Gesellschaft | Zebra.

„Es gibt viel Rassismus“

Alidad Shiri, der als 14jähriger afghanischer Flüchtling vor 16 Jahren nach Südtirol kam, über seine Heimat, die Taliban, sein Rolle als Vorzeigemigrant und seine Ziele.
Alidad Shiri
Foto: Anna Mayr
Alidad Shiri will kein Superman sein, kein Vorzeigemigrant und vor allem will er nicht bemitleidet werden. 2005 gelangte der heute 30-jährige Afghane allein nach Südtirol. Vor Kurzem hat er sein Philosophiestudium abgeschlossen, im September wurde er mit dem Dante-Alighieri-Preis und im Oktober mit der „Colomba d’Oro per la Pace“ ausgezeichnet. In diesen Tagen stellt er sein zweites Buch vor. Mit zebra. blickt er auf die Situation in seinem Herkunftsland und spricht über gebliebene und neue Beziehungen.
 
Zebra: Wie ging es Ihnen, als Sie vergangenen August nach Afghanistan geblickt haben?

 
Alidad Shiri: Es schmerzt mich unendlich, meine Stadt in den Händen von Taliban-Fundamentalisten zu sehen. Da ist ein unbeschreibliches Gefühl der Ohnmacht. Es wiederholen sich Szenen, die ich als Kind erlebt habe: Milizen mit Turbanen und Bärten, mit Sandalen und langen Haaren, mit Gewehren in der Hand, nebeneinander und hintereinander herlaufend, in alle Richtungen in die Luft schießend und „Allah Akbar“ (Gott ist groß) rufend. Diese Taliban sind in Pakistan in von Extremisten geleiteten Koranschulen ausgebildet worden. Sie glauben zutiefst an das Märtyrertum, das für sie heißt: Wenn du getötet wirst, kommst du ins Paradies. Du musst töten, um den Islam zu retten. Gegner werden beseitigt oder versklavt, vor allem Frauen.
 
Warum sind die Taliban so stark zurückgekommen?

 
Die USA und ihre Verbündeten haben das afghanische Gebiet fast vollständig verlassen, nachdem die USA vor zwei Jahren unter der Regierung Trump in Doha in Katar ein Abkommen mit den Taliban unterzeichnet haben. Die afghanische Regierung, die die Vereinigten Staaten damals eingesetzt hatten, wurde zur Seite geschoben, die Taliban waren die einzigen Gesprächspartner. Vater dieses Abkommens ist Zalmay Khalilzad, der ehemalige US-Botschafter in Kabul, von Trump installiert und von Joe Biden bestätigt. Er hatte den Amerikanern vorgetäuscht, dass die Taliban ihre Einstellung geändert hätten und bereit wären, die Menschenrechte zu respektieren, sofern sich die westlichen Streitkräfte zurückziehen würden.
 
Es wiederholen sich Szenen, die ich als Kind erlebt habe.
 
Vor allem Frauen und junge Menschen haben Angst und sind in Sorge.

 
Nach Angaben des UNHCR sind etwa sechshunderttausend Menschen auf der Flucht, unter ihnen mehr als 80 Prozent Frauen und Kinder. Sie fliehen vor der Hölle, die sie schon bis 2001 unter den Taliban erlebt haben. Jetzt leben sie wieder in Unfreiheit. Frauen dürfen nicht alleine ausgehen, nicht studieren oder arbeiten, keine Musik hören, nicht ins Kino gehen oder tanzen. Sie haben Angst, als Sexsklavinnen der Taliban zu enden. Kinder werden verkauft und zwangsverheiratet. Ich bin über Social Media mit vielen Menschen in Kontakt. Eine Frau erzählte mir weinend, dass ihre 15-jährige Cousine in der Nacht von den Taliban verschleppt wurde. Es blieb ihr keine Wahl, als am nächsten Tag in aller Frühe zu fliehen. Viele bitten um Hilfe. Aktivist*innen riskieren ihr Leben, vor allem gebildete Frauen und Mädchen, die sich in den vergangenen Jahren mutig gegen die Extremisten und den weit verbreiteten übersteigerten Nationalismus sowie gegen die Religion gestellt haben.
 
 
 
Im November haben Sie auf Facebook von einem Schulfreund erzählt, der den Taliban zum Opfer gefallen ist.

