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Ins Archiv geflattert

Die Pläne für die Schottergrube “Lochen” in Pflersch sind unlängst endgültig in der Schublade verschwunden. “Schuld” daran hat auch – ein Schmetterling.
Phengaris Arion
Foto: commons.wikimedia.org/Babu

Auf den Tag genau fast zehn Monate sind vergangen, seit die Natur im Pflerschtal unerbittlich gewütet hat. Starke Regenfälle lösen am 16. August 2021 Überschwemmungen, Steinschläge und Muren aus. Das kleine Seitental im Wipptal, das zur Gemeinde Brenner gehört, ist mehrere Tage von der Außenwelt abgeschnitten. Trotz der Aufräumarbeiten, die mit Hochgeschwindigkeit organisiert und vollbracht werden, sind Spuren des Jahrhundertunwetters bis heute sichtbar. Auch am Kräuterhof von Bernhard Auckenthaler. Sorgen um die Zukunft macht sich Auckenthaler aber schon vor dem 16. August 2021. Gleich hinter seinem Bio-Betrieb soll eine stillgelegte Schottergrube wiedereröffnet werden. Der Kräuterbauer fürchtet um seine Existenz, viele Menschen in Pflersch große Belastungen durch Verkehr, Staub und Lärm, der Tourismusverein um das Image des Tals, das verstärkt auf sanften Wander- und Naturtourismus setzt.

Einen Strich durch die Rechnung der Wipptaler Bau AG, von der die Pläne zur Reaktivierung der Grube stammen, macht schließlich jemand, den wohl niemand auf dem Schirm hatte: Maculinea Arion. So heißt der Schwarzfleckige Ameisenbläuling – ein europaweit streng geschützter Schmetterling. Den findet eine Biologin im Juni 2021 zufällig im Bereich der geplanten Schotter-Abbaufläche. Nichtsdestotrotz: Der Schatten des Schotters liegt lange weiter über dem Tal. Nun gibt es Gewissheit.

 

Ein alter Plan und ein unerwarteter Fund

 

Im Mai 2021 hat salto.bz ausführlich über die Pläne der Wipptaler Bau AG in Pflersch und den Widerstand vor Ort berichtet. Während sich der damals neu gewählte Bürgermeister Martin Alber auf die Seite der Baufirma des ehemaligen SVP-Landtagsabgeordneten und -Bürgermeisters Christian Egartner stellt, sind die Anwohner von Anichen, wo die alte Schottergrube wieder aktiviert werden soll, vor den Kopf gestoßen. Sie erfahren erst spät – und durch Zufall – von der geplanten Wiedereröffnung der Grube “Lochen”, für die die Wipptaler Bau AG im November 2020 ein Ansuchen im Amt für Industrie und Gruben gestellt hat. Die Grube wurde in den 1960er Jahren in Betrieb genommen. 1997 verlängert die Landesregierung die Abbauermächtigung um acht Jahre. Doch bis heute ist nur ein kleiner Teil des Materials abgebaut.

Laut den Plänen der Wipptaler Bau AG sollen nun in einem Zeitraum von zehn Jahren knapp 280.000 Kubikmeter an Material ausgehoben werden. Das würde 4.620 LKW- und 2.816 Sattelzug-Fahrten im Jahr bedeuten. Und Bernhard Auckenthaler in existenzielle Schwierigkeiten bringen. Der 44-Jährige baut am “Botenhof”, der keinen Steinwurf von der Grube “Lochen” entfernt liegt, inzwischen Bio-Kräuter an. Mit Gabi und Sepp Holzer vom “Steirerhof” in Pfitsch hat Auckenthaler die Kräutergärten Wipptal gegründet – ein florierendes Geschäft, mit einem Laden in Sterzing.

 

Mehrere Moderationsversuche zwischen Gemeindeverwaltung, Anrainern und Schotterfirma scheitern. Immerhin vertagt die Dienststellenkonferenz ihre Entscheidung – sie muss bei Abbruchvorhaben ein Gutachten anfertigen, das als Grundlage für den Beschluss der Landesregierung bildet, die endgültig darüber befindet. Am 7. Juli 2021 fällt in Bozen schließlich eine Entscheidung: Die Dienststellenkonferenz gibt ein negatives Gutachten für die “Loche” ab. Der zentrale Grund dafür: “Im Projektgebiet kommen durch die FFH-Richtlinie geschützte geschützte Arten und Lebensräume vor.” 

 

Großer Schutz für kleines Tier

 

Eine davon ist der Schwarzfleckige Ameisenbläuling (Maculinea Arion oder Phengaris Arion). Diese Schmetterlingsart steht EU-weit und damit auch in Südtirol unter strengem Schutz – und wurde im Juni 2021 von der Biologin Johanna Propstmeier vom Umweltinstitut Cerny aus Innsbruck im Bereich der Schottergrube “Lochen” gefunden. Als die Biologin von den Gruben-Plänen erfährt, wendet sie sich mit einem Schreiben an die Landesverwaltung – und weist darauf hin, dass die Aufnahme von Abbautätigkeiten in Gebieten, wo geschützte oder seltene Schmetterlinge vorkommen, gesetzeswidrig sei.

