Politik | Interview

“Der Hund muss auch mal beißen”

In Den Haag standen Cuno Tarfusser Kriegsverbrecher gegenüber. Wie blickt der ehemalige Vizepräsident am Internationalen Strafgerichtshof auf den Russland-Ukraine-Krieg?
Cuno Tarfusser
Foto: CT

Die ukrainische Regierung hat am 24. Februar, dem Tag des Kriegsbeginns, eine Klage gegen Russland beim Internationalen Gerichtshof eingereicht. Am heutigen Montag (7. März) und am Dienstag (8. März) finden die ersten zwei öffentlichen Anhörungen statt. Wird Wladimir Putin wegen der Invasion der Ukraine als beschuldigter Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt? Der ehemalige Vizepräsident des Internationalen Strafgerichtshofs Cuno Tarfusser ist skeptisch.

salto.bz: Herr Tarfusser, kann sich das Einschreiten der internationalen Gerichtsbarkeit unmittelbar befriedend auf den laufenden Konflikt auswirken?

Cuno Tarfusser: Zunächst muss man klarstellen, dass es sich beim Internationalen Gerichtshof (IGH) und dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) um zwei völlig verschiedene Gerichte handelt, auch wenn beide ihren Sitz in Den Haag haben. Der Internationale Gerichtshof ist das Gerichtsorgan der Vereinten Nationen und entscheidet auf Grundlage von öffentlichem internationalen Recht über die Einhaltung oder Nicht-Einhaltung der UN-Charta. Dieses Gericht behandelt nur Fälle, die ein Staat gegen einen anderen Staat einbringt. Zum Beispiel jetzt das Verfahren der Ukraine gegen Russland, in dem über den von der UN-Charta verbotenen Aggressionskrieg befunden werden muss. Diese Verfahren dauern sehr lange. Deshalb hat die Entscheidung, die in diesem Verfahren ergehen wird, sicher keinen immediaten Einfluss auf den laufenden Konflikt. Der Internationale Strafgerichtshof richtet hingegen über die strafrechtliche Verantwortung von Personen – also nicht von Staaten –, die internationaler Verbrechen beschuldigt sind. Diese sind im Rom-Statut von 1998, das die juristische Grundlage des Gerichtshofs ist, definiert: Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen der Aggression und Völkermord.

Gegen wen kann der IStGH im aktuellen Konflikt konkret vorgehen?

Ich würde sagen, dass als Beschuldigte Wladimir Putin und die politische und militärische Führungsriege in seinem unmittelbaren Umfeld ziemlich nahe liegen.

Das Verbrechen der Aggression kann nicht zur Anwendung kommen, wenn der Aggressor-Staat das Statut nicht ratifiziert hat und die Aggressoren seine Staatsangehörigen sind

Der Chefankläger des IStGH, der Brite Karim Khan, hat am 28. Februar angekündigt, “so schnell wie möglich” offizielle Ermittlungen in der Ukraine einleiten zu wollen. Es gebe “eine Grundlage zur Annahme, dass sowohl Kriegsverbrechen als auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine begangen wurden”. Teilen Sie diese Einschätzung?

Ja, klar teile ich sie. Man braucht nur die Kriegsberichterstattung zu verfolgen und etwas international strafrechtliches Verständnis zu haben, um das, was derzeit in der Ukraine passiert, als Aggression und als eine Reihe von Kriegsverbrechen und/oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit einordnen und beurteilen zu können. In meinen Augen kann man über alle drei Straftaten mit ziemlich eindeutigem Ausgang diskutieren. Aber natürlich muss man – so ist es in jedem Strafverfahren notwendig und die Verfahren vor dem IStGH machen da keine Ausnahme – dafür Beweise sammeln. Das Problem ist allerdings nicht, ob Putin und/oder seine Gefolgsleute eines dieser internationalen Verbrechen begehen, begangen haben, dabei sind zu begehen.

Sondern?

