Saviano, Roberto
Foto: Affari Italiani
Politik | Regierungsbildung

Brüssels sorgenvoller Blick nach Rom

Melonis Wahlsieg löst in mehreren Hauptstädten der EU Besorgnis aus. Roberto Saviano äussert in der britischen Tageszeitung Guardian herbe Kritik und löst Polemiken aus

Zwei Wochen nach der Wahl lässt man sich mit der Bildung des neuen Parlaments Zeit. Im Hohen Haus gelten auch in der Internet-Ära bizarre Rituale. So erhält jeder Gewählte ein Telegramm, das seine Kür zum Abgeordneten oder Senator offiziell bestätigt und das auf der ersten Sitzung des neuen Parlaments vorgelegt werden muss. Erste Amtshandlung ist die Wahl des neuen Präsidiums. Dass die Sitzung von einem prominenten Überläufer geleitet wird, kann als untrüglicher Beweis dafür gewertet werden, dass die traditionellen Unsitten der italienischen Politik auch in Zukunft Bestand haben werden. Ettore Rosato, dienstältester Vizepräsident der Abgeordnetenkammer gehört zu jenen, die sich vor einigen Jahren auf der Liste des partito Democratico wählen liessen, um dann mit Matteo Renzi den gewohnten cambio di casacca zu vollziehen und die neue Partei Italia viva zu gründen. Nach ihm ist auch das derzeit geltende und umstrittene Wahlrecht Rosatellum benannt.

 

 

Im Hohen Haus gelten auch in der Internet-Ära bizarre Rituale. So erhält jeder Gewählte ein Telegramm, das seine Kür zum Abgeordneten oder Senator offiziell bestätigt und das auf der ersten Sitzung des neuen Parlaments vorgelegt werden muss.

Giorgia Meloni drängt indessen zur Eile. Erste Amtshandlungen des neuen Parlaments sind die Wahl der Präsidenten von Kammer und Senat. Nach dem Willen Melonis soll Elisabetta Casellati Senatspräsidentin bleiben, als Nachfolger des scheidenden Kammerpräsidenten Roberto Fico ist der Altfaschist Ignazio La Russa im Gespräch, der schon 1971 Verantwortlicher des ultrarechten fronte della gioventù war.

 

 

 

Der unaufhaltsame Aufstieg Giorgia Melonis an die Spitze der italienischen Regierung sorgt indessen in der EU  weiterhin für teilweise herbe Kritik. Die französische Europa-Ministerin Laurence Boone sieht "wichtige Grundwerte der EU und die Rechtsstaatlichkeit" in Gefahr. Staatspräsident Sergio Mattarella erwidert postwendend: L´Italia sa badare a se stessa. 
Im britischen Tagblatt The Guardian beleuchtet indessen der italienische Erfolgsautor Roberto Saviano in einem ausführlichen Artikel die Gefahren, die von Meloni ausgehen könnten: "Giorgia Meloni presents a danger to the democratic balance in Europe. Her leadership looks to be the antithesis of what Italy needs – and not just at this difficult moment.The danger arises for Europe because Italy has always been a laboratory: it has foreshadowed the crises of other countries.Italy had Mussolini before Hitler and the leftwing extremist Red Brigades before Action Directe appeared in France and the Red Army Faction followed suit in Germany. Italy had Berlusconi before the US got Trump. And after years of Berlusconi misrule, Italy produced the Five Star Movement, the first populist party led by a comedian, before the rest of Europe caught up. Five Star’s agenda was political disruption, often without any thought to the consequences."
In einer Videobotschaft an die verbündete spanische Rechtspartei Vox wirft Meloni einen Blick in die Zukunft: "Non siamo mostri. Ora le nostre idee diventeranno politiche di governo come in Polonia e nella repubblica ceca. Viva l`Europa dei patrioti !"

Indessen tritt das neugewählte Parlament am Mittwoch zu seiner ersten Sitzung zusammen. Die Optik ist nach der Reduzierung der Parlamentarier von 315 auf 200 im Senat und von 630 auf 400 in der Kammer erheblich verändert. Zahlreiche Bänke wurden entfernt, die Feiräume haben erheblich zugenommen.

