Gesellschaft | Integration

Odyssee einer Anwältin

Die Geflüchtete Iryna Panchenko, deren system-kritische Worte im Salto-Interview im Juni eine rege Diskussion hervorgerufen hatten, erzählt ihre Geschichte weiter.
Iryna Panchenko
Foto: Valentina Gianera
Vor einigen Monaten hat Salto.bz ein Interview mit der ukrainischen Geflüchteten und ehemaligen politischen Aktivistin Iryna Panchenko veröffentlicht. Das Interview hat eine hitzige Debatte ausgelöst - nicht alle konnten sich in Panchenkos Worten finden, einige fühlten sich persönlich angegriffen oder verletzt. Nach Absprache mit der Redaktion haben wir uns dafür entschieden, Iryna Panchenkos Geschichte weiterzuerzählen; deshalb, weil es - trotz des persönlichen Standpunktes - nicht nur ihre eigene Geschichte ist. Panchenko hat ihre Geschichte selbst aufgeschrieben und zusammen mit der Hilfe des Bozner Gemeinderats Thomas Brancaglion (Team K) ins Deutsche übersetzt.
 
Folgender Text wurde von Iryna Panchenko geschrieben und von Thomas Brancaglion übersetzt:
 

Odyssee einer Rechtsanwältin mit Asyl

 
Im Juni 2021 hatte ich ein Treffen mit Vertretern der Bozner Sozialdienste, bei dem ich versuchte, über die Probleme der Sozialpolitik zu sprechen (der letzte Sozialplan war vor über 15 Jahren gemacht worden und ist der heutigen Situation nicht mehr entsprechend). Mein Ziel war es, nicht nur mein eigenes Problem zu lösen, sondern aus der Sicht eines Großteils der gefährdeten Menschen zu sprechen, die unter Pandemie und Lockdown gelitten haben und deren Schicksal vor und nach dieser Zeit keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Es gibt eben leider keine Möglichkeit, Hilfe zu erhalten, wenn sie gebraucht wird, denn das Geld geht nicht direkt an die Menschen, sondern an die Strukturen, wo es oft versickert.
Ich wollte mein Bestes tun, um meine traurige Erfahrung auf konstruktive Weise zu nutzen und zu erklären, warum und was nicht richtig funktioniert. Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie das System adäquate und fähige Menschen zu Clochards und Obdachlosen macht, die in den sozialen Abgrund gedrängt werden, wenn Probleme nicht rechtzeitig und auf angemessene Weise angegangen und gelöst werden.
Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie das System adäquate und fähige Menschen zu Clochards und Obdachlosen macht, die in den sozialen Abgrund gedrängt werden.
Während des Treffens war ich überrascht, dass alle die Situation sehr wohl kennen, aber weder den Willen noch die Fähigkeit haben, etwas zu ändern. Es wurden Ausreden gefunden, sie seien keine Entscheidungsträger und die Zuständigkeiten der Wirtschaftsabteilung seien andere als jene der Sozialdienste. Bei der ökonomischen Unterstützung seien die Entscheidungen auf der Grundlage von Gesetzen der Provinz automatisch, fast "informatisiert", da gibt es keinen Spielraum für Anpassungen.
So blieb meine Frage, was persönliche Sozialhilfe denn bedeute, wenn die wirklichen Bedürfnisse und die tatsächliche Situation nicht berücksichtigt werden, ohne Antwort.
Meine Ex-Sozialassistentin erzählte, dass sie bis heute 50 Euro, die sie für mich in der Not vom Vinzenzverein entgegengenommen hat, in ihrem Gewahrsam hat. Warum hat sie es nicht geschafft, sie mir zu geben, als ich sie brauchte oder sogar später, während des Treffens? Ich denke, das ist ein sehr gutes Beispiel für die "Effizienz" und Kompetenz der Dienste und Menschen, die anderen in besonders schwierigen Situationen helfen. Brauchen wir dann noch soziale Unterstützung, wenn der "Computer" die Entscheidungen trifft? Ich denke, wir brauchen immer noch Menschen, die alle Umstände in Betracht ziehen und sich auf Problemlösungen konzentrieren, dafür werden sie bezahlt.
 