Es gilt vielmehr zu schauen, ob und inwieweit der IStGH überhaupt Gerichtsbarkeit hat, also konkret aktiv werden kann. Denn er kann nur in genau definierten Fällen ermitteln und seine Gerichtsbarkeit ausdrücken.

Russland und die Ukraine sind nicht unter den 123 Mitgliedern des IStGH. Hat das Gericht trotzdem einen Handlungsspielraum?

Genau darum geht es in erster Linie. Weil weder Russland noch die Ukraine das Rom-Statut ratifiziert haben, hat der IStGH prinzipiell keine Gerichtsbarkeit, weder auf deren Staatsgebiet, noch gegenüber deren Staatsbürgern. Es gibt aber zwei vom Statut vorgesehene Möglichkeiten für den IStGH, auch gegenüber Staaten tätig zu werden, die das Rom-Statut nicht ratifiziert haben. Die eine ist gegeben, wenn der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen durch eine Resolution dem IStGH den Auftrag erteilt, zu ermitteln. Die andere Möglichkeit besteht darin, dass ein Staat, der das Statut nicht ratifiziert hat, die Gerichtsbarkeit des Gerichts anerkennt.

Ich halte es für realistischer, dass Putin so endet wie Gaddafi oder Al-Bashir

Der IstGH kann sich auch in Fälle von Staaten einschalten, die das Rom-Statut nicht ratifiziert haben?

Genau. Die erste der genannten Möglichkeiten hat es in der Geschichte des IStGH bereits zwei Mal gegeben: im Sudan mit Machthaber Omar Al-Bashir und in Libyen mit Muammar Al-Gaddafi. An beiden dieser Fälle habe ich gearbeitet. Eine Resolution des Sicherheitsrats wird es aber im Falle des aktuellen Konflikts zwischen Russland und der Ukraine sicherlich nicht geben, weil Russland bekanntlich im Sicherheitsrat ein Veto-Recht hat. Daran würde eine solche Resolution scheitern. Es gibt, wie gesagt, aber noch die Möglichkeit, dass ein Nicht-Vertragsstaat, also die Ukraine, die Gerichtsbarkeit des Strafgerichtshofs akzeptiert. Diesen sozusagen zu Hilfe ruft.

Eine Ad-hoc-Anerkennung des IStGH?

Ja. Dieses Szenario hat es auch schon gegeben. Im Jahre 2004 hat die Elfenbeinküste die Gerichtsbarkeit des IStGH anerkannt, was zu Ermittlungen und zum Prozess gegen den ehemaligen Präsidenten geführt hat, in dem ich den Vorsitz hatte. Aber auch die Ukraine hat im Jahr 2014 im Hinblick auf die damaligen Vorfälle auf dem Maidanplatz in Kiew, im Donbass und auf der Krim die Gerichtsbarkeit des IStGH akzeptiert. Ermittlungen aufgrund der damaligen Anerkennungen sind also die einzige realistische Möglichkeit, um Ermittlungen des IStGH im laufenden Konflikt zu ermöglichen. Alles andere halte ich für unrealistisch. Dabei gibt es aber ein juristisch nicht unerhebliches Problem.

Und zwar?

Haben zwei Ad-hoc-Erklärungen aus dem Jahre 2014, die in einem ganz anderen Kontext abgegeben wurden, acht Jahre später und in Bezug auf ein grundlegend anderes Szenario, und zwar ein Kriegsszenario, noch Gültigkeit? Eine juristisch und politisch nicht banale Frage, die uns schon in anderen Fällen, in denen ich selbst involviert war, umgetrieben hat. Ich kann hier nicht näher darauf eingehen, aber ich glaube, dass die Problematik und die unterschiedlichen Sichtweisen dazu schon aus der Fragestellung hervorgehen.

Chefankläger Khan hat am 2. März jedenfalls mitgeteilt, mit Ermittlungen und der Sicherung von Beweisen zu beginnen. Auf Empfehlung von 39 IStGH-Mitgliedern, darunter alle 27 EU-Staaten.

