Kultur | Salto Weekend

„Distel“ auf  fruchtbarem Terrain

Südtirols mediale und kulturelle Gründerzeit um 1980. Ein Gastbeitrag aus der Zeitschrift "Kulturelemente" (#158/159).
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Foto: Kulturelemente/the-perfect-beach

Als die Distel 1981 in Südtirol erstmalig erschien, fand sich das neue Journal in einer Welle medialen und öffentlichen Aufbruchs, der die Autonome Provinz Bozen vitalisierte. Obwohl die politischen Mehrheitsverhältnisse ebenso unverrückbar erschienen wie die Medienmacht der dominierenden Dolomiten und Alto Adige, zeichneten sich Signale des Wandels deutlich ab.  1981 war die Stimmung gespannt, aufgrund der Auswirkungen des Autonomiestatuts, das mit Proporz und Zweisprachigkeit ab 1976 zwar nachholende Gerechtigkeit für die Minderheit versprach, aber auch die Beziehungen der Sprachgruppen belastete. Auf italienischer Seite sorgten die engeren Spielräume bei Vergabe öffentlicher Stellen und Sozialwohnungen für wachsenden Unmut, sogar für Zorn. Hinzu kam die für Oktober 1981 angesetzte Volkszählung, bei der die Sprachgruppen erstmals namentlich erfasst wurden. Bürgerinnen und Bürger hatten sich persönlich zu erklären, ob sie der deutschen, italienischen oder ladinischen Sprachgruppe angehören wollten. Die „Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung“, so lautete das amtliche Wortmonster, war eine subjektiv bindende, Lebenschancen bestimmende Deklaration. Sie förderte einen Prozess ethnischer Gruppenbildung, da aus der Zählung die Stärke der Sprachgruppen hervor ging: Wie viele „Deutsche, Italiener, Ladiner“ gab es in Südtirol, vor allem im Vergleich zu 1971?

 

Das Land durchzog ein Ruck der Ethnisierung, ein „ethnischer Einrückungsbefehl“ (H. K. Peterlini), vor dem Hintergrund einer seit 1978 rollenden Welle von Attentaten. Ein Rollback aus dem 1972 einsetzenden „Frühling der Autonomie“ in eine neue Eiszeit schien unvermeidlich, wie besonnene politische Kräfte besorgt feststellten. Um 1980 stemmten sich vor allem Kultur und Medien gegen einen Rückfall in die „bleiernen“ sechziger Jahre. Kulturell engagierte Personen und Gruppen wie medial Interessierte schufen kleine Öffentlichkeiten, mediale und reale Räume, in denen ein anderer, herrschafts- und politikfreier Diskurs Platz fand. Meinungskorridore, die Perspektiven öffneten, statt den Bretterzaun des Ethnischen und des politischen Einheitsgebots neu zu vernageln. Die ethnisch-politische Enge in Südtirol sollte von der Autonomie der Meinungsfreiheit und der Kultur übersprungen werden. Gegen den Konsensdruck und das Meinungsmonopol im Lande begehrte im August 1978 der sog. „Brief der 83“ auf, der – vom SH-Vorsitzenden Günther Pallaver initiiert – mit bekannten Unterzeichnenden mehr Pluralismus und Toleranz einforderte.

 

Eine provokante Aneignung von Räumen der Selbstverwaltung und Begegnung unternahmen im Oktober 1979 die Besetzer des Gebäudes des staatlichen Tabakmonopols in Bozen. Autonome Jugendliche aller Sprachgruppen okkupierten den leerstehenden Bau einen Monat lang, bis er im November 1979 auf Geheiß von Bürgermeister Bolognini von Polizei und Baggern geräumt wurde. Die Empörung über die Brachialaktion machte deutlich, wie groß die Freiheits- und Selbstbestimmungswünsche in Südtirol waren, zumal unter Jugendlichen. Nicht nur politisch Alternative um die von Alexander Langer 1978 gegründete Neue Linke/Nuova Sinistra, sondern Menschen aller Sprachgruppen plädierten in Wirtschaft, Medien und Kultur für ein neues Klima. Viele Initiativen rannten gegen die ethnopolitische und mediale Blockbildung nicht blindlings an, sondern eröffneten mit kreativer Verve neue Freiräume. So war das überethnische Südtiroler Kulturzentrum seit 1975 ein Inkubator kultureller Initiativen, der mit Ausstellungen, Konzerten und Theater und mit performativer Wucht die alten Mächte in zornbebende Wallung versetzte. Kunstaktionen im Meraner Raum, Inszenierungen vom Tiroler Bauernkrieg bis zum umjubelten Brecht-Stück Die Rundköpfe und Spitzköpfe im Jänner 1980 platzierten Wegmarken, die den kulturellen Aufbruch der achtziger Jahre vorweg nahmen.  