 
Wir begannen unsere Schullaufbahn als Kinder unter einem Baum. Schon damals war es schwierig: Es kam häufig vor, dass wir von der Schule zurückkamen und unsere inzwischen dem Krieg zum Opfer gefallenen Spielkameraden nicht mehr fanden. Mein Schulfreund blieb, ich ging. Er schaffte es unter großen Schwierigkeiten, seinen Abschluss zu machen. Dank der sozialen Netzwerke haben wir uns online wiedergetroffen. Ein paar Tage vor seinem Tod sprach er mit mir über seine Schwester, die ihr Leben riskierte, weil sie bei der Polizei arbeitete. Um sich selbst war er nicht so besorgt. Er fragte mich, wie seine gefährdete Schwester auf die Liste der 1.200 Personen genommen werden könnte, die Italien über einen humanitären Korridor aus Afghanistan evakuierte. Am Morgen vor seinem Tod schickte er mir eine Audioaufnahme. Ich habe sie mir bis heute nicht angehört, weil ich an jenem Nachmittag erfuhr, dass er bei einem Anschlag getötet worden ist.
 
Wir begannen unsere Schullaufbahn als Kinder unter einem Baum. Es kam häufig vor, dass wir von der Schule zurückkamen und unsere inzwischen dem Krieg zum Opfer gefallenen Spielkameraden nicht mehr fanden
 
Wie gehen Sie mit diesem Leid um?
 
Ich beschäftige mich mit sehr vielem, damit ich nicht ständig an diese humanitäre Katastrophe denken muss. In der Nacht schlafe ich wenig, lese viel, schaue mir Filme an.
 
 
 
Sind Sie mit Ihren Geschwistern und Ihrer Tante in Kontakt?
 
Ja, mein Bruder lebt in Teheran, meine Schwester und meine Tante leben in Pakistan. Als ich vor 16 Jahren nach Südtirol kam, habe ich die Spanne zwischen den Anrufen mit der Zeit verlängert. Ich habe sie seltener angerufen, weil jeder Anruf eine riesige Sehnsucht und großen Schmerz in mir ausgelöst hat. Ich bin eine rationale Person, denke viel nach, überlege mir die Konsequenzen meines Handelns.
 
Sie haben am Ritten bei Sabine und Gerhard eine neue Familie gefunden. Wie geht es Ihnen dort?

 
Ich bin sehr froh und dankbar darüber. Ich habe Gerhard als Kinderdorf-Mitarbeiter in Meran kennengelernt, war oft bei ihnen daheim zu Gast und bin später als Ziehsohn bei ihnen eingezogen und mit meinen neuen Geschwistern Greta, Pia und Erik groß geworden. Sabine und Gerhard sind außergewöhnliche Menschen, die große Bereitscha und Offenheit an den Tag legen. Sie haben viel mit mir diskutiert, sie stehen hinter mir, begleiten mich, geben mir das Gefühl von Heimat. Auch ihre Geschwister und deren Partner*innen haben mich wohlwollend aufgenommen. Ihre Eltern betrachte ich als meine Großeltern. Sie laden mich zu allen Feiern ein, fragen immer, ob ich mitkomme. An Festtagen war das Alleinsein als jugendlicher Geflüchteter besonders schwer.
 
Warum haben Sie mit anderen Geflüchteten den Verein UNIRE gegründet?

 
Ich möchte nicht verheimlichen, dass es viel Rassismus gibt. Wir haben uns zusammengeschlossen, um uns zu stärken. Wir müssen uns zeigen. Wir sind aus unserer Heimat geflüchtet, haben uns in Italien eingelebt, haben studiert, sind Ingenieure, Rechtsanwälte, Philosophen und eine Ressource für diesen Staat. Wir sind keine Armen, wollen, dass uns auf Augenhöhe begegnet wird. Wir möchten an einer Gesellschaft mitbauen, die offen und bereit ist, andere aufzunehmen. Wir bringen uns ein, wollen nützlich sein und andere Geflüchtete befähigen und bestärken.
 
Wir müssen uns zeigen. Wir sind keine Armen, wollen, dass uns auf Augenhöhe begegnet wird.
 
Sie sind sehr bekannt, ein Vorzeigemigrant sozusagen.

 
Das will ich nicht sein. Ich bin einer von vielen und sehe mich als Sprachrohr. Ich nutze meine Kanäle und Möglichkeiten, um mich einzubringen, um Missstände aufzuzeigen. Ich habe in den Jahren nach der Ankunft in Südtirol viel geweint, war oft allein, aber ich habe Menschen gefunden, die empathisch waren, mich unterstützt und an mich geglaubt haben. Darüber bin ich sehr froh. Jetzt will ich mitgestalten und ein bisschen von dem, was ich erhalten habe weitergeben.