Politik | Direkte Demokratie

Was, wenn es keine Verlierer gäbe?

Vorbereitung und Rahmenbedingungen der Direkten Demokratie: Gedanken und Verbesserungsvorschläge anhand von aktuellen Beispielen.
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

Inhalt

1 Das „Referendum“ zu Benko
2 Referendum zum Flughafen
3 Das Systemische Konsensieren
4 Schlussfolgerungen

1 Das „Referendum“ zu Benko

Das „Referendum“ zu Benko und jenes zum Flughafen haben mir bewusst gemacht, wie wichtig eine gute Vorbereitung und die korrekten Rahmenbedingungen sind.

Das „Referendum“ zu Benko war kein Referendum, sondern eine Volksbefragung mit ad hoc erfundenen und tendenziösen Regeln. Bei einem Ja hat sich der Kommissar bestätigt gefühlt, bei einem Nein hätte er das Projekt nicht abgelehnt, sondern an den nächsten Gemeinderat weiter verwiesen. Wählen konnten auch Pendler und 16-Jährige, es gab kein Quorum. Solche Regeln gelten nicht allgemein, sondern galten nur für diese Volksbefragung. Warum? Über urbanistische Themen sind in Bozen keine Referenden zugelassen, aber eine Volksbefragung konnte darüber durchgeführt werden. Warum?

Auch die Fragestellung war tendenziös, es gab kein Abstimmungsheft, es gab keine neutrale Informationsstelle, es gab keine offiziellen Informationsstellen, wo sich Pro und Contra in ausgewogener Art präsentieren konnten, es gab keine finanzielle Ausgewogenheit.

Wer nur den Text der Fragestellung ohne deren Hintergründe kannte, konnte nur dafür sein, so war der Text formuliert.
Die meisten Personen, die ich kenne und die mit „ja“ gestimmt haben, wollten einfach, dass etwas passiert und dass „der Stillstand aufhöre“.

De facto hat die Volksbefragung die Bevölkerung gespalten statt Frieden gebracht. Es gab dann Gewinner und Verlierer.


2 Referendum zum Flughafen

Das Referendum zum Flughafen ist zwar eine Spur besser vorbereitet, es gibt aber doch einiges, was wesentlich zu verbessern wäre.
Bei jeder unternehmerischen oder politischen Entscheidung sollen wir aufgrund von Fakten beurteilen und die Konsequenzen vergleichen.

Ich will das an folgenden Beispielen aus der Abstimmungsbroschüre verdeutlichen:

a) die Kosten

contra

Der Flugplatz wird über 200 Millionen Euro kosten. Bisher wurden 124 Millionen Euro ausgegeben, bis 2035 sollen es weitere 80 Millionen Euro sein.

Der Flughafenbetrieb samt Landesfeuerwehrdienst kostete bisher jährlich rund 7 Millionen Euro. Künftig werden die Betriebskosten weiterhin steigen und im Jahr 2035 13 Millionen betragen.

pro

Kosten Flugplatz

offene Fragen

Welche Kosten wurden von den Befürwortern nicht eingerechnet?
Wie wurde die Kostenbeteiligung der Handelskammer eingerechnet, welche ja auch von Zwangsbeiträgen und öffentlicher Finanzierung lebt?

Hier kommen weitere Zahlen von den Gegnern ins Spiel, welche von den Befürwortern nicht erwähnt werden.

Welche Summen ergibt es schlussendlich, wenn man alle Kostenfaktoren zusammen rechnet?

b) die Konsequenzen

contra

Wenn das NEIN gewinnt, wird das Land keineswegs die Kontrolle über den Flughafen verlieren, im Gegenteil! Denn Rom ist faktisch nicht mehr am Flughafen Bozen interessiert und hat bereits entschieden, ihn mit dem „Piano Nazionale Aeroporti“, in Kraft seit dem 2. Jänner 2016, dem Land zu übertragen. Zugleich ist es mehr als zweifelhaft, dass ein Flughafen mit chronischem Defizit das Interesse Privater wecken könnte. Die Landesregierung verfügt also über alle Befugnisse, um den Willen des Volkes zu respektieren. Der Sieg des NEIN am 12. Juni wird den Flughafen nicht dem Staat oder Privaten ausliefern, sondern wird ihn dem Land und vor allem den Bürgerinnen und Bürgern zurückgeben.

