Kultur | Gastbeitrag

Das furchtbare Schweigen

Die Rede, die Nicola Canestrini auf der Gedenkveranstaltung des Südtiroler Schützenbundes zu „100 Jahre Marsch auf Bozen“ gehalten hat.
Schützenmarsch 1. Oktober 2022
Foto: Südtiroler Schützenbund
Dem Südtiroler Schützenbund und dem Heimatbund sollte die Gesellschaft dankbar sein. Damit meine ich nicht nur die deutsch- und italienischsprachigen Südtiroler, sondern auch Italiens Gemeinschaft.
Denn es ist Heimatbund und Schützen zu verdanken, dass wir heute „gezwungen“ sind, uns mit dem 100. Jahrestag des Marsches der Faschisten auf Bozen auseinanderzusetzen.
Mit einigen wenigen löblichen Ausnahmen – ich denke dabei an die Gemeinde Bozen und an die Universität – bricht diese Initiative ein allgemeines Schweigen. Und ich sehe hier leider keine offiziellen Stellvertreter jenes Staates, der doch Gründe dafür hätte, hier mit uns am 1. Oktober am Ratshausplatz zu stehen.
War der Marsch auf Bozen doch die Präambel zur Machtübergreifung Mussolini’s in Italien, die Eingangstür für zwei Jahrzehnte verheerender Tyrannei des Faschismus und des Nationalsozialismus in ganz Europa. 
Auch am 1. Oktober 1922 schwiegen viele, von denen zu erwarten gewesen wäre, dass sie sich gegen das Unrecht wehren
Auch am 1. Oktober 1922 schwiegen viele, von denen zu erwarten gewesen wäre, dass sie sich gegen das Unrecht wehren. Militär und Polizei schauten damals tatlos zu, wie die italienischen Nationalisten gewaltbereit durch die Laubengasse marschierten, und dann mit der Mittäterschaft der damaligen Regierung samt König den Bürgermeister Julius Perathoner absetzten und das Rathaus stürmten. Es war nichts anderes als die Vorbereitung – oder die Durchführung – der gewaltsamen Italianisierung Südtirols, die schon am Jahre zuvor am Blutsonntag ihre ersten Opfer gefordert hatte.
 
 
 
 
Heute müssen wir also nicht nur – wie Martin Luther King das ausformuliert hat - die ätzenden Worte und bösen Taten der schlechten Menschen bereuen, sondern auch das furchtbare Schweigen der guten. Denn Schweigen, wenn jemandem Unrecht geschieht, heisst sich mitschuldig zu machen. 
Ed ecco un fondamentale insegnamento: ieri come oggi nessuno ha il diritto di tacere, quando si tratta di ingiustizie. Nessuno ha il diritto di pensare di non essere coinvolto quando vengono violati i diritti.
Warum war gerade Bozen im Fadenkreuz der Faschisten? Wohl weil Nationalismus der ideale Boden für Faschismus war - und heute noch ist. Auch im heutigen Rechtsextremismus spielt genau Nationalismus eine entscheidende Rolle. Rechtsextremisten sehen gestern wie heute die sogenannte Nation durch viele externen Einflüsse bedroht, wie zum Beispiel durch die Zuwanderung; der Nationalismus geht hier mit aggressiver Fremdenfeindlichkeit, oder - besser gesagt mit Rassismus – einher, und fordert Gebietserweiterung, um dem eigenen Volke “Lebensraum” zu schaffen.
Egal, ob diese Gebietserweiterung durch Krieg, militärischen Sondereinsatz, Friedensverträge die das Recht auf Selbstbestimmung missachten geschieht, Nationalismus ist einer der entscheidenden Faktoren.
Ieri come oggi nessuno ha il diritto di tacere, quando si tratta di ingiustizie. Nessuno ha il diritto di pensare di non essere coinvolto quando vengono violati i diritti.
Kann man übersehen, wie dieses Thema heute noch aktuell ist? 
Auch die Südtiroler wurden damals als fremd angesehen, denn es gab „kein anderes Gesetz als Italien“, wie vor 100 Jahren hier bei der Stürmung des Ratshauses die Faschisten vom Balkon verkündeten. Auch in Südtirol wurde bekanntermaßen mit kriminellen Methoden eine Zwangsnationalisierung durchgeführt, leider nicht nur während des Faschismus, sondern – wieder im ohrenbetäubendem Schweigen der Guten!  - auch lange in die italienische Republik hinein, die für zu lange Zeit denselben Leuten, die unter dem Faschismus an der Macht waren erlaubt hat, die Machtpositionen nicht nur aufrecht zu erhalten, sondern sogar zu verstärken. Der Ausgang des Mailaender Prozesses und der sogenannte Folterprozess bestätigen dies nur zu gut. 
Können wir wirklich sagen, dass wir genug Antikörper haben, um eine neuen Machtübernahmen des Faschismus für immer verhindern zu können? 
Sieht man nicht, wie die Geschichte sich wiederholen kann, besonders, wenn sich die Gesellschaft nicht mit der Aufarbeitung der eigenen Fehler befasst? Können wir wirklich sagen, dass wir genug Antikörper haben, um eine neuen Machtübernahmen des Faschismus für immer verhindern zu können? 
Nein. 
 