Alles dreht sich im Kreis

 
Indem ich mit ihnen sprach, hoffte ich, dass sich meine Situation vom Mai 2021, als ich ohne jegliche Lebensgrundlage, Nahrung und sogar ohne die Möglichkeit, jemanden anzurufen blieb, obwohl ich alle notwendigen Sozialanträge rechtzeitig gestellt hatte, nie wiederholen würde. Aber vor drei Monaten, im September 2021, wiederholte sich alles wie zuvor. Nachdem ich meinen befristeten Arbeitsvertrag beendet hatte, beantragte ich erneut Sozialhilfe und erhielt nur die Zuweisung von 100 Euro für die nächsten 3 Monate, wovon ich schon 50 Euro für meinen Anteil am Mietzins zahlen muss. Wie ist es möglich, mit 50 Euro im Monat zu überleben und die Nebenkosten zu bezahlen? Vor 4 Monaten bin ich von der Straße in einer Wohnung gekommen und jetzt bin ich erneut in Gefahr, wieder auf der Straße zu landen. 
In Erwartung der Antwort, dass die Entscheidung von der Wirtschaftsabteilung abhängt, habe ich mich erneut an die Volksanwaltschaft gewandt, um ein Treffen mit dem Dienst für die finanzielle Unterstützung zu organisieren, aber sie lehnten ab. Es sei nicht üblich, eine Problematik mehrmals zu besprechen, auch sollten die Akteure verschiedene sein.
Die Zahl der Obdachlosen nimmt jedes Jahr zu, aber es gibt kein Mittel und keine Behörde, welche die Situation aus der Sackgasse herausführt.
Das Protokoll des einzigen Treffens musste überarbeitet werden, da ich einige Unstimmigkeiten fand, aber niemand wird mehr etwas tun. Dieses Protokoll hat keine Kraft, keinen Sinn und wird von niemanden mehr in Anspruch genommen. Ich fühle mich wie eine Person, der man eine Show mit "Diskussionen am runden Tisch" vorgespielt hat, die nie zu einem echten Ergebnis geführt hat.
Es erscheint mir seltsam, dass es keine Behörde oder Drittpartei gibt, die daran interessiert ist, irgendwelche Änderungen voranzutreiben. Die Zahl der Obdachlosen nimmt jedes Jahr zu, aber es gibt kein Mittel und keine Behörde, welche die Situation aus der Sackgasse herausführt. Jeder weiß alles darüber, es wiederholt sich aber alles im Kreis.
 

Gegenseitige Schuldzuweisung

 
Nach 20 Jahren Erfahrung als Führungskraft in der internationalen Wirtschaft suche ich nach einem Job, aber ich kann nichts finden, das meinen Kompetenzen entspricht und auch keine einfache Arbeit in einem Laden oder einer Bar.
Ich bin nicht aus beruflichen Gründen nach Südtirol gekommen, ich bin ein politischer Flüchtling und kann hier keine Unterstützung oder Verständnis für meine Situation finden, obwohl ich 3 Jahre lang zwei Fremdsprachen gelernt habe. Überall erhalte ich Absagen, selbst für einfache Reinigungsarbeiten, weil niemand eine "überqualifizierte" Person nehmen will, sodass ich dem Hungertod und dem Leben auf der Straße ausgeliefert bin.
Ich habe den Verdacht, dass es eine andauernde Konkurrenz bzw. eine Schuldverschiebung zwischen der Landes- und Gemeindeebene gibt.
Mittlerweile bemerke ich auf allen Ebenen der öffentlichen Sozialhilfe so viel Inkompetenz und Unwilligkeit, die Arbeit richtig auszuüben. Vor allem Menschen, die in Schlüsselpositionen sind, um Menschen wie mir zu helfen, sich schnell zu integrieren, bis wir wirklich in der Lage sind, uns selbst zu versorgen, ignorieren die Probleme. Ich habe den Verdacht, dass es eine andauernde Konkurrenz bzw. eine Schuldverschiebung zwischen der Landes- und Gemeindeebene gibt sowie zwischen der politischen Entscheidungsfindung und der Exekutive.
 

