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„Wir werden das nicht akzeptieren“

Die Essensausgabe für Obdachlose am Bozner Verdiplatz wird nach der Pandemie nicht mehr öffnen. So der Beschluss der Gemeinde. Was nun? Das Interview mit Paul Tschigg.
Vinzibus
Foto: VinziBus

Paul Tschigg koordiniert seit Jahren den VinziBus, eine Lebensmitteltafel für Obdachlose. Da die Gemeinde die Benutzung der Räumlichkeiten bei der Tankstelle am Verdiplatz endgültig untersagt hat, sieht sich das Team der Südtiroler Vinzenzgemeinschaft nach neuen Strukturen und langfristigen Lösungen um. Eins ist sicher: Paul Tschigg und sein Team, werden auch im Jahr 2021 weiterkämpfen und sich für langfristige und menschenwürdige Lösungen im Bereich der Obdachlosigkeit einsetzen. Sie werden die Obdachlosen nicht vergessen und für sie da sein, so wie 2020 an jedem einzelnen Tag des Jahres.

salto.bz: Die Essensausgabe am Bozner Verdiplatz wurde „Tankstelle der Wärme“ genannt. Wie ist das zu verstehen?

Paul Tschigg: Wir, als Team der Südtiroler Vinzenzgemeinschaft, sehen unsere Aufgabe nicht nur darin, Essen, Decken und Schlafsäcke zu verteilen. Vielmehr wollen wir den Menschen das Gefühl vermitteln, dass sie respektiert und akzeptiert werden. Wir wollen einen Ort schaffen, der menschenwürdig ist, an dem sie sich wohl fühlen und austauschen können. Ein Ort mit wahrnehmbarer menschlicher Wärme. Viele der Menschen spüren jeden Tag, dass sie unerwünscht sind. Wir versuchen mit unseren Tätigkeiten auch menschliche Wärme zu vermitteln.

Gegen Ende des ersten Lockdowns hat uns die Gemeinde das Aus für die Struktur am Verdiplatz verkündet, leider ohne Alternativvorschlag.

Das Corona-Virus hat 2020 vieles verändert. Wie hat sich die Pandemie auf Eure Tätigkeiten ausgewirkt?

Nachdem wir 13 Jahre lang im Bozner Bahnhofspark im Freien Essen verteilt haben, wurde uns, nach langen Verhandlungen, ein permanenter Raum bei der alten Tankstelle am Verdiplatz zur Verfügung gestellt. Nach einer Renovierung und Restaurierung konnten wir Ende 2016 endlich die neue Struktur beziehen. In Zusammenarbeit mit den Vereinen Volontarius und der italienischen Vinzengemeinschaft haben wir jeden Abend Bedürftige mit einer warmen Mahlzeit versorgt. Der Virus hat uns im März gezwungen, die Dienste in der Struktur einzustellen und wieder nach draußen zu verlagern. Seit Februar sind wir wieder auf der Straße anzutreffen: bei Regen, Schnee und Wind. Gegen Ende des ersten Lockdowns hat uns die Gemeinde das Aus für die Struktur am Verdiplatz verkündet, leider ohne Alternativvorschlag. Als Grund wurde die danebenliegende Baustelle genannt. Für uns nicht nachvollziehbar, weil die Möglichkeit die Zufahrt zu erhalten und die Struktur weiter zu benutzen, bestanden hätte.

 

Gibt es bereits die Pläne, wie Ihr auf die Situation reagieren werdet?

Wir, als Team VinziBus, wollen eine Schließung ohne Alternative nicht einfach so akzeptieren. Unser Vorschlag ist es nun, selbst eine Struktur anzumieten und eine kleine Mensa zu eröffnen, die freundlich und menschenwürdig gestaltet ist. Wir haben die ideale Struktur bereits gefunden und der Gemeinde den Vorschlag unterbreitet. Es ist uns wichtig, dass wir für die Struktur verantwortlich, unabhängig von politischen Entscheidungen und frei in der Gestaltung unseres Angebotes sind. Unser Ziel ist es – immer ausgehend von der Zeit nach Corona –, eine langfristige Lösung für die nächsten Jahre zu schaffen. Es wäre erstrebenswert, wenn die Gemeinde Bozen uns in Form eines jährlichen Beitrages unterstützen würde. Zielführend im Bereich von Obdachlosigkeit ist es, langfristige Strukturen zu schaffen. Kurzfristige Projekte haben keine Langzeiteffekte und kosten dazu sehr viel Geld. Strukturen hingegen haben einem positiven Effekt auf die Betreuten, die Freiwilligen und die Stadt.

Es ist uns wichtig, dass wir für die Struktur verantwortlich, unabhängig von politischen Entscheidungen und frei in der Gestaltung unseres Angebots sind.

Wie sieht die Situation derzeit aus?

