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Weiß-rote Gefühle

Der FC Südtirol hat nicht nur sportliche Erfolge zu verbuchen. Abseits des Rasens schafft der Verein ein seltenes Gemeinschaftsgefühl zwischen den Sprachgruppen.
FC Südtirol
Foto: Bordoni-FCS

Nach 97 Minuten war die Sensation perfekt. Vorigen Sonntag, am 24. April 2022, hat sich der FC Südtirol mit einem 2:0-Auswärtssieg über Triestina in die zweithöchste Fußballliga Italiens gekickt. Der Meisterschaftsgewinn und Aufstieg in die Serie B ist aus sportlicher Sicht ein historisches Ereignis. Nach einer überragenden Saison mit 27 Siegen, neun Unentschieden und zwei Niederlagen ist Südtirol erstmals zweitklassig. Der FCS gilt aktuell als einer der formstärksten aller ersten bis dritten Ligen – weltweit. Der Erfolg des einzigen Südtiroler Proficlubs aber beschränkt sich nicht auf das Spielfeld. Die Mannschaft hat abseits des Rasens etwas geschaffen, woran Lokalpolitiker bislang gescheitert sind: ein echtes Gemeinschaftsgefühl zwischen der deutschen und italienischen Sprachgruppe in der Autonomen Provinz.

 

Die Rolle der Sprache

 

“Als was fühlst du dich? Bist Du Italiener? Österreicher? Deutscher?” Diese Frage hören Südtirolerinnen und Südtiroler im Ausland, aber auch im restlichen Italien bis heute immer wieder. Wer in Südtirol ansässig ist, von dem wird verlangt, sich offiziell als einer der drei Sprachgruppen zugehörig zu erklären. Die Fanszene des FC Südtirol kennt dagegen nur eine Sprache: die des Fußballs. Die grün-weiß-rote Nationalflagge, die bei sportlichen Anlässen gerne vom italienischen Publikum mitgebracht wird, sucht man in der FCS-Kurve vergeblich. Die wird von Weiß und Rot beherrscht, den Vereins- und Landesfarben von Südtirol. So auch beim letzten Heimspiel am 16. April gegen Padova (das 0:0 endete). Rund 4.000 Fans aus dem italienisch dominierten Bozen und dem überwiegend deutschsprachigen Rest des Landes feuern ihre Mannschaft an. Bei aufregenden Szenen wird gemeinsam aufgesprungen, geflucht – das können alle Südtiroler am besten auf Italienisch – und eifrig diskutiert. Wenn sich der Nachbar auf der Tribüne dabei nicht perfekt in der Sprache des anderen auszudrücken weiß, stört das niemanden. “Man versteht sich automatisch, einfach deshalb, weil wir denselben Verein unterstützen”, lacht ein treuer Fan. Vereinzelt gibt es “Alto-Adige”-Sprechchöre. Beim FCS hat man den Namen, den die italienischen Faschisten der Provinz gegeben haben, 2016 aus Wappen und Namen entfernt. Dennoch berichteten nationale Sportmedien lange Zeit über den “Alto-Adige” und nicht den FC Südtirol.

 

Auch mehr als hundert Jahre bei Italien und 50 Jahre nach Verabschiedung des Zweiten Autonomiestatuts 1972 bestimmt in Südtirol in vielen Bereichen eine Politik des Trennens den Alltag. Zurecht, wie Landeshauptmann Arno Kompatscher meint. Seine Partei, die Südtiroler Volkspartei (SVP) regiert seit 1948 ununterbrochen und versteht sich als Vertretung der deutschen und ladinischen Minderheit im Land. Nicht aber der italienischen Bevölkerung. “Südtirols Autonomie dient dazu, die deutsch- und die ladinischsprachige Minderheit in Italien zu schützen und ein friedliches Miteinander der drei Sprachgruppen und Kulturen zu ermöglichen”, erklärt Kompatscher.
Das Miteinander aber ist oft ein Nebeneinander. So existieren weiterhin drei Bildungssysteme, drei Kulturressorts – eines für jede Sprachgruppe.

