Gesellschaft | Interview

Wenn nichts mehr hilft

Nach dem abermaligen Freispruch von der Anklage illegaler Sterbehilfe: Mina Welby über den Fall, der sie 2 Mal vor Gericht brachte, und warum sie Menschen sterben hilft.
mina welby
Foto: Associazione Luca Coscioni

Frau Welby, das Oberlandesgericht Genua hat bestätigt: Sie taten nichts Unrechtes, als Sie vor vier Jahren den sterbenswilligen Davide Trentini zu seinem Freitod in die Schweiz begleiteten. Erleichtert? 

Mina Schett Welby: Wir haben uns den Freispruch erwartet. Der Generalstaatsanwalt hat uns schon vorab Hoffnung gemacht. Aber die Gerichte - man weiß ja nie. Doch nein, Der Generalstaatsanwalt trat diesmal auf, um unsere Unschuld zu vertreten. 

Erzählen Sie Ihren Südtiroler Landsleuten noch einmal: Wie war das damals, als Sie taten, wofür der Staatsanwalt ursprünglich für Sie und Marco Cappato 3 Jahre und 4 Monate Haft forderte? 

Marco Cappato ist der Kopf unserer Vereinigung für die Legalisierung von Euthanasie. Ich bin Präsidentin. Ich helfe ja nur, so gut ich eben kann. Wir haben den sterbenskranken und sterbenswilligen Davide Trentini in die Schweiz gebracht, um seinem tiefsten Willen zu entsprechen. Das haben wir gemacht im vollen Bewusstsein, dass es nach herrschender Rechtslage verboten ist. Davide starb am 13. April 2017, und am Tag darauf haben Cappato und ich Selbstanklage bei der Staatsanwaltschaft eingereicht. 

Sie haben Trentini in die Schweiz, genauer, nach Liestal bei Basel in die dortige Sterbeklinik Lifecircle begleitet. Wie ging das? 

Ich habe Cappato angeraten, es sei besser, ich würde den Patienten begleiten, denn er mit seiner Bekanntheit würde womöglich an der Schweizer Grenze angehalten und gar nicht eingelassen. Gegen ihn wurde zu dem Zeitpunkt bereits ermittelt. 

Gott ist nicht so böse, dass er Leben so lang verlängern will, bis es unerträglich wird

Von wegen Bekanntheit, da wäre leicht mancher weniger prominente Begleiter zu finden gewesen als ausgerechnet Frau Welby. 

Gegen mich lag nichts vor. Ich war in der Sache jedenfalls nicht aktenkundig, und außerdem war es hilfreich, dass ich Deutsch kann. Ich habe die gesamte Korrespondenz zwischen Patient und der Schweizer Klinik zweisprachig dokumentiert. 

Sie sind seit Jahren Italiens Symbolfigur des Kampfes für straffreie Euthanasie. 

Wir teilen uns die Arbeit. Marco Cappato macht alles Politisch-Rechtliche, ich kümmere mich mehr um die moralische und religiöse Seite des Anliegens. Für mich ist es eine Gewissenssache. Ich habe damals über meine Mithilfe gesagt, es war „la più santa die tutte le mie settimane sante“. 

Es war die Karwoche, settimana santa

Ja, es war der 13. April 2017, Mittwoch in der Karwoche. Ich hätte an dem Tag die besondere Erwähnung Nastri d’Argento für den Film Love is all, Piergiorgio Welby, autoritratto über meinen 2006 verstorbenen Mann verliehen bekommen. Ich habe mich entschuldigen müssen und meine Schwägerin gebeten, den Preis entgegenzunehmen. 

Weil Sie mit Davide Trentini in die Schweiz fahren mussten? 

