Kultur | Interview

Die rote Linie

Wie nachhaltig ist die zunehmende Digitalisierung unserer Welt? Bei den Toblacher Gesprächen eröffnet Tilman Santarius* eine längst überfällige Diskussion.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
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Foto: ©Santarius

Herr Santarius, wir bewegen uns in heute in einer smarten Welt, in der immer mehr Bereiche der Wirtschaft, aber auch unseres Alltagslebens digitalisiert sind und somit vielfach effizienter werden. Leben wir dadurch auch nachhaltiger?
Tilman Santarius
: Darauf gibt es keine pauschale Antwort. Denn die Digitalisierung bringt uns einige große Chancen für mehr Nachhaltigkeit, sie birgt aber auch große Risiken. Deshalb widme ich mich in Toblach auch der Frage, wo die rote Linie zwischen diesen beiden Polen verläuft. Denn solange wir nicht wissen, wie Nachhaltigkeit und Digitalisierung zusammenhängen, solange wir nicht eine gesellschaftliche Debatte zu diesem Thema starten, können wir die Digitalisierung auch nicht zu einem Motor für eine nachhaltige Entwicklung machen.

 

Und bislang fehlt diese Debatte, gibt es zu wenig Wissen über diese Zusammenhänge?
Absolut. Diese Debatte steckt noch in den Kinderschuhen. Wir müssen nur die Zeitungen aufschlagen, die sind voll mit Themen wie künstliche Intelligenz, Roboter, Big Data oder selbstfahrenden Autos. Doch der Nachhaltigkeitsaspekt wird bisher kaum mitgedacht. Das heißt, wir brauchen erst einmal eine Debatte, um dann politische Steuerungsmaßnahmen, aber auch Verpflichtungen von Unternehmensseite aus zu ermöglichen – in Richtung einer nachhaltigen digitalen Entwicklung.

 

Dann steigen wir gleich einmal in die Debatte ein: Wo bringt die Digitalisierung Risiken für ein ressourcenschonenderes Wirtschafts- und Lebensmodell?
Wir können zum Beispiel beim ökologischen Fußabdruck der ganzen Geräte beginnen, mit denen wir uns umgeben. Von Handys und Tablets bis hin zu Server Parks und Datenzentren. Wo kommen die Materialien her, wie energie- und ressourcenintensiv ist ihre Produktion – und was passiert am Ende mit den über 42 Millionen Tonnen Elektroschrott, die jedes Jahr weltweit anfallen? Das entspricht in etwa dem Volumen, das sich ergeben würde, wenn wir sämtliche Autos in Deutschland auf einem Haufen verschrotten würden. Und diese Menge nimmt rapide zu. 2020 sollen es bereits 52 Millionen Tonnen sein.

 

Gleichzeitig ermöglichen uns unsere Smartphones aber auch, Zeit und Ressourcen zu sparen – indem wir online shoppen statt mit dem Auto ins Einkaufszentrum zu fahren, indem wir dank  Google Maps schneller von A nach B kommen, indem wir Informationen in Sekundenschnelle zu erhalten, statt sie langwierig in Lexika oder über telefonische Recherchen zu suchen.
Natürlich. Diese Liste können wir endlos fortsetzen – bis hin zur Industrie, die ihre Produktivität und Effizienz durch die Automatisierung von Prozessen steigert. Das klingt alles sehr gut, und die Digitalisierung bringt uns tatsächlich tolle Chancen, um Zeit, Kosten und Ressourcen zu sparen. Doch was mich interessiert, ist genauer hinzusehen, was wir daraus machen. Nutzen wir die 10 Minuten Zeitersparnis, die uns Google Maps bringt, um mit dem Auto noch eine Runde zu machen oder noch shoppen zu gehen? Oder frisst zum Beispiel die Tatsache, dass ich heute über mein Smartphone 24 Stunden lang Zugang zum größten Einkaufszentrum der Welt habe, den kleinen Vorteil auf, dass es zu einer gewissen Bündelung von Lieferverkehren kommt, wenn nicht mehr jeder mit dem Auto einkauft, sondern sich Waren mit dem Laster liefern lässt? Wir sprechen hier von den Rebound-Effekten der Digitalisierung.

