Kultur | Salto Wekkend

Spurensuche: „Strada della Vittoria“

Vor 70 Jahre tobte der Abessinienkrieg: Teil 2 der Reisereportage von Helmut Luthers Buch "Mussolinis Kolonialtraum" führt nach Addis Abeba.
dscf2023.jpg
Foto: Foto: Helmut Luther

Addis Abeba

Als ich Dr. Ahmed Hassen in seinem Büro auf dem Gelände der Universität von Addis Abeba besuche, hat er den Telefonhörer in der Hand und macht ein be­trübtes Gesicht. Gerade empfing er die Nachricht vom Tod Richard Punkhursts. Der Engländer war der Gründer und erste Direktor des Institute of Ethiopian Studies - und Hassen ist sein Nachfolger. Sein Büro ist ein Traum für jeden Geistesmenschen: Zwei helle lichtdurchflutete Räume mit knarzendem Parkett­boden, die Regale voller Bücher, eine verglaste Tür führt auf eine große Terras­se hinaus.

Dort schweift der Blick über Grün, über blühende Bougainvilleen, Himalaja-Zedern, kleine, hübsche Villen, in denen Verwaltungsbeamte der Universität von Addis Abeba vor ihren Computern sitzen. Institutsdirektor Has­sen hat es eilig, er wird die Abschiedsfeier für seinen verehrten Vorgänger mit­organisieren. Trotzdem nimmt er sich Zeit für einen gemeinsamen Hausrundgang, wobei Haus freilich der falsche Ausdruck für den von Haile Selassie 1930 er­bauten Guenete Leul Palast ist. Er wird auch Kleiner Ghebi genannt und bilde­te damals den Hauptwohnsitz der kaiserlichen Familie. Ein geschichtsträchtiger Ort: Nach der Ausrufung des Imperiums residierte hier Badoglios Nachfolger Rodolfo Graziani als Vizekönig. Als das Imperium schon wieder Vergangenheit war, kehrte Kaiser Haile Selassie in den Palast zurück.

„Von hier aus schleuderten sie am 19. Februar 1937 Handgranaten auf die Treppe hinunter"

Während eines Festban­ketts — grandiose Festessen gehörten zu den kaiserlichen Pflichten — fand hier 1960 ein gescheiterter Staatsstreich statt, die Putschisten erschossen 15 Geiseln. Hassen führt mich in den Festsaal, mit goldumrahmten Kronleuchtern und edlen Massivholzmöbeln hat er die Ausmaße von ungefähr zwei Tennisplätzen und dient den Studenten heute als Lesesaal. Im Obergeschoss lotst mich Hassen auf die von zwei Pfeilern getragene Terrasse über der Freitreppe hinaus. Unterhalb der Treppe erstreckt sich ein weiter Platz, wo Privilegierte wie der Institutsdirek­tor ihre Autos parken. Etwas entfernt in Richtung Haupteingang des Universi­tätsgeländes führt eine weitere Treppe ins Leere, an ihrer Spitze sitzen Löwen­figuren — der Löwe ist das Wappentier Haile Selassies. Ein Springbrunnen plätschert. „Von hier aus schleuderten sie am 19. Februar 1937 Handgranaten auf die Treppe hinunter", erklärt Hassen und ahmt dazu mit einer Geste aus dem Handgelenk die Attentäter nach.