Ich bin am 11. April nach Massa gefahren, wo Davide mit seiner Familie lebte. Wir verbrachten eine schreckliche Nacht. Davide war verzerrt von Schmerzen. Schmerzmittel halfen schon lang nicht mehr. Selbst stärkste nicht. Ich redete auf ihn ein, es werde gut gehen. Die Mutter war ganz für ihn und für das, was er vorhatte. Für seine Geschwister war es hart, seinen Vorsatz anzunehmen. 

 

Und dann? 

In der Früh kam das Auto der Misericordia – die ist dort das, was in Südtirol das Weiße Kreuz ist. Sechs mal haben wir auf der Reise Halt machen müssen. Die Begleiter, zwei ausnehmend nette Krankenpfleger, wussten nicht, was wir in der Schweiz tun würden. Als sie später als Zeugen ausgefragt wurden, sagten sie, der Patient habe untersucht werden müssen.

Sie stellten sich sicher vor, worum es ging, haben es nur nicht wissen dürfen?

Wahrscheinlich war’s so.


Die heutige Medizintechnik kann das Leben verlängern, derart über alle Natürlichkeit hinaus, dass auch das als Eingriff ins Leben erachtet werden kann

Inzwischen sind wir in Basel, in der Klinik. 

Es begrüßen uns ein Arzt und eine Ärztin, Bruder und Schwester, wie sich herausstellt, sehr freundliche, sehr kompetente Leute. Sie untersuchen Davide, alle Dokumente haben wir schon vorausgeschickt, auch die Bezahlung, das ist teuer. In allem geht es um die Frage, ob Davide wirklich sterben w-i-l-l. 

Er will? 

Das ist eine strenge, eine ernsthafte Befragung. Sie können sich das nicht vorstellen. Ich war dabei und habe mir gedacht, ich könnte das nicht durchhalten. Ich würde sagen: nein! Ich will wieder heimfahren. 

Wie war die letzte Nacht? 

Man hatte uns alles so angenehm wie möglich gemacht. Die Nacht vom 12. auf den13. April, den Todestag, waren wir beisammen, die Ärztin war da bis spät, auch Freunde, die nachgekommen waren, haben mit uns die Nacht verbracht. Davide war gelassen. Er hat sich gefreut auf den nächsten Tag. 

Es kam der letzte Tag. 

Dem Patienten stehen zwei Möglichkeit zur Verfügung, sein Leben zu beenden. Denn genau genommen nimmt er sich selber das Leben. Er trinkt das Gift aus dem Becher, oder er verabreicht es sich per Flebo. Der Arzt stellt eines von beiden bereit. Er ist anwesend bis zuletzt, er hilft, er setzt aber nicht den Akt. Denn das wäre verboten, auch in der Schweiz. Davide musste eine Flebo gelegt werden. Aus dem Glas zu trinken, kam nicht in Frage. Die Hände hätten es nicht halten können. Den Knopf für die Aktivierung der Flebo musste er selber drücken. Dj Fabo, der andere unheilbar Kranke, der ebenfalls 2017 den assistierten Freitod wählte, musste den Flebo-Strang mit den Zähnen lösen, weil er mit den Händen nicht mehr fähig dazu war. 

 

Frau Welby, Sie sind Christin. Wie erklären Sie Menschen, die aus christlicher Überzeugung jede Art aktiver Sterbehilfe ablehnen, Ihr Engagement für Euthanasie? 

Ich habe Hans Küng gelesen. Sein Buch „Glücklich sterben?“, mit Fragezeichen. Glücklich sterben ist für den großen Theologen, der kürzlich gestorben ist, nicht Selbstmord, sondern menschenwürdiges Ende des Lebens. Ich bin fest dafür, dass jedes Mittel der Palliativpflege ausgeschöpft wird. Wenn aber nichts mehr hilft, gar nichts mehr, gibt’s die Möglichkeit, dem Menschen das Leiden abzukürzen. Wenn Leiden unumkehrbar ist, dann muss ich das Recht drauf haben, dass man mir zu sterben hilft. 

