Gesellschaft | Gastbeitrag

Ex libris

Die Bibliothek als Ort gelebter Demokratie.
Bibliothek
Foto: Pixabay

Der Lokalpolitiker, der sich dafür ausgesprochen hat, den Bau der neuen Bibliothek für Bozen nicht weiterzuverfolgen, „denn wir lesen ja heute hauptsächlich auf dem Handy und eine so große Bibliothek wird nicht mehr gebraucht“, versteht den Titel dieses Beitrags natürlich nicht. „Ex libris“ sind die kleinen verzierten Blätter, die - auf der inneren Umschlagseite eines Buches eingeklebt - den Namen des Besitzers des Buches dokumentierten. So verweist der Titel des Films „Ex libris“ auf den Ort, an dem Bücher gesammelt werden. „Eine dokumentarische Sensation: Der große Filmemacher Frederick Wiseman porträtiert in ‘Ex Libris‘ die New Yorker Public Library.“ So beginnt die Rezension in der ZEIT.

Was hat uns der dreieinhalb-stündige Film des 88-jährigen Fredrick Wiseman zu sagen? Zwei Details: Für die Menschen in New York ohne Internetanschluss – es sind 3 Millionen – verleiht die Bibliothek Router. Was die Obdachlosen betrifft, die den Tag in der Bibliothek verbringen, wird nicht an einer Strategie gefeilt, wie man sie aus der Bibliothek hinauswerfen kann, sondern welche Möglichkeiten es gibt, dass sie in der Bibliothek auch übernachten können.

Von Anfang an hatte die Bibliothek eine soziale Seite. Jeder New Yorker sollte zu Fuß eine Zweigstelle erreichen können, um dem Wesen der Bibliothek als Volkshochschule und Gemeinderaum gerecht zu werden, als Ort gelebter Demokratie.

Südtirol hat in vielen Gemeinden solche Orte. Nur in der Landeshauptstadt nicht. Es fehlt am Geist, der die Benutzer der Bibliothek verbindet. Es gibt keine gemeinsame Bibliothek.

Es geht nicht allein um das gemeinsame Dach eines Gebäudes. Es geht um die gemeinsam erfahrene und erlebte Kultur.

Es könnte diese Bibliothek aber bereits geben. 2003 wurde das Projekt zu dieser Bibliothek ausgeschrieben. Drei Jahre später war die Finanzierung für das Siegerprojekt gesichert, dann aber haben italienische Politiker den Bau der Bibliothek verhindert. Der Grund dafür war, dass der damalige Landeshauptmann Luis Durnwalder, dem die neue Bibliothek ein Herzensanliegen war, darauf bestand, eine Bibliothek für alle zu schaffen und nicht einfach die drei bestehenden Bibliotheken, die Biblioteca Civica, und die beiden Landesbibliotheken, die italienische und die deutsche, unter einem gemeinsamen Dach als getrennte Institutionen weiterzuführen.

Das war für die italienischen Politiker ein unzumutbarer Vorschlag. Denen waren anscheinend die zwei italienischen Direktorenposten wichtiger als die Leser und die ökonomischen und die sozialen Impulse, die eine große Stadt- und Landesbibliothek für das gesamte Stadtviertel bedeutet hätte. Wie es mit dem Stadtviertel heute aussieht, sehen wir jeden Tag.

Der Hinweis auf den wunderbaren Film des Altmeisters des Dokumentarfilms, der 2016 mit dem Oscar für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde, ist kein „Aufhänger“ für die aktuellen Diskussionen in Bozen. Im Gegenteil. Die Ignoranz der Bozener Politiker soll durch den Hinweis auf den Film und die darin porträtierte Bibliothek durch Aufklärung überwunden werden.
Der entscheidende Eindruck, den der Film von der Bibliothek vermittelt, ist der eines sozialen Ortes der Vielfalt, einer Institution, die genau dafür geschaffen wurde, das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kulturen und Sprachen zu fördern.

Dass diese Chance für Bozen, die vor 13 Jahren kurz vor der Realisierung stand, von „unseren“ Politikern zurückgewiesen wurde, ist Indiz einer dramatisch inkompetenten Sicht auf die Zukunft der Menschen in unserem Land.
Oder ist es vielleicht etwas anderes als Inkompetenz?

Geht es tatsächlich nur um zwei Direktorenposten, oder steht vielleicht mehr auf dem Spiel?

Politik übernimmt Verantwortung für die Zukunft.

Südtirol hat in vielen Gemeinden solche Orte. Nur in der Landeshauptstadt nicht.

Können wir Südtiroler, die die neue Bibliothek erwarten und sie später auch benutzen werden, uns wirklich vorstellen, dass in 30 oder in 50 Jahren in der neuen Bibliothek immer noch drei Direktoren ihres Amts walten werden?
Wenn wir aber in Gedanken an eine Veränderung der administrativen und politischen Umstände denken, sollten wir dann den Flug unserer Gedanken auf die Bibliothek der Zukunft beschränken?
Was ist mit der Kultur? Soll es in fünfzig Jahren in Südtirol immer noch drei Landesräte für Kultur geben, einen für die italienische Kultur, einen für die deutsche und einen für die ladinische Kultur?
Waren diese Stellen denn in den letzten Jahren mit kompetenten Politikern besetzt, die sich in Sachen Kultur auskennen? Wären es Fachleute, wie könnten sie dann die Kultur in Südtirol in drei getrennte Schubladen ablegen? Müssten sie nicht aus Protest gegen diese Ungeheuerlichkeit zurücktreten und die Schaffung eines einzigen Landesamts für Kultur fordern?

Genauso bei der Bibliothek. Es geht nicht allein um das gemeinsame Dach eines Gebäudes. Es geht um die gemeinsam erfahrene und erlebte Kultur.

Die neue Bibliothek hätte 2018 eröffnet werden sollen. Heute wären wir also im ersten Jahr der neuen, kulturell fundierten Epoche des gemeinsam erlebten und gelebten Südtirol.

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Renate Holzeisen Sa., 01.06.2019 - 18:33

Ausgezeichnete Analyse, anhand eines konkreten Beispiels, der unheilvollen politischen Betreibung der kulturellen Apartheid in unserem Lande, die de facto die bewusste Verhinderung des miteinander Genießens von zwei (drei) großartigen Kulturen bedeutet. Diese absurde Situation ist alles andere als Ausdruck von kulturellem Selbstbewusstsein, sondern reine partei- und postenpolitische Kleinkrämerei. Wir sind halt leider noch sehr weit davon entfernt, ein "kleines Europa" im großen Europa zu sein.

Sa., 01.06.2019 - 18:33 Permalink