Ich kenne Karim Khan persönlich und beruflich sehr gut und wir haben auch einen guten Kontakt zueinander. Er ist ein hervorragender Jurist, besonnen und kann bestens mit Worten umgehen. Das Problem ist nicht seine Aktivlegitimation, als Ankläger tätig zu werden, denn diese ist durch den Antrag der 39 Staaten gegeben. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von einem State Referral gemäß Artikel 14 des Rom-Statuts. Das große Problem, das ich sehe, ist, wie gesagt, die rechtliche Grundlage, auf dem Territorium der Ukraine tätig zu werden. Dieses Problem löst Karim Khan dadurch, dass es die Erklärungen von 2014 als immer noch gültig erachtet. Eine sehr riskante, aber auch der Dringlichkeit geschuldete und somit nachvollziehbare Interpretation, die auch ich wahrscheinlich so getätigt hätte.

 

Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft am IStGH finden während laufender kriegerischer Auseinandersetzungen statt. Welche Herausforderungen ergeben sich bei der Sammlung und Sicherung von Beweisen?

Man muss sich vor Augen führen, dass die Verbrechen und somit die Ermittlungen zu den Fällen, mit denen sich der IStGH beschäftigt, grundsätzlich in einer “ongoing conflict”-Situation gemacht werden müssen, was diese enorm erschwert. Im Unterschied zu so einigen Fällen, die ich bearbeitet habe, in denen die Ermittlungen in einem Bürgerkrieg stattgefunden haben, kann ich mir gut vorstellen, dass die Ermittler im Fall der Ukraine relativ weniger große Probleme bei ihre Arbeit vor Ort haben könnten. Zumal sie innerhalb des Landes sehr viel Unterstützung finden dürften. Im Unterschied zu einem Bürgerkrieg ist der Konflikt Ukraine-Russland – ohne banalisieren zu wollen – nämlich ein Krieg im konventionellen Sinn, also ein “international armed conflict”. In einem “non-national armed conflict”, einem Bürgerkrieg, stehen sich Feind und Freund sich im selben kriegerischen Kontext gegenüber.

Seit Juli 2018 ist der IStGH auch für Verbrechen der Aggression zuständig. Der Artikel 8bis des Rom-Statutes definiert es so: “Im Sinne dieses Statuts bedeutet Verbrechen der Aggression die Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Ausführung einer Angriffshandlung, die ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt, durch eine Person, die tatsächlich in der Lage ist, das politische oder militärische Handeln eines Staates zu kontrollieren oder zu lenken.” Weshalb hat Khan diesen Straftatbestand in seinem Statement nicht erwähnt? Ist er im Falle der Ukraine nicht anwendbar?

Diese Beschreibung des Straftatbestandes der Aggression, die in der UN Charta als “Anwendung von Waffengewalt durch einen Staat, die gegen die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines anderen Staates” definiert ist, scheint eindeutig auf den Ukraine-Konflikt zugeschnitten zu sein. Der Schein aber trügt.

Weshalb?

Zur Erklärung muss vorausgeschickt werden, dass das Verbrechen der Aggression die politischste aller internationalen Straftaten darstellt. Es geht nämlich um die Aggression eines Landes gegen ein anderes und diese kann nur von “ganz oben” ausgehen und befohlen werden. Vor diesem Hintergrund ist es natürlich verständlich, wenn die Staaten der internationale Staatengemeinschaft den Erfolg, einen Konsens über den Straftatbestand gefunden zu haben, einerseits ausschlachten wollen, andererseits aber davor zurückschrecken, dass dieser von einem unabhängigen Gericht gegen sie angewandt werden kann. Was machen die Staaten in einem solchen Falle? Sie machen die Straftat prozessrechtlich nicht anwendbar, indem sie eine Reihe von Hürden einführen.

Was im Falle von Art. 8bis des Rom-Status zur Aggression passiert ist?