Gründerzeit  

Zugleich setzte eine kleine Gründungswelle neuer Zeitschriften ein. Die erste war zugleich die konstanteste: Die von Hans Wielander mit Freunden im Vinschgau 1976 erstmals herausgegebene Arunda, so benannt nach einem Berggipfel im oberen Vinschgau, verband Bodenständigkeit und kulturelle Öffnung, originelle Themenwahl mit hoher illustrativer Qualität. Jede Arunda-Nummer war ein sorgsam gestaltetes Kunstprodukt, getragen von bis heute unbeirrten Herausgebern. 1978 folgte im Bundesland Tirol der Föhn, gegründet vom 22-jährigen Markus Wilhelm, Bert Breit, Hans Haid und dem Südtiroler Redakteur Gunther Waibl. Der Föhn setzte von Beginn an politisch und sozial brisante Schwerpunkte, vom Fremdenverkehr bis zur Option, die – 40 Jahre nach der zeitgeschichtlichen Zäsur von 1939 – im Föhn kompetent und populär bearbeitet wurde, vorab durch Leopold Steurer, unter Mentorenschaft von Claus Gatterer. Die Südtiroler Volkszeitung suchte zwischen 1978 und 1981 eine Gegenöffentlichkeit aufzubauen, mit alternativem Biss, bis ihr dann 1981 die Puste ausging. Der medial wirkungsvollste Coup folgte im September 1980, als zur Bozner Messe erstmals ein unscheinbares Fernsehblatt erschien – das Bozner Wochenmagazin ff. Gestartet auf Anregung des SVP-Fraktionsführers im Südtiroler Landtag, Klaus Dubis, finanziert von einer Unternehmergruppe und mit dem von der RAI umgesattelten Gottfried Solderer als Chefredakteur, startete ff mit dem Anspruch, für die wachsende Zahl von Fernsehprogrammen eine farbige Programmzeitschrift vorzulegen. Das Erscheinen des Wochenmagazins war zugleich eine stille Kampfansage an die Dolomiten. Dass sich die Neue mit einer Startauflage von 80.000 an Südtirols Anzeigenmarkt gütlich zu tun gedachte, war für die Chefredaktion des Tagblatts ein Sakrileg. Die Neue geriet bald unter Druck, dem sie sich aber mit Geschick und neuen Finanzspritzen entzog. Neben medialen Nischen öffneten sich kulturelle Räume: Gleichfalls 1980 lancierte in Brixen die Gruppe Dekadenz um Georg Kaser im stimmungsvollen Anreiterkeller auch in Südtirol das Genre von Kleinkunst, wegweisend für ähnliche Gründungen in Bruneck, Bozen und Meran.

Die Distel entstand auf vorerst kargem, aber bald fruchtbarem Boden.

Die Erschließung neuer Räume für Kultur und der Start von Zeitschriften war ein wichtiger Trend in Südtirol um 1980, aber keineswegs singulär. Auch in Deutschland erschienen in den späten Siebzigern massenhaft neue Journale, Magazine und kleine Blätter: Seit 1976 lief in der BRD der Boom der Alternativpresse, die von 52 Titeln (1976) auf 391 (1980) kletterte, bis auf erstaunliche 700 Titel (1988), bis dann ein rascher Rückgang einsetzte.1  In den größeren Trend eines „Strukturwandels der Öffentlichkeit“ (J. Habermas) ordnete sich die Distel perfekt ein, als Akteurin einer Pluralisierung und zögernden Liberalisierung Südtirols. Sie hatte Anteil an einem Prozess, in dem sich viele Bürgerinnen und Bürger dem Korsett von Ethnie und Einheitsgebot entwanden, wenn sie es nicht wütend abwarfen.

 

Die Distel öffnete sich mit ihrem zunächst literarischen Schwerpunkt bald weiteren Themenfeldern, getragen von einem Herausgeberkreis von zwar nicht Dissidenten, aber auf Öffnung zielenden Absichten. Mit dem Anspruch aufgeklärter Liberalität, aber ohne die harsche Ablehnung, womit etwa die stürzflüge ab 1982 dem „System Südtirol“ (R. Holzeisen) begegneten. Die Distel entstand auf vorerst kargem, aber bald fruchtbarem Boden. Sie stach nicht, bestach aber durch Ambition und Qualitätsentwicklung, die ihr als Journal für „aktuelle Fragen“ auch nach 40 Jahren eine feste Position sichern. Und falls die kulturelemente eine geschärfte, Zuspitzung nicht scheuende Linie anpeilten, gewännen sie in einer radikal veränderten, oft diffusen Medienlandschaft neues Gewicht.

Salto in Zusammenarbeit mit Kulturelemente