Seit der Pandemie müssen wir die Essensausgabe zu Mittag durchführen. Obwohl gerade abends eine warme Suppe oder ein Tee guttun würden. Derzeit sind wir an drei Standorten in Bozen anzutreffen: am Parkplatz beim Cineplexx, bei der Ex-FlixBus-Haltestelle und beim Kreisverkehr, wo Rom- und Trientnerstraße sich kreuzen. Vor Corona hat Volontarius den Dienst an drei Abenden in der Woche übernommen, wir waren gemeinsam mit der italienischen Vinzenzgemeinschaft für die die restlichen Tage zuständig. Da wir nur mit Freiwilligen arbeiten, ist die Essensausgabe zu Mittag für uns schwer umsetzbar. Deswegen hat Volontarius den Dienst unter der Woche übernommen und wir sind immer an den Wochenenden und Feiertagen im Einsatz.

Stichwort Freiwillige.

Vor Corona haben 43 Ehrenamtliche mitgeholfen, momentan sind es weniger. Ich bin mir aber sicher, dass sobald sich die Situation beruhigt hat, wieder viele Freiwillige ihre Mithilfe anbieten werden. Das Essen beziehen wir aus einer Mensa, damit auch hygienemäßig alles korrekt abläuft. Als wir die Struktur am Verdiplatz zur Verfügung hatten, gab es mal Reis, Nudeln oder Suppe. Jetzt verteilen wir in einem Sack eine warme Mahlzeit, Brot und ein Jogurt oder eine Süßigkeit. Ich hoffe, dass wir bald wieder in einer fixen Struktur arbeiten können. Es geht neben der Essensverteilung für die Obdachlosen auch darum, sie dich Hände zu waschen, die Toilette aufzusuchen oder das Handy zu laden.

Obdachlosigkeit wird oft in Verbindung gebracht mit Schlägereien, Messerstechereien, Alkohol oder Drogen - aber wie überall gibt es auch eine andere Seite.

Wie viele Personen suchen Euch für eine warme Mahlzeit auf?

Jeder, der bei uns ansteht, bekommt etwas. Unter der Woche werden um die 110 Portionen verteilt, am Wochenende sind es meist 130. Es kommen Senioren, Leute mit Migrationshintergrund, klassische Obdachlose, Alkohol- oder Drogenabhängige. Am Wochenende sind öfters auch Pflegehilfekräfte dabei, die an dem Tag frei haben, nur einige Hundert Euro im Monat verdienen und sich dadurch eine Mahlzeit sparen können. Bei uns ist jeder willkommen.

Wurde durch die Pandemie die Armut vergessen?

Armut ist ein weitläufiger Begriff, die Pandemie hat jeden getroffen und sicher viele Leute noch mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Wahrscheinlich wurde an die Obdachlosen auch als Letztes gedacht, sonst hätte es die Situation mit den Winterschlafplätzen nie gegeben.

 

Was läuft falsch im Umgang mit der Obdachlosigkeit?

Ich gebe der Stadt Bozen in manchen Aspekten recht. Trotzdem, es fehlt ein Gesamtkonzept: Was machen wir? Was stellen wir zur Verfügung? Wer ist verantwortlich? Es werden immer Notlösungen gemacht: Gelder, die in Menschen investiert werden, sind immer wichtig, trotzdem werden sie falsch investiert. Notlösungen kosten immer mehr als langfristige Lösungen. Ganz kann man das Problem der Obdachlosigkeit sicher nie lösen, aber Schritte in die richtige Richtung sind machbar. Man muss auch zwischen Migration und Obdachlosigkeit unterscheiden: Ein 50-jähriger Obdachloser hat andere Bedürfnisse, als ein 25-jähriger, der um Asyl angesucht hat und auf seinen Bescheid wartet.

Wir versuchen mit unseren Tätigkeiten auch menschliche Wärme zu vermitteln.

Abschließend: Wie beurteilen Sie die Lage in Südtirol?

Die Politik sieht immer nur Zahlen und Nummern und vergisst dabei, dass es um Menschen geht. Obdachlosigkeit wird oft in Verbindung gebracht mit Schlägereien, Messerstechereien, Alkohol oder Drogen. Aber wie überall gibt es auch eine andere Seite. Wir haben in all den Jahren noch nie eine Aggression gegenüber uns verspürt, sonst wären einige Freiwillige nicht seit 15 Jahren dabei. Wenn ich einen Menschen akzeptiere und respektiere, habe ich ganz einen anderen Zugang. Ich glaube auch die Gesellschaft ist bereit für einen menschenwürdigen Umgang, „Schreier“ wird es immer geben.
Wir streben in vielen Bereichen Nachhaltigkeit an. Auch in diesem Bereich haben wir nur mit Nachhaltigkeit und Langfristigkeit eine Chance, etwas voranzubringen. Ich verstehe die verschiedenen Perspektiven, mit denen das Thema betrachtet wird. Aber oft, nachdem man zugehört und sich eingefühlt hat, ändern sich die Blickwinkel. Wir sind mit Herz dabei, gleichzeitig muss eine gewisse Distanz gewahrt werden. Man kann nicht alles an sich heranlassen und jedem einzelnen helfen. Oft muss man sich denken, man kann nicht alles verändern, man tut, was einem möglich ist.