Gesellschaft | Interview

“Es ist wichtig, die Regeln vorzuleben”

Die Kinder- und Jugendpsychologin Veronika Rottensteiner spricht über die Vorbildfunktion in Zeiten von Corona und den Umgang mit Sorgen und Nachrichten.
Veronika Rottensteiner
Foto: Privat

Die andauernde Corona-Pandemie stellt alle weiter vor Herausforderungen. Auch Kinder und Jugendliche. Als Kinder- und Jugendpsychologin weiß Veronika Rottensteiner* um deren Bedürfnisse. Sie erinnert daran, dass Erwachsene – bei aller Sorge und Verunsicherung, die sie häufig selbst verspüren – eine Vorbildfunktion haben und erklärt, wie Heranwachsende am besten durch die Krisensituation begleitet werden können.

salto.bz: Abstand, Maske, Hygiene: Wie gut können Kinder mit den Corona-Regeln umgehen?

Veronika Rottensteiner: Wenn wir die Entwicklung von sozialen Kompetenzen als eine zentrale Entwicklungsaufgabe vom Kindesalter bis ins Jugendalter betrachten, ist das “social distancing” aus der Sicht der Kinder im Vergleich zu den Hygienemaßnahmen wohl am schwersten zu verstehen und die Auswirkungen auch nur schwer zu ertragen.  

Erwachsene haben immer eine Vorbildfunktion.Wie können Bezugspersonen wie Eltern, Kindergarten- und Lehrpersonal Kindern die Maßnahmen am besten vermitteln?

Bezugspersonen tragen immer eine wichtige Modellfunktion. Sie können versuchen, Kindern deutlich zu machen, dass auch sie sich nun an Regeln halten müssen, die sie nicht selbst festgelegt haben und diese jetzt einfach notwendig sind. Es ist wichtig, die Regeln vorzuleben, sie altersgerecht zu erklären und das Kind zu fragen, was es dazu wissen möchte. Geschichten und Erklärvideos können eine Hilfe sein.

Kinder benötigen Informationen, die zu ihrem Alter, ihrem individuellen Entwicklungsstand und ihren aktuell verfügbaren psychischen Ressourcen passen

Besteht das Risiko, dass sich Sorge, Verunsicherung oder auch Missmut überträgt?

Immer schon war eine sichere Bindung zwischen Bezugspersonen und Kind für die Entwicklung eines Grundvertrauens fundamental. Eltern geben Kindern unter anderem wichtige Strategien zur Regulation von Emotionen, wie Stress, Angst, Wut oder Trauer mit auf den Weg, lernen ihnen, sich an schwierige Umstände anzupassen. Klarerweise orientieren sich Kinder an der Reaktion der Eltern.
Ein kollektives kritisches Lebensereignis, wie es diese Pandemie ist, fordert unsere diese Fähigkeiten besonders. Überängstliche, belastete Eltern tun ihren Kindern sicher nichts Gutes und sollten sich professionelle Hilfe suchen.

Können Kinder die Konsequenzen der Corona-Pandemie für ihren Alltag verstehen? Etwa, warum sie keinen Kontakt zu ihren Großeltern haben und nicht mit ihren Freunden spielen dürfen oder nicht mehr in den Kindergarten bzw. zur Schule dürfen, wenn in ihrer Gruppe bzw. ihrer Klasse ein Corona-Fall aufgetreten ist?

Kinder nehmen diese Konsequenzen hin und können sich auch verstehen und sich gut anpassen, wenn wir Erwachsene sie dabei in Ruhe und mit “Hausverstand” begleiten und uns nicht selbst von unseren Ängsten überrollen lassen.

Für viele haben mit der Lockerung bzw. Öffnung Schulsorgen, depressive Symptome, Ängste und Schlafstörungen zugenommen

Kinder werden in der öffentlichen Debatte häufig als Opfer der Maßnahmen dargestellt. Ist diese Sorge berechtigt? Oder werden Kinder hier auch ein Stück weit instrumentalisiert – etwa, weil Erwachsene selbst nicht mit den Maßnahmen einverstanden sind bzw. zurechtkommen?

Wahrscheinlich ist beides der Fall…

Haben Kinder und Jugendliche den Lockdown vom Frühjahr verkraftet? Vielleicht besser als Erwachsene?

Es war Job der ganzen Familie, diese Zeit gut zu verkraften und viele haben das auch. Sie konnten diesen Abschnitt als Chance sehen, haben neue Hobbys gefunden, am Abend zusammen Sport gemacht, eine neue Routine entwickelt. Für weniger resiliente Familien, für Kinder in der Stadt ohne Garten, für Kinder, die durch das plötzlich eigenständige Lernen total überfordert waren und für Kinder von Eltern im smart working, deren Mediennutzung der Hauptzeitvertreib wurde, war diese Zeit sicher belastender und folgenschwerer. Für viele haben mit der Lockerung bzw. Öffnung Schulsorgen, depressive Symptome, Ängste und Schlafstörungen zugenommen.

Bezugspersonen können versuchen, Kindern deutlich zu machen, dass auch sie sich nun an Regeln halten müssen, die sie nicht selbst festgelegt haben

Was macht Abgeschottet-Sein generell mit Heranwachsenden? Kann auch eine temporäre Isolation die Psyche und Entwicklung beeinflussen?

Die sozialen Kompetenzen zählen zu den zentralen Entwicklungsaufgaben und wir sind soziale Wesen, die grundsätzlich nicht in Isolation leben wollen. Also macht Isolation sehr viel mit unserer Psyche. Andererseits sind wir auch sehr anpassungsfähig. Widerstandsfähiger sind jene Kinder, die von einem positiven, harmonischen Familienklima umgeben sind und über gute emotionale Kompetenzen verfügen.

Ist es Kindern zuzumuten, die Nachrichten über die aktuelle Pandemie-Situation zu verfolgen? Ist es wichtig, dass sie darüber informiert sind?

Kinder benötigen Informationen, die zu ihrem Alter, ihrem individuellen Entwicklungsstand und ihren aktuell verfügbaren psychischen Ressourcen passen. Jüngere Kinder brauchen nur wenige klare und beruhigende Worte. Auch wir Erwachsene merken, dass die vielen Infos über verschiedenste Kanäle auf uns einprasseln, müde machen und zum Grübeln anregen. Ob das immer gut tut? Infos zu filtern, auf das Essenzielle herunterzubrechen, ist wohl energiesparender.
Bei Vorschulkindern sollte der Zugang zu Radio, Fernsehen und dem Internet verhindert werden. Auch Grundschulkinder sollten mit diesen Informationen nicht alleine gelassen werden, um Missverständnisse zu vermeiden.