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The Killing Of A Sacred Deer

Die Abwandlung eines griechischen Mythos wird unter der Hand eines eigenwilligen Regisseurs zum Paradebeispiel der Kinomanipulation.
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Foto: Filmclub

Yorgos Lanthimos heißt der Gewinner des Drehbuchpreises der Filmfestspiele von Cannes aus dem Jahr 2017. Nach dem Überraschungserfolg "The Lobster" (2015) kehrt er nun mit seinem neuesten Streich auf die Leinwände zurück. Und dass er es mit diesem Film bitter ernst meint, wird von Sekunde Eins an klargemacht. Zu "Jesus Christus schwebt am Kreuzel" von Franz Schubert sehen wir ein menschliches Herz in Großaufnahme. Unter der fachmännischen Aufsicht des Chirurgen schwebt auch die Kamera langsam nach oben. Der Arzt Steven Murphy ist Lanthimos Protagonist, gespielt von Colin Farrell, der bereits zum zweiten Mal mit dem Regisseur arbeitet. Steven führt ein geruhsames Leben mit seiner Frau Anna (Nicole Kidman) und seinen beiden Kindern.

Psychothriller im Hochglanzlook, ein Drama, welches die Frage nach Schuld und Sühne stellt.

Doch dann gibt es noch den 16-jährigen Martin, ein psychisch labiler Junge, dessen Vater unter der ärztlichen Aufsicht des Herzchirurgen Steven gestorben ist. Seit dem tragischen Unfall treffen sich Arzt und Halbwaise regelmäßig, Martin sieht in Steven einen Ersatzvater. Als der den immer penetranter werdenden Annäherungsversuchen irgendwann Konter entgegensetzt, verlassen die Ereignisse den fruchtlosen Boden des Realismus. Lanthimos hetzt seinen Figuren einen Fluch auf den Hals. Es beginnt ganz langsam, Stevens kleiner Sohn kann eines Morgens seine Beine nicht mehr bewegen, doch irgendwann wird es schlimmer, er verweigert jegliches Essen. Ein Prozess, der langsam aber sicher in den Tod führt. Die subtilen Drohungen des gekränkten Martin lassen Steven keine Ruhe. Ob der Junge tatsächlich etwas mit den unerklärlichen Symptomen zu tun hat, eben so, wie er es behauptet? Der Titel lässt den Bezug zur griechischen Mythologie bereits erahnen, und tatsächlich orientiert sich die Geschichte in groben Zügen am Mythos der Iphigenia nach Euripides. Die Kurzform: König Agamemnon tötete den heiligen Hirsch der Göttin Artemis und musste im Gegenzug seine eigene Tochter opfern. Erst dann konnte er und seine Flotte die Fahrt nach Troja fortsetzen. Den heiligen Hirsch, so viel sei gesagt, gibt es auch im Film, und wer an dieser Stelle wen opfern muss, wird spätestens bei der Sichtung des Films deutlich.

Was als kühle Familiengeschichte beginnt, wandelt sich innerhalb von Sekunden in einen eiskalten Rache-Thriller. Viel mehr sei zur Geschichte nicht gesagt, denn sie lebt von der Spannung, die in jeder einzelnen Szene über den Köpfen der Figuren schwebt. Die Dialoge regen dabei immer wieder zum Stirnrunzeln an. Hier sprechen Kinder frei über Menstruation, Morddrohungen werden am helllichten Tag bei einer Tasse Kaffee ausgesprochen, und der Grad der Körperbehaarung bekommt eine ganz neue Bedeutung. Wer die andersartigen und oft unrealistisch anmutenden Dialoge jedoch mit schlechtem schreiberischen Können verwechselt, verkennt die Fähigkeiten von Lanthimos, irreale Geschichten in realen Umgebungen effektiv zu erzählen.

Beide Varianten der fantastischen Kameraarbeit sorgen dafür, dass die Figuren stets klein und ohne Macht über die Situation bleiben.

Dabei verhält sich die Inszenierung des Regisseurs wie das Skalpell des Herzchirurgen. Präzise und ohne Zögern werden Bilder und Situationen konstruiert, die Charaktere wie Schachfiguren nach und nach in Position gebracht, nur um das Boot, in dem sie alle sitzen, langsam auf den Abgrund zusteuern zu lassen. Die Kamera beobachtet das Geschehen dabei einerseits anhand sich intensivierender und quälend langsamer Zooms, die immer ein Ziel verfolgen und nie zufällig sind. Im Wechselspiel sehen wir extreme Totalen, Weitwinkelaufnahmen. Beide Varianten der fantastischen Kameraarbeit sorgen dafür, dass die Figuren stets klein und ohne Macht über die Situation bleiben. Sie stehen selten im Fokus des Bildes, vielmehr agiert auch die Kamera unter der Macht des Fluches, und der göttlichen Kraft, die dahinter steckt. Gepaart mit der pointiert eingesetzten, verstörenden Geräuschkulisse sorgt der Film das ein oder andere Mal für rasende Herzen und erzeugt ein wunderbar unangenehmes Gefühl. "The Killing of a Sacred Deer" möchte keinen Wohlfühlpreis gewinnen. Zum Glück, muss man sagen, denn sonst würde viel von seiner Wirkung verloren gehen. Die Kombination aus Krankenhaus und der eigenwilligen audiovisuellen Umsetzung bei surrealer Geschichte weckt nicht zuletzt Erinnerungen an Lars von Triers TV-Ausflug "Hospital der Geister". Und wenn Lanthimos am Ende sogar Hanekes "Funny Games" zitiert, wird der eine oder andere Zuschauer schlucken müssen.

"The Killing of a Sacred Deer" ist sicherlich kein Horrorfilm, vielmehr ein Psychothriller im Hochglanzlook, ein Drama, welches die Frage nach Schuld und Sühne stellt. Nichts für Zartbesaitete, aber für all jene, die erzählerisch anspruchsvolle, eigenwillige und vollendete Filmkunst erleben wollen. Unbedingte Empfehlung!