Automatisierte Entscheidungen

 
Von 4 Entscheidungen zu meiner wirtschaftlichen Unterstützung musste ich drei anfechten. Es kommt mir so vor, als ob die Entscheidungsetagen, welche alle persönlichen Details der Notsituation kennen, gegen den gesunden Hausverstand entscheiden und dann die automatisierte Bürokratie als Vorwand für ungeeignete Lösungen vorschieben.
Ich wiederhole: Wenn wir Computer hätten, welche diese ohnehin schon automatischen Entscheidungen treffen würden (da nur Zahlen aus Kontoauszügen verglichen und bewertet werden) hätten wir mehr Geld für den Sozialfonds zu Verfügung, da wir weniger für Personal ausgeben würden; dessen Arbeit, solange sie "automatische Entscheidungen" nicht beeinflussen können, eh kein Sinn mehr hat.
Laut Rechtsberater Thomas Brancaglion, der über langjährige Erfahrung in den Bereichen Asyl- und Migrationsrecht verfügt, hat das System Südtirol es viel zu lange versäumt, mit den nötigen Mitteln und Know-how die komplexe Situation der Integration und Inklusion von Personen mit Flucht- oder Migrationshintergrund anzugehen, Best Practices zu fördern und vor allem individuelle Bildungs- und Unterstützungsprogramme zu starten, mit entsprechender Wertschätzung und Koordination der vielen Freiwilligen mit den institutionellen Hilfsvereinen und der öffentlichen Hand. Das ist der Grund, wieso wir heutzutage immer noch viel und sinnlos ausgeben, anstatt die Früchte früherer Investitionen zu genießen. Es ist nicht zu spät, um einen Kurswechsel einzuleiten.

 

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Profil für Benutzer m s
m s Fr., 31.12.2021 - 07:43

Es ist tatsächlich eine Schande für uns Südtiroler und
unsere Verwaltung. Mir kommt vor Politik und Verwaltung haben in den letzten (fetten) Jahrzehnten einiges verschlafen.

Fr., 31.12.2021 - 07:43 Permalink
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m s Fr., 31.12.2021 - 07:43

Es ist tatsächlich eine Schande für uns Südtiroler und
unsere Verwaltung. Mir kommt vor Politik und Verwaltung haben in den letzten (fetten) Jahrzehnten einiges verschlafen.

Fr., 31.12.2021 - 07:43 Permalink
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Profil für Benutzer Stefan S
Stefan S Fr., 31.12.2021 - 08:23

Man verwaltet sich selbst und scheint sich darin zu gefallen. Und wie immer bei solch eklatanten strukturellen Versäumnisse steht wer in der Verantwortung? Leider wie immer, der Fisch fängt am Kopf an zu stinken...

Fr., 31.12.2021 - 08:23 Permalink
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Wolfgang Riedmann Fr., 31.12.2021 - 11:05

Das System geht vermutlich davon aus, dass die Hilfsbedürftigen (sorry für den Ausdruck) nicht in der Lage sind, selber mit Geld umzugehen und jeden Betrag umgehend in Alkohol oder Drogen umsetzen. Dabei wird ignoriert, dass sich die Situation grundlegend geändert hat.
Abgesehen davon: gibt es etwas, das man hier als Privatperson mit beschränkten Mitteln tun kann, um die eine oder andere individuelle Situation etwas zu verbessern?

Fr., 31.12.2021 - 11:05 Permalink
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Profil für Benutzer Iryna Panchenko
Iryna Panchenko Fr., 31.12.2021 - 13:42

Antwort auf von Wolfgang Riedmann

Thank you for attention and opinion. Situation with alcohol and drugs is not a problem of migration. It is social problem and exists everywhere. When civil society does not exist or does not work, any social problem remains unsolved and became politically manipulated. For immigrant everything is even harder. When I arrived I was not so poor and powerty was not a reason for me to leave my country. But I become extremely poor here, because during the years I could not find any job and any place to live and I received only negative responses everywhere, including social services. Many migrants are searching just to be paid better for the jobs they did before in their countries. Their reason of migration is just economic troubles. But for those who are well educated and competent it seems to be even harder, because we are put on the same level of "miserable and poor strangers" and there is no individual approach at all. When I ask to read my CV attentively, people get angry because they do not understand what my job was about, it is unknown or very complicated to them. Many of them think I am arrogant that I dare to explain that I am educated enough for the job of saleswoman in the shop or bar even if I have no long experience in this sector. When I am refused of simple job I am applying to, the language and "lack of experience" is always used as a reason. Yes I do not speak as mother tongue but I am clever enough to understand what and how to do and what client oriented approach is really about. So instead of integration, people like me often see mostly the barriers and every day I have to prove someone that we are human and not a fool or idiot or declassed element. Besides finding job I have to fight to protect my human dignity every day and this is the hardest job I have ever been doing. I hope someone will hear me and this article will help to change situation for people like me. I am tired to hear that I am "just made a mistake to come to Bozen". As if Bozen is a kind of "cursed" city for poor and outsiders. I do not agree with this.

Fr., 31.12.2021 - 13:42 Permalink