Tatsächlich. Der internationale Gesetzgeber hat einerseits den Straftatbestand in Artikel 8bis schön und klar definiert, ihn andererseits aber durch Artikel 15bis unanwendbar gemacht. Dieser besagt nämlich, dass “hinsichtlich eines Staates, der nicht Vertragspartei dieses Statuts ist (also Russland), übt der Gerichtshof seine Gerichtsbarkeit über das Verbrechen der Aggression nicht aus, wenn das Verbrechen von Staatsangehörigen des betreffenden Staates (also Russen) … begangen wurde”. In anderen Worten: Das Verbrechen der Aggression kann nicht zur Anwendung kommen, wenn der Aggressor-Staat das Statut nicht ratifiziert hat und die Aggressoren seine Staatsangehörigen sind. Sollte es durch etwaige absurde Interpretationen der Norm dennoch zu einer Anklageerhebung kommen, ist das gerichtsinterne Konfliktpotential schon vorprogrammiert. Man bedenke nur, dass am IStGH 18 Richter aus 18 Staaten und fünf Kontinenten sitzen und was für die einen Richter aus einem Gerichtssystem oder Kontinent klar und eindeutig ist, muss für den anderen Richter aus einem anderen Gerichtssystem oder Kontinent noch lange nicht klar und eindeutig sein. Und abgesehen davon ist Unabhängigkeit und unabhängiges Denken nicht für jeden am IStGH selbstverständlich. Ich könnte mehrere Lieder davon singen. So weit wird es aber zum Glück nicht kommen, nach dem besonnenen und sehr bewussten Statement von Karim Khan.

Unabhängigkeit und unabhängiges Denken ist nicht für jeden am IStGH selbstverständlich

Der russische Präsident Wladimir Putin versucht den Angriff auf die Ukraine mit einem angeblichen Genozid durch ukrainische Truppen an der russischsprachigen Bevölkerung im Osten des Landes zu rechtfertigen. Muss der IStGH auch diesen Anschuldigungen nachgehen?

Eines ist sicher: Der Internationale Strafgerichtshof ist nicht an die Erklärung der Ukraine gebunden, mit der sie die Gerichtsbarkeit des IStGH akzeptiert. Diese kann nicht Bedingungen unterworfen werden oder den IStGH lenken. Es gibt nur ein Entweder-oder: Entweder du anerkennst die Gerichtsbarkeit holistisch oder gar nicht. Das ist das einzige, was ziemlich klar ist.

Dann wird gegen alle in die kriegerischen Auseinandersetzungen involvierten Parteien ermittelt?

Potentiell schon. Ob das passiert, ist die nächste Frage. Man muss sich im Klaren sein, dass der IStGH auch unter großem politischen Druck steht, den man nicht einfach ignorieren kann. Das Gericht muss neben seiner Autonomie auch eine gewisse politische Sensibilität bewahren, mit dem Kopf durch die Wand geht nicht. Schon allein deshalb nicht, weil Staaten als Reaktion ihre Finanzierung streichen könnten und somit das Gericht als Ganzes bedeutungslos machen würden.

Ein Ziel des Internationalen Strafgerichts ist neben der Strafverfolgung von Kriegsverbrechern die Abschreckung. In einem Interview mit brand eins haben Sie 2020 selbst gesagt: “Ich fürchte, dass inzwischen wohl kaum jemand mehr Angst hat.” Was müsste sich ändern, um das Ziel der Abschreckung tatsächlich zu erreichen?

Wie sagt man so schön: Hunde, die bellen, beißen nicht. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich selbst als Staatsanwalt keine große Hochachtung vor der Staatsanwaltschaft am IStGH hatte und keine großen Stücke auf Fatou Bensouda (die Juristin aus Gambia war zwischen 2012 und 2021 Chefanklägerin am IStGH, Anm.d.Red.) halte. Bensouda hat Statement über Statement abgegeben – “I am looking into the situation” hier, “I am looking into the situation” dort. Die Botschaft war: Passt auf, wenn ihr nicht brav seid, komme ich. Ja ok, aber dann musst du halt irgendwann auch einmal auf die drohenden Worte Taten folgen lassen. Nicht nur Ankündigungen machen und im Endeffekt nichts tun. Der Hund muss auch mal beißen. Ich bin mir sicher, dass unter Karim Khan die Sachen besser laufen. Er hat ein ganz anderes Format und eine Glaubwürdigkeit, die er sich in jahrelanger Arbeit aufgebaut hat.