 
 
Und damit beziehe ich mich nicht auf den Ausgang der letzten Wahlen, die die Nachfolger des Movimento sociale italiano samt fiamma tricolore belohnt haben. Denn wenn eine demokratische Wahl eine Partei belohnt, die noch Verherrlicher der Mussolini Ära in den eigenen Reihen hat, ist dies nicht Grund, sondern Folge der mangelnden Aufarbeitung, die den nie ganz ausgerottenen Viren des Faschismus erlaubt hat, 100 Jahre lang zu überleben. Denselben Viren verdanken wir es wohl dass es – hier: in Bozen! - noch ein Siegesdankmal, einen Siegesplatz und andere Strassennamen gibt, die den Faschismus verherrlichen. 
I fascisti hanno proclamato qui, 100 anni fa, che non c’era altra legge che la loro. La legge del più forte, la legge della violenza, del sopruso, dell’intolleranza, del razzismo. 
Sie hatten allerdings Unrecht. 
Wir wissen heute, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind, dass wir uns einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen, wie es 1948 die allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündet. 
Allerdings, was wir auch jüngst noch gelernt haben. Man muss sich für diese universellen Werte täglich einsetzen, da diese niemals als selbstverständlich angesehen werden können.
Unser Zusammenkommen soll heute beweisen und bekunden, dass es kein anderes Gesetz gibt als das der Toleranz, des Dialoges, der Nichtdiskriminierung, der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Gleichheit.
 
 
 
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△rtim post Mo., 03.10.2022 - 12:44

Als Demokrat-in kann man Nicola Canestrini da nur beipflichten. Die Reaktion gibt ihm recht.
Fratelli-d’Italia-Koordinator Galateo, der in einem Auftritt eines Traditions- und Trachtenvereins gegen den Faschismus 2.0 eine Provokation gegen Wahlsiegerin Meloni sieht. Auch Hannes Obermairs stoßt dieser sichtbare “etablierte Anti-Faschismus in Südtirol” in der Tradition eines Hans Egarters auf.
Als was weisen sich eigentlich Obermairs "Furz-Sager, seine Animositäten gegenüber der Einheit des Landes Tirols, den Bozner Bürgermeister Perathoner, sein Umgang mit Geschichte aus?
Wer diesen nach dem 24. April 1921 weiteren Gewalthöhepunkt des Mussolini-Faschismus als “gewaltförmigen Versuch”, (Hannes Obermair, Rai – Südtirol, Tagesschau vom 01.10.2022) abtut, verharmlost nicht nur, sondern verfälscht postfaktisch die Ereignisse jener Zeit, kurzum Geschichte. Denn die Gewalt war konkret. Es hatte Täter und Opfer.
Ebenso bekannt ist, dass am 25.09. 2022 in Italien die Feinde der offenen Gesellschaft nunmehr die politische Mehrheit haben.
“Die italienische Demokratie spielt zur Stunde offen mit einem leisen Selbstmord.” (P. Sloterdijk)
Einige Frauen geben auf Plätzen noch Lebenszeichen. In Bozen ein Traditionvervein. Anderes Personal hat es offenbar nicht. Auch wenn alle gelernt haben müssten. Principiis obsta! Wehret den Anfängen! Und obgleich das Ignorieren der größeren und kleineren Zusammenhängen in der Südtiroler Atmosphäre wohl weniger zulässig ist.

Mo., 03.10.2022 - 12:44 Permalink
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Walter Kircher Mo., 03.10.2022 - 13:26

Anerkennung und DANK Herrn Canestrini für notwendige Beharrlichkeit, - die Versuchung geschichtliche Tatsachen "anzupassen" bleibt wohl allzu "menschlich" ... mit Verlaub.

Mo., 03.10.2022 - 13:26 Permalink
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Markus Lobis Mo., 03.10.2022 - 13:28

Ich halte Märsche nicht für geeignete Mittel antifaschistischen Engagements, aber diese Rede von Nicola Canestrini ist gut, richtig und wichtig! So wie die deutschsprachigen SüdtirolerInnen sich nie wirklich um Aufarbeitung des Nationalsozialismus bemüht haben, haben es auch die italienischsprachigen unterlassen, die sich - als motivierender Nebenaspekt - auch noch gerne zu den Siegern des Zweiten Weltkrieges gesellten.

Mo., 03.10.2022 - 13:28 Permalink
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Walter Kircher Mo., 03.10.2022 - 13:49

übrigens, der Doppelnamen unseres Landes trifft Zustand und Befindlichkeit auf das Wahrhaftigste: - AA wurde stets dann eingeführt, wenn es galt Tirol/S.Tirol von den Karten zu tilgen ...

Mo., 03.10.2022 - 13:49 Permalink
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Hartmuth Staffler Mo., 03.10.2022 - 14:00

Dass der rechtsextreme Galateo den Aufmarsch der Schützen nicht gut finden würde, war zu erwarten. Ebenso auch, dass der nicht weniger extreme (je nach Anlass links- oder rechtsextreme, Genaues weiß er wohl selbst nicht) Obermair in das gleiche Horn bläst wie Galateo, überrascht auch nicht. Also nichts Neues.

Mo., 03.10.2022 - 14:00 Permalink
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Nicola Canestrini Mo., 03.10.2022 - 18:54

Non avrei mai potuto riassumere un tema così complesso come quello dell'avvento al fascismo e del nazismo in poche parole. Quanto alle accuse di contiguità degli Schuetzen al nazismo, per brevità: (anche) sabato hanno condannato allo stesso modo fascismo e nazismo. NC

Mo., 03.10.2022 - 18:54 Permalink
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Günther Ploner Di., 04.10.2022 - 13:48

Diese Rede - welch ein Format !
Herr Canestrini - welch eine Persönlichkeit !

wenn es nur möglich wäre ...
er wäre ein Landeshauptmann für unsere Heimat
er verteidigt erworbene Rechte !
Wer von den Interessensvertretern im Landtag,
könnte ihm wohl das Wasser reichen ?

Di., 04.10.2022 - 13:48 Permalink