Gesellschaft | Querdenken

Das Internet boomt

Ein Plädoyer für einen reflektierten, selbstkritischen und verantwortungsvollen Umgang mit dem World Wide Web.
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Foto: Pixabay

Das Jahr 2020 hat mit Sicherheit einige Ereignisse mit sich gebracht, die es in dieser Form noch nicht gab. Die aufgrund des Lockdowns dazugewonnene Zeit ermöglichte es, sich über eben die Ereignisse auf die eine oder andere Weise zu informieren, was dank der sozialen Medien wiederum zu einen Diskurs geführt hat, dessen Ausmaß aus einer rein demokratischen Perspektive grundsätzlich willkommen zu heißen sein sollte. Große Teile der Gesellschaft scheinen ein zunehmendes Interesse an Politik und Wissenschaft (wieder) gefunden zu haben und die daraus gebildeten Meinungen werden auf ihren jeweiligen Online-Profilen gerne kundgegeben. Immerhin geht die Pandemie und die folgerichtigen politischen Maßnahmen ja alle was an. Es mag beinahe wie eine demokratische Utopie aussehen, wenn Bürger*Innen aus allen Bevölkerungschichten, Regionen, Staaten, usw. neben ihren Stimmzetteln auch noch ihre wahre Stimme, wohlgemerkt frei und gleich, hören lassen können. Kommentare und Posts werden letztendlich weder nach Bildungsgrad, noch anderen Kriterien unterschiedlich bewertet. Aus den unzähligen auf sehr dünnem Eis fundierten wissenschaftlichen und politischen Diskussionen kann letztlich ein gemeinsamer Nenner erkannt werden: Wie auch immer die Meinung auf dem Spektrum klingen mag, sie wird vom schreibenden Individuum stets als die Wahrheit verstanden, denn nur so kann sie letztendlich als authentische Meinung gelten. Doch die letzten Jahre haben gezeigt, wie genau jener Glaube an die eigene Wahrheit der Demokratie zum Verhängnis werden kann.

Schon Friedrich Nietzsche erkannte, dass alles Sehen perspektivistisches Sehen ist. In den Geisteswissenschaften wird die Aussage weitergedacht und in eine postmoderne Theorie weiterentwickelt, welche davon ausgeht, dass es Fakten in der herkömmlichen Form gar nicht geben kann und den Wahrheitsbegriff somit endgültig relativiert. Dadurch können dann wissenschaftliche, pseudowissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Erkenntnisse den selben Wert und dieselbe Legitimität erlangen.

Julius Cäsar schrieb in De bello Gallico, dass Menschen lieber das hören, was sie auch glauben wollen, was zurzeit etwa auch mit „kritischem Denken“ übersetzt werden kann. Durch die inhaltliche Gleichsetzung aller Äußerungen wird schließlich die Arbeit von Akademiker*Innen, Politiker*Innen, Journalist*Innen, Fachkompetente, Berufsdenker*Innen usw. in ihrem Schaffen degradiert und unabhängig von ihren Leistungen oft nicht mehr ernst genommen, um gar nicht erst von Geisteswissenschaftler*Innen zu sprechen, deren Arbeit in der Regel immer dann erkannt und wahrgenommen wird, wenn es schon zu spät ist. Zugegebenermaßen kann man mir nun vorwerfen, dass es genügend Beispiele gäbe, die die Heuchelei genau solcher Berufsmodelle bestätigen (Collin Powell, Claas Relotius, usw.), aber bestätigt die Ausnahme nicht die Regel?

Die wahrscheinlich wesentlichste Ebene scheint im Diskurs allerdings kaum bis wenig Aufmerksamkeit zu bekommen, nämlich jene des Mediums selbst. Medien sind in der Regel der einzige Kontaktpunkt zwischen Wähler*Innen und Politik. Konnte die öffentliche Meinung im 20. Jahrhundert noch durchaus effektiv durch mehr oder weniger zensierte Presse, Radio und Fernseher einigermaßen zentral beeinflusst werden, so zeigt das 21. Jahrhundert, das Jahrhundert der Postmoderne, Eigenschaften, die bis dato nur im geringen Ausmaß erfasst werden konnten bzw. den allgemeinen Diskurs kaum penetriert haben.

Welche Rolle spielt das Internet für die Meinungen, die wir vertreten?