Auf Bildern, die damals ein italienischer Jour­nalist machte, sieht man Vizekönig Graziani mit ordenbehängter Uniform auf der Freitreppe stehen. Neben ihm Abuna Cirillos, der Nachfolger von Abuna Petros, der einige Monate zuvor von den Italienern hingerichtet worden war. Anlässlich eines Festes sollten an die Armen der Stadt Silbertaler verteilt werden. Gegen halb ein Uhr mittags, als die Zeremonie in vollem Gang war, gab es einen Knall, dann einen weiteren. Viele, auch Graziani, wie er später berichten wird, glaubten zunächst an Böllerschüsse. Dann brach Panik aus. Eine der Bomben fiel direkt neben Abuna Cirillos, der mit seinem Körper den zu Boden gestürzten Graziani schützte und schwer verwundet wurde. Auf verwackelten Filmaufnahmen sieht man gebückte Gestalten, die den blutüberströmten Vizekönig im Laufschritt zu einer schwarzen Limousine tragen, während ringsum Rauch aufsteigt und die Menge schreiend auseinanderrennt. Am Palasteingang zeigt mir Hassen die Dellen an den Pfeilern. „Sie stammen von den Bombensplittern." Dann umrun­den wir den Palazzo, wo mich der Institutsdirektor im Garten an der Rückseite auf grasbewachsene Treppen aufmerksam macht — sie führen zu einem unterir­dischen, mit einem Eisentor versperrten Gang. „Über diesen Tunnel sind die Täter nach dem Anschlag vermutlich geflüchtet", sagt Hassen. Heute nehme man an, dass beim Attentat der englische Geheimdienst seine Hände im Spiel gehabt habe. Haile Selassie sei ja nach London ins Exil gegangen. „Eine Spur führt möglicherweise nach Deutschland und vielleicht auch nach Südtirol." In den folgenden Tagen werde ich mich oft auf dem Universitätsgelände aufhal­ten. Es bildet eine Insel der Ruhe inmitten der brodelnden Metropole. Im geis­teswissenschaftlichen Trakt gibt es einen gut bestückten Buchladen. Die Profes­soren des Geschichtsinstituts, die ich um Kontakte und Tipps in meiner Angelegenheit frage, zeigen sich allerdings wenig kooperativ, vorsichtig ausge­drückt. Immerhin: Man bekommt hier gratis WLAN. Außerdem entdecke ich ein Gartenrestaurant mit ausgezeichnetem äthiopischem Essen, wo ich mehrmals Gashaw treffe, der mich nach Zeret begleitet hat. Im Schatten exotischer Bäume lese und beobachte ich das bunte Treiben rundherum. Die Gegenwelt beginnt draußen an der Straßenkreuzung Sidist Kilo, vor dem gemauerten, von Unifor­mierten bewachten Universitätseingang. Das Gelände liegt auf einer Hügelkuppe.

Ringsum staffeln sich weitere Hügel, wo teils glitzernde Hochhäuser, teils Bret­terbuden mit Wellblechdach aus dem Boden schießen. Im Norden ragt der von Eukalyptuswäldern bedeckte Bergzug Entoto empor, dort hatte Haile Selassies Vorgänger Menelik sein erstes Lager in der Region aufgeschlagen — die Keim­zelle von Addis Abeba.

Hinter der Blumenfrau klafft ein Loch in einem Zaun, dort zwänge ich mich durch.

Auf einem tiefer gelegenen Hügel im Süden steht die St.-Georgs-Kathedrale, wo die Krönungszeremonie Haile Selassies stattgefunden hat. Darunter erstreckt sich das „Piazza" genannte Viertel, welches die Italiener errichtet haben. Dort habe ich im ältesten Hotel der Stadt ein Zimmer gemietet. Von einem gelben Taxi lasse ich mich nach Sidist Kilo bringen. Sofort ver­schluckt mich hier der Strom wogender Menschenleiber. Eine Blumenfrau bietet vier oder fünf armselige Geranien an. Schuhputzer klappern mit ihren Arbeits­geräten. Ambulante Losverkäufer halten wedelnd ihre Scheine empor. Durch das Gewühl bahnen sich europäisch gekleidete Büroangestellte ihren Weg, winden sich vorbei an in traditionelle Umhänge gehüllten Bewohnern der Randsiedlun­gen, an auf Beute lauernden Taxifahrern, gebrechlichen Mönchen und vielen Bettlern: Eine in Lumpen gekleidete Mutter mit zwei Kindern klimpert in ihrer Rechten mechanisch mit zwei Münzen. Das Kleinere saugt an ihrer Brust, das Größere vertreibt sich die Zeit, indem es auf einem Stück Baumstamm hin- und herrollt. Ein junger Mann sitzt am Boden, in seinem Schoß mit ausgestreck­ten Beinen ein anderer, der mit schmerzverzerrtem Gesicht eine pulsierende Geschwulst am Bauch zur Schau stellt. Man gewöhnt sich an den Anblick der Elendsgestalten, nichts verbraucht sich so schnell wie das Mitleid. Hinter der Blumenfrau klafft ein Loch in einem Zaun, dort zwänge ich mich durch. In dem von immergrünen Kletterpflanzen überwucherten Haus dahinter wohnte Latyibelu Gebre. Der Vertraute des Negus war einer der Hauptverschwörer des 19. Februar und der Einzige, der die Befreiung durch die Engländer erleben sollte

Teil 1 der salto.bz - Serie in Zusammenarbeit mit der Edition Raetia zu: Mussolinis Kolonialtraum