Beim FC Südtirol gibt es diese gewollte Separation nicht. Sponsoren und Management sind hauptsächlich deutschsprachig. Im Team wird vorwiegend italienisch gesprochen – eine pragmatische Lösung, weil Trainer und viele der Spieler, die von auswärts kommen, kein Deutsch können. Ethnische Fragen stellen sich nicht. “Sprache oder wo jemand herkommt spielt bei uns null Rolle”, betont Teamkapitän Hannes Fink. “Es gibt andere Punkte, die viel schwieriger zu bewältigen sind.” Etwa der mentale Druck vor der alles entscheidenden letzten Partie, um sich den Aufstieg zu sichern. Fink kickt seit 2002 für die Weiß-Roten und ist mit 32 Jahren der dienstälteste FCS-Spieler. “Der Druck vor dem Spiel gegen Triestina war groß, aber wir wussten, dass wir es gewinnen können.” Ein Sieg bedeutete den direkten Aufstieg des langjährigen Drittligisten in die zweite Liga und damit ungleich geballtes internationales Interesse von Sponsoren und Medien.
Ein Doppelpack von Daniele Casiraghi in der 41. und 64. Minute besiegelte schließlich den Höhenflug. Der Weg dorthin wurde jahrelang sorgfältig geebnet. 

 

Wegbereiter, der zusammenführt

 

Einer der Väter des Aufstiegs ist der Klausner Walter Baumgartner. Unter seiner Ägide als Präsident wuchs der 1995 gegründete FCS zu einem Vorzeigeverein heran. Die Heimstätte, das Drusus-Stadion in der Landeshauptstadt Bozen, wurde um 18 Millionen Euro renoviert und Serie-B-fit gemacht. Rechtzeitig zum Auftakt der Meisterschaft 2021/22 präsentierte sich das Stadion mit 5.539 Sitzplätzen – und entpuppte sich als Festung. Kein einziges Spiel hat der FC Südtirol heuer daheim verloren. Bereits 2018 war das hochmoderne Trainingszentrum in der Sportzone Rungg bei Eppan in Betrieb gegangen. Dort hat sich im selben Jahr die Deutsche Nationalelf mit Trainer Joachim Löw auf die Fußball-WM in Russland vorbereitet – mit bekanntlich mäßigem Erfolg.

Walter Baumgartner setzte voll auf die Nachwuchsarbeit und glaubte stets an den Aufstieg. Er gilt als integrative Figur. Eines seiner großen Ziele sieht Baumgartner heute erreicht: “Der FC Südtirol verbindet.” Das zeigt sich im Drusus-Stadion. “Wenn ich in Bozen in eine Bar in einem italienischen Viertel gehe, fühle ich mich fremd”, gesteht ein junger Fan deutscher Muttersprache. “Aber hier auf der Tribüne trennt uns absolut nichts.” Längst gibt es zwei Stadionsprecher, Gäste und Publikum werden auf deutsch und italienisch begrüßt, das Match zweisprachig kommentiert.

 

Das Hinspiel gegen Mantua brachte dem FCS am 24. Oktober 2021 die Tabellenführung, die er bis zuletzt nicht mehr hergeben sollte. Es war Walter Baumgartners letzte Partie als Präsident. Nach knapp 13 Jahren zog sich der 65-Jährige von der Vereinsspitze zurück. Neuer Präsident wurde Gerhard Comper, Lebensgefährte von Celina von Mannstein, der Eignerin der größten Südtiroler Privatbrauerei FORST. Zugleich übernahm die FORST ein knappes Drittel der Anteile am Unternehmen “Fußballclub Südtirol GmbH”.

Sportdirektor Paolo Bravo und Trainer Ivan Javorčić bewiesen eine gute Hand. Für den 43-jährigen Kroaten war es die erste Saison als FCS-Coach. Er beendet sie mit neuen Rekorden. Die Weiß-Roten blieben ganze 1.090 Minuten ohne Gegentor. In den 38 Spielen kassierten sie nur neun Gegentreffer und stellten damit die italienische Drittliga-Bestmarke von 1971 ein.