Wer entscheidet, wann Leiden unumkehrbar ist? 

Da halte ich es mit dem großen Arzt und Politiker Umberto Veronesi: Je bessere Palliativpflege, desto weniger Schmerzen, und je weniger Schmerzen, desto weniger will jemand sterben. 

Was antworten Sie auf die christliche Urfrage: „Alles Leben gehört Gott“?
Gott ist nicht so böse, dass er Leben so lang verlängern will, bis es unerträglich wird. Also darf der Mensch selber darüber befinden? 

Ich denke, vor 100 Jahren ist man zwar früher, aber wahrscheinlich besser gestorben. Die heutige Medizintechnik kann das Leben verlängern, derart über alle Natürlichkeit hinaus, dass auch das als Eingriff ins Leben erachtet werden kann. 

Davide starb am 13. April 2017, und am Tag darauf haben Cappato und ich Selbstanklage bei der Staatsanwaltschaft eingereicht

Wen, Frau Welby, werden Sie als nächsten in die Schweiz begleiten? 

Sie werden sich vorstellen können, ich erhalte viele Anfragen um Hilfe. Und es mag Sie wundern: Niemand von denen, die bei mir angefragt haben, ist in die Schweiz gefahren. Ich habe Sie alle in die Palliativpflege geraten. Einige leben noch, einige Hinterbliebene haben sich bedankt. 

Dafür würde reichen, dass sie zum Hausarzt gehen. 

Oh, lang nicht immer. Wenn der Hausarzt sich nicht drauf einlässt, sag ich den Leuten: wechselt den Hausarzt! 

Ist oft auch leichter gesagt als getan. 

Möglich. Aber lassen Sie es sich von mir sagen: Sie haben ein gutes Palliativ-Angebot. In Südtirol wird heute besser gepflegt als in ganz Italien. Es geht aber aufwärts. Wie überall, Palliativpflege hängt von den Personen ab.

 

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Sepp.Bacher Sa., 01.05.2021 - 15:53

"Ich denke, vor 100 Jahren ist man zwar früher, aber wahrscheinlich besser gestorben. Die heutige Medizintechnik kann das Leben verlängern, derart über alle Natürlichkeit hinaus, dass auch das als Eingriff ins Leben erachtet werden kann."
Gerade weil das menschliche Alter durch die Fortschritte der Medizin um so viel verlängert wird, sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, bei Bedarfs das Leben auf eigenen Wunsch durch aktive Sterbehilfe beenden zu dürfen. Italien muss ein diesbezügliches Gesetz erst noch verabschieden.
Wenn man bedenkt, welche Konsequenzen die Überalterung für die Gesellschaft, für das Gesundheitswesen und die Pflege hat - man denke an das Dahinsiechen mit Demenz und anderen chronischen Krankheiten einerseits oder die Überforderung der Rentenkasse - , dann ist eine diesbezügliche gesetzliche Regelung dringend notwendig.

Sa., 01.05.2021 - 15:53 Permalink
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Peter Gasser Sa., 01.05.2021 - 15:59

Antwort auf von Sepp.Bacher

Es steht oben: „
Wenn man bedenkt, welche Konsequenzen die Überalterung für die Gesellschaft, für das Gesundheitswesen und die Pflege hat - man denke an das Dahinsiechen mit Demenz und anderen chronischen Krankheiten einerseits oder die Überforderung der Rentenkasse - , dann ist eine diesbezügliche gesetzliche Regelung dringend notwendig“:
ich finde, nicht der finanzielle Aspekt, sondern einzig und allein der Wunsch&Wille des Betroffenen - oder in dessen Vertretung des Beauftragten - soll entscheidend sein.
Wer leben will, dessen Leben ist unantastbar, wer sterben will, dessen Wunsch (und Recht) nach einem würdevollen Tod soll respektiert und erfüllt werden.

Sa., 01.05.2021 - 15:59 Permalink