Siehe auch Infos der Gegner

pro

NEIN HEISST ... Das Land Südtirol zieht sich aus dem Betrieb des Flughafens Bozen zurück und überlässt den Flughafen einer ungewissen Zukunft. Das Land Südtirol stellt die Zahlungen an die Flughafen- Betreibergesellschaft ABD ein und der Betrieb wird europaweit ausgeschrieben.

Siehe auch Infos der Befürworter

offene Fragen

Bei dieser Frage geht es nicht um Meinungen oder Weltanschauungen, sondern um harte Fakten. Hier ist es unverantwortlich, die Bevölkerung in einer Unsicherheit zu belassen.
Wenn die Konsequenzen nicht klar sind, dann ist eine Entscheidung zum Thema verfrüht.


Meine Gedanken dazu

Es fehlt eine neutrale Stelle, welche die Fakten bestätigt. Nur die Meinungen oder Weltanschauungen kann man den Pro- und Contra-Seiten überlassen.
Weiters fehlt auch die Möglichkeit, dass Pro und Contra gleichberechtigt an der Fragestellung mitwirken.
Ein Referendum soll nicht nur eine Beteiligung ermöglichen, sondern auch Frieden in die Gesellschaft bringen.


3 Das Systemische Konsensieren

Diesem Ziel näher kommen wir, wenn wir zur Vorbereitung die Methode des „Systemischen Konsensierens“ verwenden (siehe www.sk-prinzip.eu ). Reine Mehrheits-Abstimmungen haben den Nachteil, dass unter den Verlierern, deren Anteil auch beträchtlich sein kann (auch bis zu 30 oder 49,9%), ein großes Konfliktpotential steckt.

Systemisches Konsensieren ist ein bestimmter Weg der gemeinsamen Entscheidungsfindung oder Entscheidungsvorbereitung. Als Konsensieren bezeichnen wir den kreativen Prozess der bestmöglichen Näherung an den Konsens, also das Finden der größtmöglichen Übereinstimmung unter Menschen. Systemisches Konsensieren nennen wir den hier beschriebenen Entscheidungsweg deshalb, weil er systembedingt zu einem konstruktiven Verhalten aller Beteiligten führt, ohne von ihrem guten Willen oder sonstigen Eigenschaften abhängig zu sein.

Was zeichnet diese Methode aus?

Was aus systemischem Konsensieren folgt, ist, dass die Entscheidung
– keine klassischen Verlierer liefert
– auf die geringste Ablehnung in der Gruppe stößt
– somit von der Gruppe am leichtesten getragen wird
– somit keinen Streit fördert, sondern bestehenden Streit auflöst
– die Kreativität aller Beteiligten mit einbezieht und diese somit fördert
– dem idealen Interessenausgleich und somit dem Konsens am nächsten kommt
– daher als Problemlösung am ehesten infrage kommt

Das Systemische Konsensieren ist eine mehrstufige Entscheidungsfindung, wobei sowohl die Zustimmung der Gruppe als auch der Gruppenwiderstand von einzelnen Lösungen/Vorschlägen erfasst wird. Jene Lösung bzw. jener Vorschlag gilt als mehrheitlich angenommen, der sowohl die maximale Zustimmung als auch den geringsten Gesamt-Widerstand aufweist, wobei der Widerstand differenziert angegeben wird, z.B. von 0 (kein Widerstand) bis 10 (maximaler Widerstand), bzw. die Zustimmung, z.B. von 0 (keine Zustimmung) bis 5 (maximale Zustimmung). Wenn der Gesamt-Widerstand über einer Schwelle von z.B. 30% liegt, so ist das Konfliktpotential noch zu groß, wodurch nach weiteren Lösungen gesucht werden muss.

Wenn mehrere Durchgänge der Abstimmungen erfolgen, können die Vorschläge so abgeändert werden, dass sie immer weniger Widerstand bei den Gegnern erzeugen. Die Lösung bzw. der Vorschlag mit dem geringsten Widerstand ist auch jener mit dem geringsten Konfliktpotential, wodurch sich win-win-Situationen leichter ergeben.

