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(Un)sichtbare Städte und Menschen

In Edinburgh, Manchester, York und Glasgow führen ehemalige Obdachlose Touristen und Einheimische durch ihre Stadt. Das Training von Invisible Cities macht es möglich.
Danny
Foto: Emma Ledwith/ Invisible Cities

Gemma, eine transgender Frau und Eisenbahn-Enthusiastin, führt Touristen entlang der historischen Spuren der Eisenbahn durch York. In Edinburgh beleuchtet Sonny anhand von Schauplätzen, Anekdoten und seiner ganz eigenen Geschichte Strafe und Verbrechen. Und in Manchester erzählt Andy über die Sonnen- und Schattenseiten der Ausgehszene und der damit einherrollenden Trinkkultur, die er selbst nur allzu gut kennt.

Alle drei sind Stadtführer*innen für Invisible Cities. Das 2016 gegründete Social Enterprise bildet Menschen, die Obdachlosigkeit am eigenen Leib erfahren haben, zu Stadtführ*innen aus. Auch Gemma, Sonny und Andy lebten eine Zeit lang auf der Straße. Heute führen sie Touristinnen und Touristen, aber auch Einheimische, die es zu Invisible Cities verschlägt, durch die Städte und drängen dabei das, was oft unsichtbar bleibt, aus der Verborgenheit: Besondere Ecken und Enden der Stadt, Geschichten, über die niemand mehr spricht, und sich selbst. Als ehemalige Obdachlose treten sie aus der Verborgenheit des Straßenlebens als ermächtigte und geschätzte Mitbürger vor die Stadt, in der sie leben.

 

“Mein Ziel war es, in der Bevölkerung herrschende Vorurteile zu durchbrechen und Menschen, die das Leben auf der Straße erfahren mussten, dazu zu ermächtigen, ihre Geschichten zu erzählen”, erklärt die Unternehmensgründerin Zakia Moulaoui Guery, die auf ihre internationale Arbeitserfahrung mit obdachlosen Menschen zurückgreifen kann: “Obdachlosigkeit drückt sich in jedem Land anders aus”, so Moulaoui Guery, “und trotzdem teilen die Menschen ähnliche Geschichten und Werte: Es geht ihnen nicht nur um Nahrung und ein Dach über dem Kopf. Auch der soziale Aspekt ist unglaublich wichtig”. Um genau diese sozialen Aspekte zu stärken und langfristige Perspektiven aufzubauen, hat Moulaoui Guery Invisible Cities zuerst in Edinburgh und dann zusammen mit ihrem sechsköpfigen Team auch in Manchester, Glasgow und York aufgebaut.

 

Ein Umfeld, auf das man bauen kann

 

Bis heute hat das Unternehmen rund 100 Menschen, die in Edinburgh, Manchester, Glasgow oder York mit Obdachlosigkeit kämpften, in ihr Trainingsprogramm aufgenommen. Einige von ihnen kommen direkt von der Straße, andere haben sie bereits vor einiger Zeit hinter sich gelassen. In dem Moment, in dem sie mit der Ausbildung beginnen, verfügen aber alle einen sicheren Ort, an dem sie schlafen können: “Das Training zieht sich über acht Wochen und verlangt den Teilnehmern einiges ab: etwa dass sie verlässlich erscheinen und auch motiviert sind, mitzumachen. Wenn ich abends nicht weiß, wo ich schlafen kann, ist so ein Training die letzte meiner Sorgen”, so Moulaoui Guery.

Um das zu ermöglichen, kümmert sich das Team nicht nur um die Trainingseinheiten, sondern unterstützt und begleitet die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch darüber hinaus, um - wie Moulaoui Guery erklärt - ein sicheres Umfeld zu schaffen, in dem langfristige Perspektiven aufgebaut werden können. Das Bestreben, langfristige Perspektiven zu schaffen, bedeutet aber auch, dass nicht alle, die das Trainingsprogramm absolvieren, später für Invisible Cities auf Tour gehen: Jede und jeder befindet sich an einem anderen Punkt in ihrem Leben. Einige kämpfen mit Suchtproblemen, andere haben ihre Arbeit verloren und wieder andere haben Probleme mit ihrer psychischen Gesundheit. Nicht alle haben in dem Moment die Kapazität, um einer Arbeit als Stadtführer*in verantwortungsbewusst nachzugehen. Und manche merken vielleicht, dass ihnen die Arbeit gar nicht liegt.

 

Trotzdem glaubt Moulaoui Guery, dass das Training auch für sie wertvoll ist: “Wir versuchen vor allem jene Fähigkeiten zu trainieren, die in vielen Bereichen anwendbar sind. Public Speaking, Konfliktlösungs- oder Erste Hilfe-Kenntnisse zum Beispiel.” Aber auch das Schaffen einer gewissen Routine, neue Bekanntschaften, ein sicheres Umfeld und positive Beziehungen tragen dazu bei, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Selbstbewusstsein aufbauen und die Scham, die viele von ihnen in sich tragen, ablegen: “Einige von ihnen können einem anfangs gar nicht in die Augen schauen, sie sind überzeugt, niemals selbst eine Stadtführung abhalten zu können”, erzählt Moulaoui Guery. “Die Erfahrungen, die sie während der Ausbildung - und für einige später während der Führungen - machen, haben aber eine unglaublich transformative Wirkung: Die Menschen bauen Selbstbewusstsein auf und lernen, hinter der eigenen Geschichte zu stehen”.

 

Individuelle, persönliche Geschichten

 

Im Moment sind insgesamt 16 Tourguides als Voll- oder Teilzeitangestellte oder als Selbstständige für Invisible Cities aktiv. Sie kreieren ihre Tour selbst, schaffen also ihre ganz eigene, persönliche Stadtführung. Manche verknüpfen sie mit ihrer eigenen Erfahrung in der Stadt, andere spezialisieren sich wie Gemma auf Eisenbahnen. “Die einzigen Vorgaben, die wir geben, sind, dass die Tour unter zwei Stunden bleiben muss und dass sie unterhalten muss. Natürlich können auch ernstere Dinge angesprochen werden. Es soll aber kein Vortrag sein, die Menschen sollen auch Spaß dabei haben.” Die Rückmeldungen fallen dabei meist sehr positiv aus: “Viele erzählen, es sei beinahe so, als spazierte man mit einem Freund durch die Stadt. Andere staunen darüber, wie viel unsere Tourguides über ihre Stadt wissen. Das ist genau der Effekt, den wir erreichen wollten!”, freut sich Moulaoui Guery.

...als spazierte man mit einem Freund durch die Stadt.

 

Finanziert wird Invisible Cities zur Hälfte über die Stadtführungen selbst sowie durch den Verkauf von Merchandise, online Führungen oder virtuellen 3-D-Erfahrungen. Vor allem während der Pandemie hat man vermehrt auf diese Alternativen zurückgreifen müssen. Der Rest der Einnahmen stammt aus Crowdfundingaktionen, öffentlichen Ausschreibungen oder der Unterstützung von lokalen Initiativen. “Unser Ziel ist es, uns irgendwann zur Gänze selbst zu finanzieren”, so Moulaoui Guery. “Noch viel wichtiger ist es aber, dass die Menschen selbst weiterhin im Mittelpunkt des Unternehmens stehen. Weil jede*r eine Geschichte zu erzählen hat.”

 

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Stefan S Mi., 04.05.2022 - 18:14

Sehr empfehlenswert, konnte ich vor Corona auch mal machen. Zur Einschätzungen des Soziallebens der jeweiligen Stadt sehr aufschussreich.

Mi., 04.05.2022 - 18:14 Permalink