Hermann Hesse).
Reinhard stellte sich damals vor, dass er ab genau diesem Moment ein Leben führen könnte, bei dem er nie einen Zug verpassen würde. Hoch oben auf dem Berg, Unmut verursachend, träumte er aber immer von einem Ort am Meer. Das Scheitern an etwas stur Vorgegebenem war bei ihm vorprogrammiert.

 

Was zu tun war er aber jetzt, nach der Erfahrung in München, felsenfest entschlossen? Blickwinkel in Hochglanz hatte er keine zum Greifen nah. Gattin hatte er natürlich ebenfalls keine. Aber der Vater seiner damaligen Kumpanin (ach, die erste Freundin!) hatte ein führendes Architekturbüro. Reinhard als maturierter Techniker - somit als technischer Zeichner im Metier Häuserplanen und -zeichnen - fragte dort an und bekam Arbeit. Eigentlich nur, um Geld zu verdienen. Er fand aber sofort einiges an Respekt dafür. Und er sah ein, dass nicht das Leben auf ihn zuging, sondern es andersrum zu geschehen hatte.
Leben und Bemühungen wären aber nicht von Wert gewesen, wenn Reinhard es nicht geschafft hätte, seine Niveaugrenze nach oben zu verschieben. Und es konnte ihm beim Die-richtigen-Leute-Erkennen-und-Finden auch nicht um dichterische Freiheit gehen. Durch die neue Tätigkeit kamen zwangsläufig Menschen aus dem örtlichen Turbokapitalismus an ihn heran.
Reinhard ging auf die Leute zu, die aber im Sozialleben insofern gestört waren, als ihre Seelen zerteilt und zerstückelt im Nachkriegsschmerz waren, in Blut-und-Tränen-Wannen wegen der vor nicht allzu langer Zeit zu Ende gegangenen schwarzen Kriegszeiten und der Auswanderungsnachwehen, eingetrichtert in ihrer vergorenen Kindheit. Auf jeden Fall war es ein schweres Vorhaben für Reinhard, mit seinem anders klingenden Familiennamen in der Gegend die für ihn richtigen Leute zu finden.

 

Welche Wahlmöglichkeiten boten sich ihm? Zu viele Menschen, die er um sich hatte, im Kaffeehaus, im Büro, im Bus, im Laden um die Ecke, gaben sich - wie soll man sagen? - wie Seelenanalphabeten. Er musste aus beruflichen Gründen aber unter diesen verweilen, mit dem Gebot, normal zu erscheinen, den Job gut zu machen - und auch über Frauen zu reden, darüber, wie diese zu erobern seien, und über Sport und Autos zu streiten.
Die Frage, die in ihm immer häufiger hochstieg, war, warum man Blockaden durch menschliche Filter nicht in den Geistesmüll befördern konnte, den bereits übervollen? War so was ein Problem?
Doch er machte das Beste daraus, entzog sich dieser Welt wieder, um doch in ihr zu bleiben - er zog ein Studium der Architektur in Betracht und kaufte sich ein Ticket nach Venedig.