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Das sechste Buch Chatwin

In der Reihe "Wiedergelesen" zum Welt-AIDS-Tag am 1. Dezember: die gesammelten Briefe des frühverstorbenen Autors Bruce Chatwin, genial kompiliert und kommentiert.
Nomade
Foto: Hanser Verlag

„Es ist ganz himmlisch hier. Die ganze Taygetos-Gebirgskette fällt steil ab zum Meer, und Adler schweben mit der Thermik über dem Haus – ein Gebäude mit niedrigen Arkaden aus Kalkstein, schön abgesetzt mit rotem Karst. Olivenbäume und bleistiftdünne Zypressen umstehen die Terrasse zwischen den Bergen und dem Meer. Vom Haus aus kann man direkt ins Wasser eintauchen.“ So beschreibt Bruce Chatwin die eigene Grabstätte. Er hatte sie sich nicht explizit als solche gewünscht, und im Sommer 1970, als der Dreißigjährige, der bis dahin kaum etwas veröffentlicht hatte, die Zeilen zu Papier brachte, ahnte er nichts von seinem frühen Tod. Es sollten ja noch zwei Jahrzehnte vergehen, ehe seine Asche auf dem Grundstück seines Schriftstellerkollegen Patrick Leigh Fermor verstreut wurde.

In Chatwins Korrespondenz werden einige vom Autor sorgsam gehütete Geheimnisse gelüftet.

Fruchtbare Jahrzehnte waren es, auch wenn die Zahl der von Chatwin verfassten Bücher nicht unbedingt darauf schließen lässt. Fünf kamen am Ende zusammen, mehr nicht. Alle vier Jahre ein Buch, das lässt, je nach der dem Verfasser gewährten Gunst, Langsamkeit argwöhnen oder Sorgfalt vermuten. Beim immer agilen und drahtigen Chatwin war eindeutig letzteres der Fall. Davon zeugen die vielen Briefe, die er geschrieben hat und in denen es immer auch um seine Arbeit geht. In seinen Werken, auch das machte sie so lesenswert, versteht der Autor sich kurz zu fassen. Einen Eindruck davon, welches Ringen, oft von mehreren Tagen oder gar Wochen, hinter einer Formulierung, einem Satz, einem bündig geäußerten Gedanken steckt, vermittelt erst Chatwins Korrespondenz. 

Sein Biograph Nicholas Shakespeare hat sie herausgegeben, gemeinsam mit Chatwins Witwe Elizabeth. Die Briefe sind chronologisch gereiht, teils mit spärlichen, teils mit ausführlichen Erklärungen sowie Zitaten der Briefpartner versehen – jedoch immer so, dass der Erzählfluss nicht unterbrochen wird. Die Zusammenstellung liest sich wie ein sechstes Buch Chatwins; wie die Autobiographie, die der Autor, auch mangels erreichter Lebenszeit, nie geschrieben hat.
Was beim Lesen sofort auffällt, ist der häufige Wechsel der Adresse. Würde man sich die Mühe machen, am Ende der sechshundert Seiten die Absendeorte zusammenzurechnen, ergäbe sich eine dreistellige Zahl. Chatwin eine gewisse Ruhelosigkeit zu attestieren wäre noch untertrieben. Insofern ist der Titel der Briefsammlung, Der Nomade, ebenso stimmig gewählt wie die Aneinanderreihung perfekt. Chatwins Werke entstanden beim Wandern: "Ich habe an verschiedenen Orten zu schreiben versucht", erinnerte sich Chatwin einmal, "in einer afrikanischen Lehmhütte, in einem Kloster auf dem Berg Athos, in einer Schriftstellerkolonie, in einer Kate im Moor, sogar in einem Zelt."