Haben zwei Ad-hoc-Erklärungen aus dem Jahre 2014 acht Jahre später noch Gültigkeit?

Als Russland 2016 seine Unterschrift unter dem Rom-Statut und sich damit aus dem IStGH zurückzog, hieß es von russischer Seite, dass das Gericht ineffizient sei und zugleich hohe Kosten verursache. Tatsächlich ziehen sich Prozesse über Jahre hin – das erste Urteil fiel zehn Jahre nach Einrichtung des Gerichts im Jahr 2012 –, es kommt öfter zu Freisprüchen und Verfahrenseinstellungen denn zu Verurteilungen. Ist die russische Kritik gerechtfertigt?

“Ineffizient” und “teuer” sind sehr vage Begriffe, die konkretisiert gehören. Natürlich kann man sagen, der IStGH ist ineffizient – aber was heißt das? Wenn man damit meint, dass Personen auch freigesprochen werden, finde ich den IStGH nicht ineffizient, sondern sehe das eher als Beweis dafür, dass er ein Gericht und keine “Verurteilungsmaschine” ist. Der IStGH ist ineffizient, weil die Prozesse zu lange dauern? Das stimmt. Aber auch wenn die Effizienz der Dauer der Prozesse auf 100 Prozent optimiert würde, werden sie immer noch sehr lange sein. Die Arbeit des Gerichts ist sehr zeit- und geldaufwändig, allein wegen all der Übersetzungen, der Reisekosten für Ermittler und Zeugen, usw. Aber die Aktivitäten entsprechen alle einem gewissen Standard von Rechtsempfinden, der überall – auch in den Ländern, die Kritik üben – normal sein müsste. Das Gericht ist zu teuer? Sicher ist es das. Aber man muss die Kosten in Relation stellen. Bertram Schmitt, der deutsche Kollege in Den Haag, hat mir einmal gesagt, dass das Jahresbudget des IStGH in etwa dem der Berliner Feuerwehr entspricht. Natürlich kann und muss der Einsatz von Ressourcen immer effizienter gestaltet werden. Aber pauschal sagen, das Gericht ist ineffizient und teuer, ist unangebracht.

Eine weitere Kritik, vonseiten afrikanischer Staaten, war lange Zeit, dass der IstGH ein “Afrika-Tribunal” sei, weil bis 2013 nur einseitig im Hinblick auf Verbrechen auf dem afrikanischen Kontinent ermittelt worden sei. Können Sie diesem Vorwurf etwas abgewinnen?

Das ist Blödsinn. Der IStGH ist seit 1. Juli 2002 tätig und kann nur zu Straftaten ermitteln und richten, die ab dem Zeitpunkt passiert sind. Wo gibt es seither die größten internationalen Verbrechen, bei denen der IStGH auch aktiv werden kann? In Syrien kann er nicht ermitteln, weil Syrien das Rom-Statut nicht ratifiziert hat, Russland den Sicherheitsrat blockiert und Syrien die Gerichtsbarkeit sicherlich nicht ad-hoc akzeptiert. Die Uiguren in China muss ich aus denselben Gründen ausschließen. Von den afrikanischen Staaten hingegen hat die Mehrheit das Rom-Statut zwischen 1998 und 2002 ratifiziert. Zu dieser juristischen Voraussetzung kommt hinzu, dass afrikanische Staaten oft selbst den IStGH angerufen haben: Uganda, die Zentralafrikanische Republik, die Demokratische Republik Kongo, Mali. Insofern finde ich es zwar faktisch richtig, dass der IStGH das Hauptaugenmerk auf Afrika hatte und weiter hat. Aber ich finde die Kritik nicht richtig.

