Gesellschaft | Interview

„Das typische Heimkind gibt es nicht“

Die Soziologin Andrea Nagy gewährt Einblicke in die Lebenswelt von „Heimkindern“.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
Andrea Nagy
Foto: Andrea Nagy

Andrea Nagy, Soziologin an der Fakultät für Bildungswissenschaften in Brixen, hat im Universitätsverlag bu.press das Buch „Vom Heim in die Selbständigkeit – Perspektiven jugendlicher Care-Leaver auf den Übergang“ veröffentlicht. Früher hat sie selbst als Erzieherin in einer Fremdunterbringung gearbeitet, heute will sie mit ihrer Forschung mehr Aufmerksamkeit auf das Thema lenken und dazu beitragen, Vorurteile abzubauen.

Frau Nagy, Sie haben vor kurzem ein Buch über die Perspektiven jugendlicher Care-Leaver veröffentlicht. Gibt in diesem Bereich bereits viel Forschung?

In Südtirol ist meine Studie die erste, die sich mit diesem Thema befasst. Bereits der Begriff „Care-Leaver“ ist vielen neu. Auf internationaler Ebene ist der Forschungsbereich seit circa 20 Jahren von Interesse. Dabei gibt es folgende Schwerpunktfragen: Wie es den Jugendlichen in Fremdunterbringung geht, welche Chancen sie haben und welchen Benachteiligungen sie erfahren. Auch die Effekte von Sozialer Arbeit und staatlichen Unterstützungsmaßnahmen werden untersucht.

Viele Jugendliche haben Angst, dem Stigma zu entsprechen. 

Im öffentlichen Diskurs werden Kinder und Jugendliche, die fremduntergebracht sind, selten erwähnt.

Bei den Jugendlichen in Fremdunterbringung handelt es sich um eine kleine Gruppe, die oft vergessen und in sozialpolitischen Regelungen nicht mitgedacht wird. In den letzten Jahren ist über die Fremdunterbringung oft negativ berichtet worden. Das wirkt sich auf diese Jugendlichen belastend aus: Sie haben Angst vor einer Stigmatisierung und verheimlichen manchmal sogar die Fremdunterbringung. Im Zuge meiner Forschung habe ich bemerkt, dass viele Jugendliche Angst haben, dem Stigma zu entsprechen. Das äußert sich dadurch, dass sie Angst haben zu scheitern oder auf der Straße zu landen.

 

 

Mit welchem Forschungsansatz sind Sie an das Thema herangetreten?

Ich wollte ursprünglich herausfinden, was die Jugendlichen auf Grund dieser geteilten Erfahrung gemeinsam haben. Aber es waren wenige Gemeinsamkeiten da: das typische Heimkind existiert nicht. Die einzige Gemeinsamkeit, die ich bei allen wahrgenommen habe, ist, dass sie sich gegenüber der Gesellschaft mit dem Stigma des Heimkindes auseinandersetzen müssen. Insgesamt haben bei der partizipativen Forschung 26 Jugendliche teilgenommen. Ich habe einen qualitativ verstehenden Forschungsansatz gewählt, weil mich interessiert hat, wie die Jugendlichen selbst den Übergang von der Fremdunterbringung in die Selbstständigkeit sehen. Während des Forschungsprozesses waren die Jugendlichen zwischen 12 und 20 Jahre alt, die meisten waren in der Altersgruppe 16, 17, so dass sie ein Jahr später die Fremdunterbringung verlassen haben. Im Prozess haben wir auch kreative Forschungsmethoden wie Gruppendiskussionen, Gruppenaktivitäten mit Zeichnungen und Sozialraum-Begehung durchgeführt. Nicht alle 26 Jugendliche haben an allen Phasen teilgenommen.

Viele kehren wieder in ihre Herkunftsfamilien zurück, oft auch aus Mangel an Alternativen.

Wie kann man sich diesen Übergang in die Selbstständigkeit vorstellen?