Das Systemische Konsensieren ist für die Vorbereitung von Vorschlägen und für die Erarbeitung der Fragestellung sinnvoll. Für die Volksbefragung werden dann im besten Fall nach Schweizer Vorbild in der Abstimmung zwei Fragen gestellt:
1. Wollen Sie eine Reform oder wollen Sie lieber den Status Quo (= Null-Lösung) beibehalten?
2. Falls eine Reform kommt, wäre Ihnen lieber der Vorschlag A oder der Gegenvorschlag B?


4 Schlussfolgerungen

Verbesserungen erreichen wir, wenn das Bewusstsein erfahrener Mängel konstruktiv zu Korrekturen eingesetzt werden.

Eine neutrale Informationsstelle beim Landtag schildert kurz den Sachverhalt inklusive der harten Fakten. Deren Garantenkommittee legt die Fragestellung fest, hier könnte das Systemische Konsensieren angewandt werden.
Den Promotoren und deren Gegnern werden die Meinungen, Weltanschauungen und Wertvorstellungen überlassen, die unterschiedlich sind und auch sein sollen - wir leben ja in einer pluralistischen Gesellschaft!

Beim Referendum zum Flughafen könnte ein Gegen-Vorschlag der Gegner über das Systemische Konsensieren erarbeitet werden und die Bevölkerung könnte dann über diese gemeinsam abstimmen.

Auch bei der Fragestellung zu Benko hätte das Systemische Konsensieren über einen Gegen-Vorschlag der Gegner mehr Frieden in die Bevölkerung gebracht.

Bei der neuen Gemeindesatzung in Bozen sollen neue Regeln zur Bürgerbeteiligung erstellt werden.

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Christian Mair Mi., 01.06.2016 - 18:53

Danke für diese Zusammenfassung und das konstruktive Fazit!
Im Zusammenhang mit den Bozner Gemeinderatswahlen und den Volksbefragungen/Volksinitiativen möchte ich noch einen weiteren Vorschlag machen:
Jede Partei, die zu den Gemeinderatswahlen antritt könnte einen Vorschlag zu einem Gemeindegesetz einbringen über den dann bei der Gemeindewahl gleichzeitig abgestimmt wird. Die meisten politischen Prozesse der letzten 5 Jahre, die bis in die Ebene der öffentlichen Meinung vorgedrungen sind, könnten mit einer einzigen Wahl entschieden werden. Diese Lösung würde dem vielbeklagten Stillstand vielleicht eine strukturell sinnvolles Instrument entgegensetzen, das zudem den Graben zwischen Parteipolitik und direkter Demokratie überwindet.

Mi., 01.06.2016 - 18:53 Permalink
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gorgias Mi., 08.06.2016 - 10:20

Im 1. Beispiel wird von 4 Freunden die sich respektieren gesprochen. Im zweiten Video wird geprochen wenn wir als wohlwollende Menschen friedlich miteinander auskommen wollen.

Ja wenn das so wäre, wäre es schön. Das systemische Konsensieren funktioniert vieleicht in kleineren Gruppen gut, aber in der Politik wo doch man wenig wohlwollen findet. In der Spitze der Gesellschaft wo es die ganzen Soziopathen hochspühlt ist das für mich fraglich.

Das systemische Konsensieren wäre interessant, wenn man in der Schule die Maiausflugsdestination wählt. Ansonsten weiss ich nicht.

Gibt es schon Anwendungen in politischen Prozessen. Würde mich interessieren.

Mi., 08.06.2016 - 10:20 Permalink
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Sepp.Bacher Mi., 08.06.2016 - 11:42

Antwort auf von gorgias

Ich denke, dass es schon funktionieren kann, wenn der Prozess nicht von Lobbyisten und Hetzern von außen gestört wird. Etwas Ähnliches hat es ja mit der Flughafen-Mediation vor Jahren gegeben. Das Problem ist jetzt, dass sich eine Seite nicht mehr an die getroffenen Abmachungen hält!

Mi., 08.06.2016 - 11:42 Permalink