Sämtliche Bücher sind auf verschiedenen Kontinenten angesiedelt: Im Südzipfel Argentiniens, In Patagonien, wandelt Chatwin in den Spuren englischer und walisischer Einwanderer. Der Vizekönig von Ouidah handelt von brasilianischen Sklaven und deren wieder in Westafrika siedelnden Nachkommen. (Regisseur Werner Herzog verfilmte den Stoff unter dem Titel Cobra Verde). Auf dem schwarzen Berg, in Wales, spielt Chatwins einziger klassischer Roman; es geht um zwei Zwillingsbrüder, die zeitlebens nie länger als ein paar Tage getrennt sind, aber an verschiedenen Orten sterben; dies wiederum beinahe zeitgleich. In Traumpfade folgt Chatwin den australischen Ureinwohnern auf verschlungenen Wegen, deren Landkarten nur in ihren Köpfen existieren. Utz schließlich ist eine Hommage an einen in Prag leben- und sterbenden Sammler Meißener Porzellans. 

Das Erstaunlichste an Chatwin war jedoch sein Gedächtnis und seine Faktensicherheit, die dem lockeren Erzählton nur scheinbar widersprachen.

In Chatwins Korrespondenz werden einige vom Autor sorgsam gehütete Geheimnisse gelüftet. Er starb, auch wenn er seine Immunschwäche lieber auf ein in China verzehrtes tausendjähriges Ei zurückführte, an Aids. Er ging zahlreiche Affären mit Männern und einige wenige mit Frauen ein, von denen Elizabeth in zwanzig Ehejahren nicht immer etwas gewahr wurde, obwohl sie wegen der ihr bekannten kaum Aufhebens machte. Er konnte binnen kürzester Zeit jedes Gegenüber von seiner Person und seinen Ideen faszinieren, versäumte dann aber oft, sich in der in seinen Büchern so bewährten Kunst des Sichkurzfassens zu üben. Als seine zahlreichen Freunde und Bekannte, die über solche Kleinigkeiten meist großzügig hinwegsahen, weist das zwanzigseitige Register illustre Namen auf wie John und Penelope Betjeman, José Luis Borges, James Ivory, Jacqueline Onassis, Salman Rushdie, Susan Sontag, Paul Theroux und Francis Wyndham. 

Das Erstaunlichste an Chatwin war jedoch sein Gedächtnis und seine Faktensicherheit, die dem lockeren Erzählton nur scheinbar widersprachen. In Indien zitierte Chatwin gegen Ende seines Lebens spontan einen Sanskrittext, der ihm als Student in Edinburgh begegnet war, selbstverständlich im Original. Einem südafrikanischen Paläontologen fasste er aus dem Stegreif die Theorie eines arabischen Geschichtsschreibers des 14. Jahrhunderts zusammen. Und Gregor von Rezzori zählte er vom Sterbebett die fünf Orte der k.u.k. Monarchie auf, in denen Gold geschürft wurde: Schemnitz, Chemnitz, Nagybanya, Ofenbanya, Vöröspaták – eine Information, die Rezzori Jahrzehnte zuvor einmal beiläufig im Gespräch hatte fallen lassen. 

Chatwin war ein Gesamtkunstwerk

Als Chatwin auf seiner letzten Reise, zum Skelett abgemagert und zu keiner Bewegung mehr fähig, im staatlichen Hospital von Nizza die letzten Briefe seines Lebens diktierte, hätte er auf ein erfülltes Autorendasein zurückblicken können. Statt dessen schmiedete der Rastlose weiter Zukunftspläne. Zu Recht, denn mit dem Ableben war seine Karriere längst nicht beendet. Chatwin hatte ein schmales Werk hinterlassen und damit durchaus einige Erfolge eingeheimst. Doch nun wurde er richtig berühmt.

Es waren nicht nur die grandios erzählten  Geschichten, die zur späten Anerkennung führten. Was die rasch wachsende Schar der Leser zu ahnen begann und der nicht minder rasch anschwellende Chor immer schon alles gewusst habender Kritiker pflichtschuldig herausposaunte, wurde bald zur Gewissheit: Chatwin war ein Gesamtkunstwerk, und wie alle Kunstwerke würde auch seine Person überdauern.