Kultur | Salto Afternoon

Wir sind (nicht) Schweiz!

Zum Nationalfeiertag der Schweiz eine Erinnerung an einen kuriosen "Kuhhandel" zwischen Südtirol und Tessin und eine dazu passende literarische Fußnote bei Hermann Hesse
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Foto: Salto.bz

Seit dem Jahr 1891 begehen die Schweizer und Schweizerinnen ihren Nationalfeiertag am 1. August. So auch heuer und heute. Das feierliche, sommerliche Datum geht auf das ferne Jahr 1291 zurück und bezieht sich auf einen der ersten Verträge zwischen den drei Kantonen Uri, Unterwalden und Schwyz. Sie bilden den Kern der Schweiz. Der südliche Kanton Tessin kam hingegen erst im Jahr 1802 zur Helvetischen Republik und machte kurzzeitig bzgl. eines skurrilen Umsiedlungsprojekts im Jahr 1927 von sich reden, welches die Tessiner Bevölkerung nach Südtirol verfrachten wollte und die Bewohnerinnen und Bewohner Südtirols ins Tessin. Die Idee dazu hatte der Verwaltungsjurist und Publizist Siegfried Lichtenstaedter (1865-1942).


Unter dem Titel „Stumpfsinn“ kommentierte ein lokales Medium Lichtenstaedters Veröffentlichung Süd-Tirol und Tessin und schrieb von einem „absurd-grotesken Vorschlag, im Bevölkerungs-Zwangs-Austausch die Deutschen aus dem Südtirol nach dem Tessin abzukommandieren und die „Italiener'' (!) aus dem Tessin nach Südtirol.“ Lichtenstaedters Beschreibungen über eine machbare Strategie, die Italienisch sprechende Bevölkerung des Tessins – mitunter auch in Einbeziehung des Kanton Graubünden – mit den Deutsch sprechenden Südtirolern auszutauschen, um damit das Problem der Minderheitensprachen auf Staatsgebiet zu beheben, fand im Unterschied zu anderen Arbeiten aus seiner Feder kaum mediales oder gar politisches Echo. Größere Bekanntheit erlangte hingegen seine 1898 erschienene Schrift Die Zukunft der Türkei, in der er einen Bevölkerungsaustausch (zwischen Griechenland und Türkei) proklamiere, der 1923 tatsächlich durchgeführt wurde. Sein "Lösungsvorschlag" für Südtirol und das Tessin scheiterte nicht nur an der Bevölkerung, sondern in erster Linie an Mussolini und den Faschisten, die heimlich hofften, das größtenteils italienischsprachige Tessin an Italien zu binden – ohne dies natürlich in allzu großer Deutlichkeit zu sagen. Belegt sind zahlreiche befremdliche Stellungnahmen des Duce, Grenzverletzungen, verschiedene Gefangennahmen oder Provokationen, die den Kanton Tessin schwächen sollten. 
Tessin mit Südtirol auszutauschen hat vor Siegfried Lichtenstaedter bereits der bekannte Schriftsteller Hermann Hesse auf ganz andere Art und Weise "vollzogen". Literarisch. In seiner Kurzgeschichte Der Weltverbesserer erzählt Hesse von dem jungen Aussteiger Berthold Reichardt, der sich von München kommend in einem Südtiroler Obstgarten mit Weinberg niederlässt und dort ein Leben fernab der Zivilisation führt. Hesse beschreibt in dieser Erzählung vor allem persönlich gemachte Erfahrungen am legendären Monte Verità in Ascona, einem wichtigen Ort für Vegetarier und Freigeister, den er selbst Anfang des 20. Jahrhunderts mehrfach aufsuchte.

 

Mit seinem Weltverbesserer hat Hermann Hesse einige alternative Gedanken und Beobachtungen zu Papier gebracht, die er am bekannten Tessiner Hügel für Lebensreformer:innen machte, sie dem bürgerlichen Leben von damals gegenüberstellte und für seine Darstellung nach Südtirol verlegte. Hesse verstarb am 9. August vor 60 Jahren im kleinen Tessiner Ort Montagnola. 

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Josef Fulterer So., 07.08.2022 - 06:16

Antwort auf von Benno Simma

Es gibt in der Geschichte viele Beispiele, wo mit den härtesten kolonialischten Maßnahmen (Zerreißung der Familien, willkürlicher Zwangsumsiedlung, ausschließlichen Zwangsunterricht in Fremdsprache bis zum Verbot die eigene Sprache zu verwenden) "ganzen Völkern die andere Mentalität aufgezwungen wurde." Damit ist leider sehr viel geistiges Potenzial verloren gegangen.
Nahtstellen verschiedener Sprachen sollten als großer Vorzug gesehen werden, um die Verständigung zwischen den verschieden Sprachen auszubauen und das gegenseitige Verständnis zu fördern.

So., 07.08.2022 - 06:16 Permalink