 

“Altoveronesi” war gestern

 

“Der FC Südtirol wirkt als Inkarnation der Region und verkörpert ein wenig auch die Geschichte der Provinz: aus schwierigen Anfängen hinauf in einen unerwarteten Höhenflug”, meint Hans Heiss, Historiker und für 15 Jahre Landtagsabgeordneter der Grünen, die sich als interethnische Partei seit jeher für mehr Brücken zwischen den Sprachgruppen einsetzen. Heiss sieht im Durchmarsch in die Serie B “ein postnationales Ausrufezeichen” und “einen Ankerpunkt für das Zusammenleben der Sprachgruppen”. Nach dem Meisterschaftsgewinn posiert die gesamte Mannschaft im selben Trikot, um den Aufstieg in die Serie B zu feiern. Es ist bedruckt mit zwei Sprüchen – “RoBe da matti” und “Net zu glaBn” –, die sich B teilen und so viel wie “Reiner Wahnsinn” und “Nicht zu glauben” auf italienisch und im Südtiroler Dialekt bedeuten. 

Landeshauptmann und Sportlandesrat Arno Kompatscher erkennt im FC Südtirol – “ähnlich wie beim HCB-Südtirol im Eishockey” – “eine identitätsstiftende Plattform und Projektionsfläche, nicht im Sinne einer nationalen Zugehörigkeit, sondern eines 'Autonomie-Patriotismus' nach Habermas”. Gleichzeitig sei der Fußballclub “mit dem in Italien exotisch wirkenden Namen ein Aushängeschild und Vehikel, um auf die Besonderheit des Landes hinzuweisen, die nicht alle Italiener hinreichend kennen”.
Diese Mission sieht Walter Baumgartner als erfolgreich abgehakt. Heute schreiben Sportjournalisten nicht mehr über den “Alto Adige”, die “trentini” oder “altoveronesi”, sondern den FC Südtirol. “Es war ein hartes Stück Arbeit, aber der Name und die Marke FC Südtirol werden auf gesamtstaatlicher Ebene inzwischen nicht nur respektiert, sondern auch mit der Eigenart dieses Landes und der Lebensart hier in Verbindung gebracht”, sagt Baumgartner stolz. Umgekehrt haben ihn selbst die 13 Jahre an der Vereinsspitze und als Funktionär in hohen Gremien des italienischen Fußballs bereichert – auch in seiner politischen Arbeit. 13 Jahre saß Baumgartner für die SVP im Südtiroler Landtag, die meiste Zeit als Fraktionssprecher. “Ich habe Italien aus einer unbekannten Perspektive kennengelernt und verstehe es ein bisschen besser als zuvor.”

 

Für einige der Gegner, die nun in der Serie B warten, ist Südtirol keine Unbekannte. Der Ex-Serie-A-Club Parma mit Torwart-Legende Gianluigi Buffon hat 2021 ein Trainingslager in Kastelruth absolviert. Und der neue Eigentümer des AC Monza, der italienische Medienmogul und vorbestrafte Ex-Premierminister Silvio Berlusconi, ist ein langjähriger Kurgast in Meran. Der FC Südtirol steht nun vor neuen Herausforderungen und Aufgaben, die Geschäftsführer Dietmar Pfeifer “mit Bodenständigkeit und Respekt” angehen will. “Für uns als Spieler ändert sich nicht wirklich grundlegend etwas”, sagt Kapitän Hannes Fink. “Das Niveau der Spiele wird höher, längere Auswärtstransfers kommen auf uns zu, aber trainiert wird gleich.” Wichtig ist Fink, “dass wir als Team funktionieren”. Der Wunsch gilt genauso für seine Heimat, in der ein selbstverständliches Miteinander und Verständnis der Sprachgruppen ein Ziel bleiben. Nationaler Streit hingegen – die Lektion hat Südtirol gelernt – endet stets mit einem Eigentor.

 

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Manfred Klotz Mo., 02.05.2022 - 07:44

Zwei Anmerkungen: Das "Gemeinschaftsgefühl zwischen den Sprachgruppen" ist eigentlich in jedem Sportverein, der in einem zweisprachigen Umfeld agiert (also hauptsächlich in den Städten) ganz normal, nicht nur beim FCS. Das "Gemeinschaftsgefühl zwischen den Sprachgruppen" ist auch abseites des Rasens gar nicht so selten, wie es im Lead behauptet wird.

Mo., 02.05.2022 - 07:44 Permalink