Mit dem Ende der Minderjährigkeit also mit dem 18.Geburtstag ist die Fremdunterbringung de facto zu Ende. Einige, die noch Bedarf haben, dürfen bis zum 21.Geburtstag bleiben, bzw. bei Straffälligkeit bis zum 25.Geburtstag. Der Großteil der Jugendlichen verlässt aber mit 18 Jahren die Fremdunterbringung. Viele kehren wieder in ihre Herkunftsfamilien zurück, oft auch aus Mangel an Alternativen. Der Auszug bringt auch andere Komplikationen mit sich: zum Beispiel, wenn jemand eine Lehre am Ort der Fremdunterbringung beginnt und zurück zur Herkunftsfamilie zieht, die geographisch wo anders ist, geht die Lehrstelle verloren. Manche Jugendliche können auf die Unterstützung der Herkunftsfamilie zurückgreifen, andere nicht. Über verschlungene Wege, das heißt über Freunde oder Kontakte aus der Herkunftsfamilie oder durch informelle Hilfe von Betreuer*innen gelingt den Jugendlichen der Übergang in die Selbstständigkeit.

 

 

Wie empfinden die Jugendlichen selbst diese Phase?

Die Jugendlichen nehmen ihre Chancen, Möglichkeiten und fehlende Möglichkeiten realistisch wahr. Sie machen sich Gedanken, wie sie mit ihrer Selbstständigkeit umgehen sollen. Eine große Sorge, die immer im Raum stand, war, nicht ausreichend Geld für Wohnraum zu verdienen. Die Vorstellungen von Selbstständigkeit hängen stark mit der Wahrnehmung der eigenen Identität und dem kulturellen Hintergrund zusammen. In kulturell gemischten Gruppen wollten einige ins Ausland gehen und dort neu beginnen. Homogene Gruppen, die sich aus Südtiroler*innen zusammensetzten, wollten wieder in die Herkunftsfamilie, zum Beispiel zur Oma oder zur Tante, zurückgehen. Auffallend war, dass sie sich über den professionellen Werdegang wenig Gedanken gemacht haben.

Die Jugendlichen erfahren eine Benachteiligung im Übergang.

Inwiefern kann der professionelle Werdegang mit der plötzlichen Selbstständigkeit im Alter von 18 Jahren in Verbindung gebracht werden?

Die Jugendlichen wissen, dass sie mit 18 Jahren die Fremdunterbringung verlassen müssen und streben deshalb selten ein Studium oder eine längere Bildungskarriere an. Oft möchten sie erst Jahre später ein Studium beginnen, wofür ihnen dann meist Voraussetzungen wie die Matura fehlen. Lebenslanges Lernen oder kostenlose Bildungsangebote würden hier sehr förderlich sein. Im Vergleich zu anderen Jugendlichen, die in der Herkunftsfamilie groß werden, ist hier eine besonders große Benachteiligung erkennbar. Denn diese haben viel mehr Chancen sich auszuleben, zu experimentieren und werden oft bis zum 30.Lebensjahr von den Eltern in irgendeiner Form unterstützt. Im Zuge eines weiterführenden Forschungsprojektes, werde ich untersuchen, welche Bildungs- bzw. Berufswege die Jugendlichen in Fremdunterbringung eingeschlagen haben.  

 

 

Welche sozialpolitischen Maßnahmen würden den Jugendlichen weiterhelfen?

Selbstvertretungsnetzwerke, wie das Care Leaver Network Italia, wären wünschenswert. In Trient gibt es diese Gruppe: sie hat politischen Einfluss und die Jugendlichen können ihre eigene Stimme einbringen und ihre Bedürfnisse selbst artikulieren. Denn die Jugendlichen haben das Recht auf Unterstützung zu pochen, weil sie sich in einer besonderen Situation befinden. Soziale Arbeit sollte diese Netzwerke stärken. Im Endeffekt handelt es sich dabei um einen Kreislauf: mehr Bewusstsein führt zu mehr Öffentlichkeit und das führt zu mehr Rechten.

Die Kinder und Jugendliche teilen wenige Gemeinsamkeiten auf Grund der Erfahrung. 

Abschließend: welche Erkenntnisse haben Sie an der Studie überrascht?

Wie bereits anfangs erwähnt: die Tatsache, dass es kein typisches Heimkind gibt. Die Kinder und Jugendliche teilen wenige Gemeinsamkeiten auf Grund der Erfahrung. Vielmehr haben sie individuelle Ideen, Vorstellungen und Ressourcen. Das ist doch ein schönes Ergebnis und ein gutes Zeichen, dass die Unterbringung gut funktioniert und auf die Individuen eingegangen wird. Die Jugendlichen erfahren eine Benachteiligung im Übergang. Mit meinem Buch möchte ich einen Einblick in die Fremdunterbringung geben und die Vorurteile der Gesellschaft gegenüber Jugendlichen in Fremdunterbringung endlich aus dem Weg räumen.