Karim Khans sehr riskante, aber nachvollziehbare Interpretation hätte auch ich wahrscheinlich so getätigt

Viele wichtige geopolitische Akteure wie die USA, China, Iran, Israel und Indien erkennen wie Russland den IStGH nicht an. Um das Gericht zu stärken, wird von vielen Seiten eine Reform des UN-Sicherheitsrats gefordert. Wäre das sinnvoll?

Ja. Das Veto-Recht der ständigen Mitglieder, mit denen sie auch Ermittlungen des IStGH blockieren können, ist obsolet. Aber die Reform wird nie kommen, weil sie die Veto-Staaten verhindern. Einige davon verhalten sich zudem relativ widersprüchlich. Man denke nur an Frankreich, das sich sehr europäisch gibt und es auch ist, andererseits aber stur auf seinem ständigen Sitz im Sicherheitsrat besteht und sich dagegen sträubt, daraus etwa einen ständigen Sitz der Europäischen Union zu machen. Meine – vielleicht etwas naive – Meinung als Bürger war immer, dass es international übergeordnete Werte gibt, an die sich mehr oder weniger alle, die diese Werte teilen, auch halten. In der Realität ist es nicht so. Priorität haben immer noch nationale Interessen, die versucht werden, auch über internationale Organisationen durchzusetzen. Die Ukraine-Krise hat aber etwas verschoben und zurechtgerückt.

Woran machen Sie das fest?

Die europäischen Staaten und das EU-Parlament sind sich mit überwältigender Mehrheit einig und erlassen Resolutionen und Sanktionen, die bis zum Tag vorher nicht denkbar gewesen wären. Im UN-Menschenrechtsrat verlassen alle diplomatischen Delegationen den Saal, sobald der russische Außenminister Lawrow das Wort ergreift. In der UN-Vollversammlung stimmen lediglich fünf Staaten gegen die Resolution, die das Vorgehen Russlands “aufs Schärfste” verurteilt. 141 stimmen dafür. Klar, die 35 Enthaltungen zeigen, dass es weiterhin Staaten gibt, in denen das nationale Interesse überwiegt. Dennoch wäre ein solches Abstimmungsergebnis noch eine Woche zuvor unvorstellbar gewesen. Vielleicht gibt es da jetzt ein gewisses Nachdenken. Ich hoffe es.

Für wie realistisch halten Sie es, dass Wladimir Putin am Ende als beschuldigter Kriegsverbrecher in Den Haag vor Gericht steht?

Ich halte es für realistischer, dass Putin so endet wie Gaddafi, oder, um ein weniger makabres Beispiel zu nennen, wie Al-Bashir. In dem Sinn, dass die eigenen Leute sein Treiben irgendwann nicht mehr mitmachen, ihn entmachten und selbst zur Verantwortung ziehen. Viele Russen werden durch die Sanktionen ziemlich stark und immer stärker in Mitleidenschaft gezogen. Die jungen Leute haben mit der Sowjetunion und diesem Regime eigentlich nichts zu tun. Selbst von den Oligarchen, die es gewohnt waren, in arrogant-kitschigem Luxus zu leben und nun von den Sanktionen aufs Härteste getroffen werden, kann man sich eine Reaktion erwarten. Ich kann mir gut vorstellen und hoffe, dass sich ein interner Widerstand formiert und dass die Russen selbst die Leute, die dieses Desaster verursacht haben, zur Rechenschaft ziehen.

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Josef Fulterer Mo., 07.03.2022 - 06:49

Die lahme Gerichtsbarkeit mit tausend Ausreden, juridischen Spitzfindigkeiten und dem gemächlichem Dahinvegetieren in von den Kriegsverbrechern weit entfernten klimatisierten sicheren Büros, jagen Kriegsverbrechern vom Format Putin nicht die Angst ein, dass sie für ihr brutales Morden zur Rechenschaft gezogen werden!

Mo., 07.03.2022 - 06:49 Permalink
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Heinrich Zanon Mo., 07.03.2022 - 07:58

Absolut klar verständliche und ausgewogene Aussagen von einem, der es wissen muß.
Ein Kompliment an den Interviewten, aber genauso an Fragensteller.

Mo., 07.03.2022 - 07:58 Permalink