 

Sprich, die Effizienzsteigerung heizt auch die Nachfrage an?
Ja, und dadurch verpuffen in der Praxis in vielen Bereichen die Einsparungen, die theoretisch durch die Digitalisierung erreicht werden könnten.

 

Gerade im Konsumbereich haben neue Apps oder Internet-Plattformen aber auch ressourcenschonende Trends wie die Share Economy gebracht. Wir können dank Internet weit besser gebrauchte Güter finden oder verkaufen statt sie einfach wegzuwerfen als früher....
Hier sehe ich große Chancen. Dazu zählt auch der Trend des Prosumers: Wir schrauben uns heute Photovoltaikanlagen aufs Dach und speisen den überschüssigen Strom ins Netz bzw. verkaufen ihn an den Nachbarn. Das sind alles tolle Entwicklungen, die aus ökologischer Sicht viel Potential haben. Aber leider verharren die nach wie vor in der Nische. Wenn wir uns also fragen, ob die Digitalisierung bisher in unseren westlichen Ländern dazu beigetragen hat, das nicht-nachhaltige Konsumniveau zu senken, lautet die Antwort derzeit leider ganz klar: Nein.

 

Vielmehr steigert sie unser Konsumniveau noch weiter?
Das, was derzeit im großen Stil im Bereich E-Commerce und Online-Shopping passiert, auch durch personalisierte Werbung, durch personalisierte Preise, heizt den Konsum weiter an. Das heißt, wir sollten uns in allen Bereichen vor Augen führen, ob die tollen Einsparmöglichkeiten, die uns die Digitalisierung verspricht, tatsächlich erreicht werden oder durch solche Rebound-Effekte aufgefressen werden.

 

Sehen wir uns das anhand eines Kernthemas in der Nachhaltigkeitsdiskussion an: dem Verkehr. Welche Probleme kann die Digitalisierung hier lösen?
Die Digitalisierung des öffentlichen Verkehrs birgt große Chancen für Nachhaltigkeit. Sie kann uns zum Beispiel helfen, ein Problem lösen, an dem wir in umweltpolitischen Kreisen seit Jahrzehnten dran sind: Der Frage, wie der Modal Split, also die Nutzung verschiedener Verkehrsträger so umgestaltet werden kann, dass öffentliche Verkehrsträger gegenüber dem Auto gewinnen. Hier kann nun einiges in Bewegung gesetzt werden.

 

Was zum Beispiel?
Mithilfe verschiedener Apps erhalten wir schon heute phantastische Informationen, wie wir z.B. U-Bahn, Straßenbahn, Leihfahrräder, Car-Sharing intelligent miteinander vernetzen können, um möglichst schnell von A nach B zu kommen. Nun muss es im nächsten Schritt darum gehen, Plattformen zu entwickeln, über die es uns möglich wird, mit einem Ticket all diese Verkehrsträger on the go durchzubuchen. Je einfacher und komfortabler das wird, desto höher werden die Chancen, damit den motorisierten Individualverkehr auszustechen.

 

Der allerdings auch nicht stehen bleibt, wenn wir uns all die Versprechungen vom selbstfahrenden Auto vor Augen führen...
Genau, und hier liegt wiederum ein Risiko der Digitalisierung im Verkehrsbereich. Vielleicht können selbstfahrende Mini-Busse, die in Städten oder auch auf dem Land die Fahrten übernehmen, die nicht nur durch öffentliche Massenverkehrsmittel bestritten werden können, einen gewissen ökologischen Vorteil bringen. Aber darüber hinaus geht das ganze Thema selbstfahrende Autos für Privatmenschen, aber auch selbstfahrende Taxis, so genannte Robo-Taxis, mit dem hohen Risiko einher, dass das Verkehrsaufkommen auf der Straße noch steigen wird.

