Kultur | Salto Afternoon

Kunst auf der parabolischen Bahn

Marcello Farabegoli erforscht die Wechselwirkung zwischen Ästhetik und Physik.
Carmine
Foto: Ben G. Fodor

Der Betrachter verändert das Kunstwerk, so viel steht spätestens seit John Berger fest. Ein zeitgenössisches Update: Der Kurator verändert das Kunstwerk. Während manch ein Betrachter sich vor einem Kunstwerk mit einer rein visuell-ästhetischen Leseart begnügt, stößt ein anderer lieber auf inhaltliche Referenzen, die zu neuen Anhaltspunkten führen. Ob ästhetisch, historisch oder politisch; der Zugang zu einem Kunstwerk liegt im Ermessen des Betrachters. Besonders schwierig wird es dann, wenn das Werk selbst interdisziplinäre Ansätze bietet und – ob vom Künstler beabsichtigt oder nicht - über die Grenzen der Kunstwelt hinausblickt und in anderer Forschungsgebiete eindringt. Wer nicht zufällig Experte in jenem Gebiet ist, mag sich schwer tun einen Zugang zu solchen Werken zu finden. Und hier kommt der Kurator ins Spiel: Er ist es, der das Werk in einen bestimmten Kontext setzt.

Der in Bozen aufgewachsene Kurator Marcello Farabegoli ist einer jener Kuratoren, die interdisziplinäre Kontexte kreieren. Der gelernte Pianist, der Quantumphysik studiert und eine Galerie in Berlin geleitet hat, nimmt bei seiner derzeitigen Ausstellung CARMINE im ARCC.art Open Space im Rahmen der Vienna Art Week in Wien, die Physik als einen Zugang zur Kunst und erforscht die Wechselwirkung zwischen Physik und Ästhetik in den Werken des in Ungarn geborenen und in Wien lebenden Künstlers Ben Gyula Fodor. Gezeigt werden Licht- und Fotoinstallationen, langzeitbelichtete Aufnahmen von sich bewegenden Laserstrahlen. Es handelt sich hierbei um eine ästhetische Forschung des Lasers, der schon allein deshalb fasziniert, weil er selbst intersektional agiert und in den unterschiedlichsten Bereichen, vom Labor über die Medizin bis in die Disko, Anwendung findet.

Der Laser ist eine Umkehrung der natürlichen Verhältnisse: in ihm wird Licht künstlich stimuliert und zu einem Strahl gebündelt, was es wohl zum einzigen Licht macht, das keinen Schein wirft. Die Fotos dokumentieren die Reise der immateriellen Lichtspuren des roten Lasers in der Dunkelheit. Die stark symbolisch konnotierte Farbe ruft ein mystisches Gesamtbild hervor, das durch die Lichtdurchlässigkeit der frei im Raum hängenden Bilder verstärkt wird und den Ausstellungsraum vor allem am Abend in eine besondere Atmosphäre hüllt.

In vollem Bewusstsein, dass eine Mystifizierung der Naturwissenschaft schädlich oder gar gefährlich ist, erinnert uns die sakrale Atmosphäre daran, dass das letzte Ziel der Naturwissenschaft ebenso wie das der Kunst die großen existentiellen Fragen nach dem Leben und Tod sind. Möglicherweise ist es gerade eine der wichtigen Aufgaben der Künstler, die Naturwissenschaftler auf diesen ‚transzendenten‘ Aspekt ihres Tuns hin zu ‚besinnen‘.“ (Marcello Farabegoli)

Das Mystische erinnert jedoch nicht nur an etwas Sakrales, sondern vor allem auch an die abgedunkelten Laborräume, in denen man mit Lasern experimentiert, um Interferenzmuster oder andere Lichtphänomene zu erkennen. Die Atmosphäre der Ausstellung evoziert in der Hinsicht die Naturwissenschaften, insbesondere die Physik, die die Geheimnisse von Materie, Raum und Zeit lüften möchte, erklärt der Kurator.

Interessanterweise wiederspiegelt der kuratorische Aspekt der Ausstellung wortwörtlich den Aufbau eines Lasers selbst: Die Fotos sind auf entweder teilreflektierende oder spiegelnde Glasplatten gedruckt, ähnlich wie jene im Inneren eines Lasers. Auch die Hängung der drei zentralen Werke nimmt das Konzept der Physik als Kontext und Zugang auf. Farabegoli hat sie auf einer Art parabolischer Bahn positioniert, die vom Ausstellungraum aus der Galerie hinausschießt; ein Hinweis auf Fodors künstlerische Auseinandersetzung mit Innen- und Außenräumen.

Es ist ein Spiel mit Dimensionen, im physischen und physikalischen und ästhetischen Sinne. Obwohl die hauchdünnen Glasplatten keinen Raum im Bild zulassen und der Bildhintergrund an das schwarze Nichts erinnert, wird Räumlichkeit durch die Laserlichtspur angedeutet. Zwischen Oberfläche und Tiefe öffnet sich ein dritter Raum, konstruiert durch die immaterielle Architektur von Linien und Strukturen. Durch diese Entgrenzung des Bildraumes geht der Künstler Ben G. Fodor über den konventionellen zentralperspektivischen Blick von Räumlichkeit hinaus und schlägt eine metaphorische Brücke zur Gesellschaft: ein neues Raumdenken kann auch neue Horizonte erschließen:

 „Unsere aktuelle Krise ist auch eine Krise des Sehens. Bei meiner visuellen Recherche zu Utopien der Vergangenheit habe ich festgestellt, dass ihr Scheitern viel mit falschem Sehen zu tun hat. Gemeint ist nicht das naturwissenschaftlich vermessbare Sehen. Ich rede über den „Blick“, den wir auf uns und die Gesellschaft werfen, also den imaginären, auch künstlerischen Blick. Es herrscht ein Chaos, was die Erziehung des Blickes betrifft.

Als Künstler habe ich gegenüber der Gesellschaft sozusagen die berufliche Pflicht, neue Visionen und Räume zu entwerfen. Jede Generation braucht einen neuen Horizont und er muss jedes Mal visuell kreiert werden.“ (Ben G. Fodor)

Hier öffnet sich wiederum ein neuer Zugang zum Werk und Ausgangspunkt für Überlegungen. In Carmine haben Künstler und Kurator Ästhetik, Physik und Gesellschaftskritik im Namen der Kunst vereint, um einmal mehr zu beweisen, dass auch vermeintlich unterschiedliche Tätigkeitsfelder zusammenfließen und sich ergänzen können.

 

„Wenn ich eine Ausstellung plane, fühle ich mich ein wenig wie ein Musiker, ein Interpret: die Kunstwerke sind die Noten, der Ausstellungsraum das angegebene Tempo.“

(Marcello Farabegoli)