In Rom hält mittlerweile das Minister-Toto weiterhin an. Das Tauziehen dürfte sich noch einige Tage hinziehen. Der scheidende Gouverneur der italienischen Notenbank, Ignazio Visco wird als zukünftiger Wirtschaftsminister gehandelt, Antonio Tajani als Innenminister. Auf erheblichen Widerstand stösst die Forderung Berlusconis, seine Vertraute Licia Ronzulli zur Unterrichtsministerin zu ernennen.  Auch der seit Jahrzehnten bestens bekannte ehemalige Zivilschützer Giuseppe Guido Bertolaso ist wieder im Gespräch - dieses Mal als Gesundheitsminister. Bis alle caselle a posto sind, könnten noch etliche Tage vergehen.
Indessen tritt das neugewählte Parlament am Mittwoch zu seiner ersten Sitzung zusammen - der Premiere des reduzierten Parlaments.

 

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Stereo Typ Mo., 10.10.2022 - 13:51

Warum lässt man Meloni nicht mal arbeiten und wertet dann? Das Wahlergebnis ist nun mal anders als erwartet. Mit der bisherigen Politik waren weit weniger Italiener*innen einverstanden, als Mitte-links und Brüssel glauben machen wollten.

Mo., 10.10.2022 - 13:51 Permalink
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G. P. Mo., 10.10.2022 - 14:21

"So erhält jeder Gewählte ein Telegramm, das seine Kür zum Abgeordneten oder Senator offiziell bestätigt und das auf der ersten Sitzung des neuen Parlaments vorgelegt werden muss."
Damit ist eigentlich alles gesagt, wie fortschrittlich Italiens Politik ist ...

Mo., 10.10.2022 - 14:21 Permalink
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△rtim post Mo., 10.10.2022 - 21:27

Wie gut, dass es vereinzelt auf europäischer Ebene noch mahnende Weckrufe gibt. Leider sehr sehr wenige im Vergleich zu Österreich 1999-2000.
Faschismus 2.0 geht eigentlich alle an. Insbesondere, wenn, wie in Italien derzeit, "die italienische Demokratie zur Stunde offen mit einem leisen Selbstmord spielt. (vgl. P. Sloterdijk). Schließlich leben wir nicht nur in einer Wirtschafts-, sondern auch in einer europäischen Wertegemeinschaft.
Bei Appellen an die Solidarität, bei finanziellen Forderungen ... gegenüber der EU hat Mattarella bislang ja auch nicht gesagt: "L´Italia sa badare a se stessa."
Mattarella sollte als Hüter der Verfassung da wohl eher, wie es Klestil in Österreich vormachte, auf eine (europäische) Garantieerklärung der Meloni-Regierung im Interesse der um ihre Grund- und Minderheitenrechte zurecht besorgten Bürger-innen bestehen.

Mo., 10.10.2022 - 21:27 Permalink
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Robert Hölzl Di., 11.10.2022 - 11:08

Antwort auf von △rtim post

Das größte Problem mit der EU ist, dass sie nie über die Wirtschaftsgemeinschaft, die sie bei der Gründung war, hinausgewachsen und eine Wertegemeinschaft geworden ist. Oder glaubt irgendjemand die früheren Ostblockländer (und jetzigen Beitrittskandidaten) wären der EU aus Gründen der Wertegemeinschaft beigetreten. Sie wollten Geld und Schutz vor Russland.

Di., 11.10.2022 - 11:08 Permalink
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Karl Trojer Di., 11.10.2022 - 18:37

Antwort auf von Robert Hölzl

Ich habe schon den Eindruck, dass die Europäische Union von vielen Bürger:innen als eine Wertegemeinschaft erlebt wird. Dass Staaten wir Polen bei ihrem Beitritt zur EU vorrangig an finanzielle Hilfen interessiert waren, erscheint mir, aus geschichtlicher Sicht, verständlich und rechtfertigbar.

Di., 11.10.2022 - 18:37 Permalink