Kultur | Salto Afternoon

Frau Pichler und Herr Kästner

Erich Kästners Buch "Fabian" wurde für das Kino verfilmt. Eine Spurensuche zum Autor, die über Umwege nach Südtirol führt. Und zu einem lange verschollenen Gedicht.
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Foto: Fabian

Der Film Fabian oder Der Gang vor die Hunde endet mit einem Blick in ein wuchtiges Feuer. Nach drei Stunden Kinozauber ist man für ein paar Sekunden Erich Kästner und schaut auf brennende Bücher. Am 10. Mai 1933 wurden am Berliner Opernplatz – wie auch in weiteren deutschen Universitätsstädten – Tausende Bücher öffentlich verbrannt, auch Kästners Fabian. Nur wenige Wochen zuvor hatte der Schriftsteller in Meran noch „ausgiebig Tennis gespielt“. Was war geschehen mit den Menschen im Land, wo die Kanonen blühn? Kästner hatte es treffend in dem zwei Jahre zuvor veröffentlichten Roman Fabian beschrieben. Im Trauma des ersten Weltkriegs schaufelt sich die von ihm gezeichnete Gesellschaft erneut ein verheerendes Grab und geht vor die Hunde.

Frau Pichler? Im Frühjahr 1933 hätte ein Gedicht Erich Kästners über eine Frau Pichler erscheinen sollen. Dazu kam es nicht. Es wurde erst vor 25 Jahren entdeckt. 

Kästners Fabian erschien 1931 in der Deutschen Verlags-Anstalt. Doch „dem Erst-Lektor waren wohl einige Passagen zu heiß: zu explizit sexuell, in einem Teilkapitel sicher auch zu politisch“ vermutete Kästner-Experte Sven Hanuschek, als er 2013 im Atrium Verlag erstmals „die ursprüngliche, ungekürzte Version“ veröffentlichte und einen textkritischen Apparat sowie ein ausführliches Nachwort beifügte.
Das ursprüngliche Typoskript – die ungekürzte Originalfassung des Buches unter dem Titel Der Gang vor die Hunde – hatte sich im Nachlass des Schriftstellers erhalten und offenbart „den jungen, frechen, manchmal übermütigen Kästner.“ 


Während Kästners Bücher bereits ab Februar 1933 aus den Buchläden verschwinden, tauchte auch Kästner unter – als Urlauber. Ab 22. Februar 1933 scheint er in der Fremdenliste der Stadt Salzburg auf, ab Mitte März ist sein Aufenthalt in Meran belegt.


Und während andere Schriftstellerkollegen in diesen äußerst angespannten Monaten vor den Nationalsozialisten ins Ausland flüchten, berichtet Kästner – ebenfalls im Ausland, in Meran – an seine Mutter: „Das mit dem Draußenbleiben, das kommt gar nicht in Frage. Ich hab ein gutes Gewissen, und ich würde mir später den Vorwurf der Feigheit machen. Das geht nicht.“ Aus einem weiteren Brief an seinen Freund Hermann Kesten – dieser war bereits nach Paris geflüchtet – kommentiert Kästner das Tagesgeschehen in Meran mit den Worten: „Hier war es, sieht man vom Zeitglesen [sic!] ab, sehr schön“ und lobt sein sportliches Niveau: „Arbeiten tu ich nichts. Tennis spiel ich wie ein Daviscup-Ersatzmann.“ 
Kästner war am 15. März – gut zwei Wochen nach dem Brand des Berliner Reichstag – in Meran angekommen und checkte im Grandhotel Bristol ein. Einen Tag vorher hätte in der Zeitung Weltbühne ein von ihm nicht signiertes Gedicht mit dem Titel Frau Pichlers Ankunft im Himmel erscheinen sollen. Es erschien aber nicht, da die Nationalsozialisten das Blatt beschlagnahmten. 