 

Warum?
Aus verschiedenen Gründen. Zum einen wird Autofahren noch bequemer, wenn man sich herumkutschieren lässt – beispielsweise, wenn man sich von einem selbstfahrenden Taxi zu Hause abholen lässt.

 

Dann verlieren öffentliche Verkehrsmittel trotz innovativer Apps wieder schnell an Appeal....
Das ist die Gefahr. Außerdem besteht das Risiko, dass Menschen sich zwischen zwei Terminen im Auto rumkutschieren lassen, während sie bequem einen Film schauen oder im Internet surfen können. Und dann dürfen wir auch nicht die Öko-Bilanz selbstfahrender Autos außer Acht lassen. Da geht es dann nicht mehr nur um die Herstellung der Karossiere, den Spritverbrauch oder den Energieverbrauch des Elektromotors. Wir müssen uns auch den Datenverbrauch vor Augen führen, den die Technologie solcher Autos erfordert. Schätzungen gehen davon aus, dass ein selbstfahrendes Auto bis zu 4000 Gigabyte Daten am Tag umsetzt. Das würde bedeuten, dass eine Million solcher Fahrzeuge so viele Daten generieren wie heute die 3 Milliarden Menschen, die im Netz unterwegs sind.

 

Was bedeutet das also?
Für mich bringt das in erster Line die Frage mit sich, ob wir aus ökologischer Sicht wirklich selbstfahrende Autos für private  Zwecke brauchen. Können wir es uns überhaupt leisten, dass der Straßenverkehr noch weiter steigt, ökologisch intensive Infrastrukturen aufgebaut werden und der Nahverkehr noch stärker als heute bedroht wird, den Kürzeren zu ziehen?

 

Genau deshalb braucht es eine  gesellschaftliche Debatte und politische Lenkung. Ist sich die Politik dessen überhaupt bewusst?
Derzeit noch kaum. Ich bin zu diesem Thema mit dem deutschen Umweltministerium im Gespräch und war auch im Bundesumweltamt in Wien. Dort fangen sie jetzt an, sich über eine transformative Digitalpolitik Gedanken zu machen.  Das heißt, der Gesetzgeber hängt in diesen Fragen hinten nach. Doch er ist nicht der einzige. Auch wenn man sich die Wissenschaft ansieht oder Umwelt-NGOs wie WWF oder Greenpeace - die sind alle noch nicht ausreichend und zufriedenstellend in die Debatte eingestiegen.

 

Wann sind Sie dagegen in das Thema eingestiegen?
Auch erst vor etwas mehr als einem Jahr. Ich arbeite in einem interdisziplinären Forschungsteam in der Technischen Universität Berlin und dem Institut für ökologische Wirtschaftsforschung in Berlin, und wir binden dabei Praxispartner aus Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft ein. Derzeit stellen wir ein Sachbuch fertig, mit dem wir die öffentliche Debatte über Digitalisierung und Nachhaltigkeit noch stärker ins Rollen bringen wollen. Damit wir nicht blind von der nächsten Welle der Digitalisierung unserer Lebenswelten eingeholt werden, ohne zu wissen, ob das aus ökologischer Sicht nützlich ist oder in die bestehende Umweltkrise eher noch verschärfen wird. „Digitalisierung first, Bedenken second“, wie die FDP-Partei im deutschen Wahlkampf gefordert hat, halte ich für kein gutes Motto. Wir sollten stärker darüber nachdenken: Welche Form der Digitalisierung wollen wir?

 

Tilman Santarius hält Vorträge und ist wissenschaftlicher Autor zu den Themen Klimapolitik, Handelspolitik, nachhaltiges Wirtschaften, globale Gerechtigkeit und digitale Transformation. Seit 2016 leitet er eine Forschungsgruppe zum Thema “Digitalisierung und sozial-ökologische Transformation” an der Technischen Universität Berlin und dem Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW). Diesem Thema widmet er sich auch Samstag den 30. September um 11:30 Uhr bei den Tobalcher Gesprächen - in einem Vortrag zum Thema: "Digitalisierung und Nachhaltigkeit: Wo verläuft die rote Linie“.

 

Weitere Infos: www.santarius.de