 

Der Schwarzfleckige Ameinsenbläuling taucht im Anhang IV der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie auf. Die in diesem Anhang angeführten wild lebenden Tierarten sind auch in der Provinz Bozen streng geschützt, mit dem Ziel, ihren günstigen Erhaltungszustand zu bewahren oder wiederherzustellen”, heißt es auf der Webseite der Landesabteilung Natur, Landschaft und Raumentwicklung. Entsprechend ist es “verboten, diese Tierarten einzufangen, zu töten, zu stören, zu vermarkten oder zu halten. Es ist ebenso verboten, ihre Eier, Nistplätze, Fortpflanzungs- und Ruhestätten zu verändern oder zu zerstören”. Der rechtliche Rahmen scheint unmissverständlich abgesteckt: Der Lebensraum einer derart geschützte Tierart wie der Schwarzfleckige Ameisenbläuling darf nicht angetastet werden. Auch nicht von einer Schotter-Firma. 

 

Tatsächlich vom Tisch?

 

Nach dem negativen Gutachten der Dienststellenkonferenz befasst sich die Landesregierung nicht mit dem Projekt “Lochen”. Auch, weil die Unternehmensverantwortlichen Wipptaler Bau AG keinen Rekurs gegen das Gutachten einlegen. “Damit ist die Sache entschieden”, sagt der Direktor im Amt für Umweltprüfungen Paul Gänsbacher in der heurigen Februar-Ausgabe der Wipptaler Bezirkszeitung ERKER. Die Schottergrube “Loche” werde nicht aktiviert, so Gänsbacher. Die Pflerscher Schotter-Pläne scheinen also begraben.
Tatsächlich?

 

Im Frühjahr 2022 macht man sich in Anichen und Umgebung weiter Sorgen. Nicht mehr so sehr wegen der Natur – die Zerstörung der Unwetter vom Sommer davor hat der Mensch längst repariert –, sondern um sie. Denn in der Mai-Ausgabe des ERKER wird die “Loche” erneut thematisiert. In einem Interview erklärt der technische Direktor der Wipptaler Bau AG Michael Egartner: “Wir wollten vergangenes Jahr die seit 20 Jahren stillgelegte Schottergrube ‘Lochen’ in Pflersch für das Jahr 2024 reaktivieren und haben diesbezüglich ein Projekt bei den zuständigen Behörden eingereicht. Das Genehmigungsverfahren für die Wiedereröffnung dieser Grube ist noch nicht abgeschlossen, eine definitive Entscheidung wird es im Laufe dieses Jahres geben.” 
Was Egartner zum Zeitpunkt, als das Interview erscheint, wohl nicht weiß: Wenige Tage später wird die Wipptaler Bau AG Post aus Bozen erhalten.

 

Grube im Archiv

 

Am 9. Mai 2022 teilt das Amt für Industrie und Gruben der Wipptaler Bau AG mit, dass das Genehmigungsverfahren zur Aktivierung der “Loche” beendet ist. Und zwar nicht im Sinne der Baufirma. “Der Verwaltungsakt zum Antrag um Eröffnung der Schottergrube ‘Lochen’ vom 18.11.2020 ist wegen Überschreitung der maximalen Verfahrensfrist laut LG Nr. 17/1993 von Amts wegen archiviert worden”, teilt die geschäftsführende Amtsdirektorin Claudia Busellato mit. Das Schreiben geht auch an die Gemeinde Brenner. “Somit ist das Verfahren abgeschlossen”, bestätigt Busellato auf Nachfrage von salto.bz

Während Umwelt- und Heimatschützer bemängeln, dass südtirolweit Schottergruben wie Pilze aus dem Boden schießen – und das ohne Plan der Landesregierung –, ist das Projekt “Lochen” nun definitiv in der Schublade gelandet. Die auch nicht mehr aufgemacht werden kann. “Sollte weiterhin Interesse bestehen, müsste ein neues Projekt mit neuen Begründungen eingereicht werden”, erklärt Amtsdirektor Gänsbacher im ERKER. Bisher ist kein neuer Antrag um Eröffnung der besagten Schottergrube bei ihrem Amt eingegangen, teilt Claudia Busellato mit. Überzeugende Gründe für die Wiedereröffnung der Grube “Lochen” dürften unter den geänderten Vorzeichen denkbar schwer zu finden sein.
Pflersch zeigt: Um menschliche Begehrlichkeiten schert sich die Natur reichlich wenig. Und so wie sie zerstört, bewahrt sie.

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Gregor Beikircher So., 19.06.2022 - 18:44

Die Natur zerstört sich selbst nicht, sie sorgt immer wieder für neues Leben. Nur bestimmte Menschen sind es, die Lebensräume vor der eigenen Gier nicht zu schützen wissen.

So., 19.06.2022 - 18:44 Permalink