Es mag zwar sein, dass verschiedene Tageszeitungen auch in Vergangenheit verschiedene politische Dogmen repräsentierten und deren Leser*Innen somit eher jene bevorzugten, welche die eigene Meinung verstärkten, doch seitdem das Internet das Spielfeld betrat, fand zweifellos eine Intensivierung dieser Tendenz statt. Die so genannten „Alternativen Medien“, welche im Grunde von Jedem Meinungsträger mit einer Internetverbindung ins Leben gerufen und betrieben werden können, hatten Anfangs den Anschein, die mediale Landschaft mit einer neuen Art von Aufklärung zu bereichern. Die freie Presse erweiterte sich und die so genannten Mainstream-Medien bekamen es mit einem Gegenpol zu tun, welcher die Letzteren angeblich auf ihre Inhalte kontrollierte, kritisierte und revidierte. Neue Wahrheiten wurden somit in die Öffentlichkeit gebracht und das Vertrauen in die herkömmlichen Medienmodelle ging ein Stück weit verloren. Mittlerweile genießen einzelne rhetorisch begabte, selbsternannte Journalisten (deren Tätigkeit jedoch eher an die von Aktivisten erinnert) einen Personenkult von prophetischem Ausmaß, welche mit einem Video Millionen von Menschen erreichen und tausende von diesen auch mobilisieren können.

Ein Blick in die Vereinigten Staaten lohnt sich, um ein Bild davon zu bekommen, was es heißt in einem Land Politik und Wissenschaft zu betreiben, in welchem es keine Wahrheit mehr gibt, sondern nur Fake News. Ilya Sutskever, einer der führenden K.I.-Forscher unserer Zeit sagt, die Künstliche Intelligenz hätte das Potential progressive Lösungsansätze für einen Großteil der Herausforderungen der Zukunft und Gegenwart (Klima-Wandel, soziale Ungleichheit, usw.) zu liefern, jedoch sei für ihn die Problematik der gezielt verbreiteten und teilweise von K.I. generierten Missinformation und Desinformation, zu Deutsch „Fake News“, etwa eine hundert mal ausschlaggebendere Herausforderung. Es ist nämlich nicht nur möglich, lückenhafte bzw. falsche Informationen zu verbreiten, sondern z.B. auch bereits existierende menschliche Stimmen artifiziell so zu generieren oder verändern, dass man grundsätzlich Personen des öffentlichen Lebens Dinge sagen lassen kann, die sie nie gesagt haben. In einer Welt, wo Staatsoberhäupter Twitter als ihren primären Kommunikationskanal mit der Bevölkerung gewählt haben und Hacker im Grunde zu Soldaten werden, liegt es also auf der Hand, dass beim Konsum von Medien allerhöchste Vorsicht geboten ist. Steve Bannon, Chef-Stratege der Wahlkampagne Trumps 2016, hat die Sprengkraft dieser Technologien nur zu gut verstanden und das Budget in jene Kanäle investiert, die Wähler anhand raffinierter Algorithmen durchaus besser beeinflussen konnten, als es z.B. Clintons Team mit herkömmlichen TV-Werbespots konnte. Bannon ist noch dazu Gründer von Breitbart.com, einem Medienportal was in sehr vielen Fällen über dieselben Ereignisse wie etwa CNN berichtet, doch meist ein gegenteiliges Licht auf das wirklich Geschehene leuchtet. Bei Leser*Innen, die sich entweder nur über CNN informieren, oder eben nur über Breitbart, spricht man von so genannten „Rabbitholes“, d.h. länger dauernde Prozesse, die die zunehmend tiefere Steigerung in die unilaterale Materie befördern und von Algorithmen unterstützt werden, so dass auf den persönlichen Profilen der User die unerwünschten Inhalte gar nicht mehr erscheinen und die gewünschten hingegen vermehrt und intensiver auf dem Bildschirm landen.

Wo ist in einer derart komplexen Landschaft also die „Wahrheit“ zu finden?

Ein erster wichtiger Schritt für die Immunisierung gegen Fake News liegt im Bewusstsein über das zu konsumierende Medium, um das Verfangen in Ideologien und eine darauffolgende radikal-dogmatische Lagerbildung in mehrere Parallelrealitäten innerhalb einer Gesellschaft zu vermeiden, denn diese stehen einer produktiven, demokratischen Diskussion zwangsläufig im Weg.