Lieber Gott. mein Herz ist schwer.
Jetzt kommt Max, mein Mann, aus dem Büro. 
und ich lebe doch nicht mehr!
Ich bin tot. Und das kam so:
[Anfang des Gedichts: Frau Pichlers Ankunft im Himmel]

Die Druckplatten der Weltbühne blieben zum Glück erhalten, allerdings Jahrzehnte lang verschollen. Das Gedicht Kästners wurde erst vor 25 Jahren entdeckt und dem Schriftsteller zugeschrieben. Es erzählt in komischer wie tragischer Weise das Ableben einer Frau, die gerade am Balkon nachsieht, ob die Socken ihres Mannes bereits trocken sind. Nachdem es auf der Straße vor dem Balkon Tumulte gibt, wird Frau Pichler zufällig von einem Polizeischuss (?) tödlich getroffen. Dass Kästner den Namen Pichler in den Titel des Gedichts hievt ist ungewöhnlich und lässt vermuten, dass der Schriftsteller vielleicht Pichler`sche Bekanntschaften gehabt haben könnte. In Meran? In Salzburg? Oder hat er den Namen einfach einem Zeitungsartikel entnommen? 
In Meran war Kästner jedenfalls im März 1933 nicht zum ersten Mal Gast. Die Südtiroler Kästnerkennerin Angelika Pedron hat vor einigen Jahren in Kästners Nachlass im Deutschen Literaturarchiv gestöbert und mehrere Belege zu Kästners Aufenthalten in Meran ausfindig machen können. Unter anderem Fotografien, die Kästner am Vigiljoch zeigen, sowie beim Return am Tennisplatz. Dazu (und vor allem zu Kästners weiblicher Begleitung in der Kurstadt) hat Pedron einen ausführlichen Beitrag verfasst und in der Kulturzeitschrift Schlern veröffenlicht.

Das Pichler-Gedicht halte ich schon für authentisch
[Sven Hanuschek]

Kästners Frau Pichler, eine Meranerin? „Kästners Namens-Fundus bietet schon immer wieder Überraschungen“ erklärt Sven Hanuschek, „zwingend ist Südtirol nicht, Pichler ist ja ein allgemein 'süddeutscher', auch österreichischer Name, und Kästner ist ja dort gern in Urlaub gefahren.“ Die Namens-Spekulation mit Südtiroler Lokalkolorit scheint Hanuschek „zu unspezifisch“, dennoch fügt der Literaturwissenschaftler optimistisch hinzu: „Es könnte natürlich sein.“ 
Kein Zweifel hingegen hat Sven Hanuschek bzgl. der Authentizität des nicht signierten Pichler-Gedichts. Dabei gab es unmittelbar nach der Entdeckung Mitte der 1990er Jahre mitunter Stimmen, die eine Kästner-Autorschaft bestritten. „Das Pichler-Gedicht halte ich schon für authentisch“ ist Hanuschek überzeugt.

Lieber Gott, mein Herz ist schwer.
Max wird weinen und mich nie vergessen.
Warum leb ich denn nicht mehr?
Wenn ich nicht gestorben wär,
würden wir jetzt abendessen…
[Ende des Gedichts: Frau Pichlers Ankunft im Himmel]

„Er war ein hochtalentierter Schriftsteller, sehr zurückhaltend und scheu im Umgang mit Menschen. Er konnte Kinder eigentlich nicht leiden, das war schon merkwürdig, wenn man an die wunderbaren Kinderbücher denkt“, erinnerte der in Glurns geborene Künstler Paul Flora in seinen Lebenserinnerungen Wie´s halt so kommt an Erich Kästner. Flora war es auch, der Kästners Kriegstagebuch Notabene 45 mit einigen Zeichnungen bereicherte, in welchem der Schriftsteller Kästner seine Zeit in Mayrhofen im Zillertal beschreibt, wo er an einer fiktiven Filmproduktion mitarbeitete, um auf diese Weise den schrecklichen Zuständen in Berlin zu entkommen.


In Notabene 45 findet sich auch die Beschreibung zu einer Begegnung, welche Kästner literarisch vom Tiroler Norden in den Tiroler Süden führte: „Gestern sprach ich mit einem Mann von der Widerstandsbewegung, einem Südtiroler, einem jener zwielichtigen Kerle, denen man nicht über den Weg traut. […] Er gefiel mir nicht, aber er erzählte gut.“ 
Wer der zwielichtige Südtiroler war, ist bislang ebenso unbekannt, wie die tote Frau Pichler. Kästners Figur Fabian hingegen, ist in weiten Teilen der Verfasser höchstpersönlich. Dank Literatur bleiben alle unsterblich.