Der zweite Schritt besteht dann darin, sich nicht ausschließlich mit Inhalten zu beschäftigen, sondern auch mit den Methoden, die den Informationsgewinn des Mediums X oder Y ermöglichen. In der akademischen Forschung bilden Quellen das Fundament für den Erkenntnisgewinn. Ohne Literaturangabe, d.h. zugängliche Belege und Beweise für aufgestellte Thesen, gibt es keinen Inhalt. Dank dieser durchaus strengen Methode kann sich ein wissenschaftlicher Prozess entwickeln, der aufeinander aufbaut, sich gegenseitig verbessert, erneuert oder bestätigt. Im „Mainstream-Journalismus“ ist dies nicht anders. Alles Geschriebene muss in der Regel eine fundierte Quellenlage liefern und von einer Redaktion überprüft werden. Dieser Schritt wird in den „Alternativen Medien“ oft übersprungen und wenn nicht, so hilft ein Blick in die Quellen maßgeblich, um den „Wahrheitsgehalt“ oder zumindest die Glaubwürdigkeit gewisser Inhalte zu erkennen. Nur darin kann die Möglichkeit bestehen, das Seriöse vom Unseriösen zu differenzieren.

Man verzeihe mir nun die große Pauschalisierung: Interessanterweise ist aber festzustellen, dass die lautesten Querdenker der letzten Monate, jene die sich ständig von ahistorischen Vergleichen mit Diktaturen der Vergangenheit, pseudo-wirtschaftlichen Know-How und epidemiologischen Google-Funden bedienen, nur selten jünger als vierzig Jahre sind. Dies wird dann oft so erklärt, dass die längere Lebenserfahrung mehr Weisheit mit sich bringe und sie der Wahrheit ein Stück näher seien, als die Jungen. Zugleich heißt das aber auch, dass jene Generation am „kritischsten“ zu denken scheint, die mit konventionellen Medien aufgewachsen ist und sich den Umgang mit dem Internet erst im Erwachsenenalter, als die Weisheit schon angekommen war, angeeignet hat.

In der noch bestehenden, ursprünglichen Netzkultur, jener Kultur der Foren, abseits von Facebook, Twitter und Instagram, auf die die Mehrheit der 40+ (und freilich auch viele Jüngere) nicht verweilt, weil der Humor ein eigener ist und zu viele Begriffe aus dem Englischen kommen, wird diese Haltung belächelt und als „Boomer“ bezeichnet. Auf Wikipedia ist zum Begriff folgendes zu lesen: „Boomern werden hierbei häufig veraltete bzw. konservative Ansichten und wenig Belehrbarkeit und Offenheit für neue Dinge vorgeworfen, die zu einem Generationskonflikt führen. Im Jahr 2019 entwickelte sich die Phrase "OK Boomer“ zu einem Internet-Meme, die sich als Gegenbewegung der Klischees über die Generation Y und Generation Z versteht und stattdessen Stereotype über die ältere Generation aufgreift.“

Wenn 2020 uns aber etwas lehren konnte, dann muss das wohl die überfordernde Geschwindigkeit sein, in der die Welt sich wandeln und verändern kann.  

Hiermit soll also absolut keine Aristokratie, die ausschließlich aus Politologen, Virologen und Philosophen besteht, propagiert werden, im Gegenteil: Pandemie-bezogene finanzielle, wirtschaftliche, politische, psychische, gesundheitliche Sorgen müssen weiterhin tiefgründig und vielfältig diskutiert werden. Das wirklich kritische Denken darf nicht aufhören und auch vernünftige Kritik an der Politik ist nicht nur berechtigt, sondern wichtig. Dass es einen dermaßen großen Diskurs gibt, ist keineswegs verwerflich. Allerdings ist es für den Erhalt eines sinnvollen, vernünftigen und weiterführenden Diskurs ausschlaggebend, dass man dem einen Rahmen setzt. Der Rahmen soll dabei nicht aus Inhalten bestehen, sondern aus dem Bewusstsein darüber, wie das Internet funktioniert, was es kann, welche Gefahren dabei entstehen, sowie über die Methoden, d.h. die Quellen, die herangezogen werden, um gewisse Aussagen zu treffen. Eine Immunisierung gegen Desinformation, halben Wahrheiten und politischen Radikalisierungen sind für den Erhalt unserer demokratischen Realität fundamental.

Vielleicht, und auch nur vielleicht, gelangt man dann zur Einsicht, dass eine demokratische Reformation der Institutionen doch ein besserer Weg sein könnte, als eine Revolution, bei der die gierigen Lügner und Gauner in Brüssel, Rom und Bozen, sowie die korrupten Eliten in den etablierten Medienhäusern und Universitäten endlich unter der Guillotine zur Rechenschaft gezogen werden. Vielleicht, und auch nur vielleicht sind wir doch alle nur von der Komplexität der Postmoderne maßlos überfordert und suchen mit veralteten Methoden verzweifelt nach den Verantwortlichen.

Jacob Burckhart hat einmal geschrieben, die Essenz der Tyrannei liege in der Verleugnung der Komplexität.