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Kommt Zeit, kommt Rate

Es ist das Einmaleins des Smalltalks: Und, was machst du so in deiner Freizeit? Was für eine Frage, Geld verbrennen!
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
Unterholzner, Josef
Foto: Team K

Wie spreche ich mit Menschen, die ich noch nicht kenne?
Jeder hat da seine eigene Methode, ich gehe beim Kennenlernen immer strategisch vor, Frage für Frage, Schicht für Schicht schäle ich meine Opfer wie eine Zwiebel, wobei ich höchst selten weine, ehrlich.

Ich beginne natürlich mit dem Namen, was sonst, ein bisschen Klischee muss immer sein.
Dann kommt die etwas umfangreichere Frage nach dem Wieso (z.B. Wieso heißt du eigentlich X?), gefolgt vom Woher (z.B. Woher kennst du Y in dessen Wohnung/Garten/etc. wir gerade stehen?) und natürlich die zweite Frage nach dem Namen, weil er mir schon wieder entfallen ist. Dazwischen streue ich gelegentlich ein paar Mal Mhm oder Okay, interessant, nicht zu desinteressiert aber auch nicht zu verzweifelt natürlich, und eccoci, die Basis für unsere gemeinsame Zukunft (oder zumindest diesen Abend) ist geschaffen!

Soweit so gut, jetzt fehlt nur noch eine letzte Frage, eine perfekte Überleitung zum ersten echten Gespräch:

Was hältst du vom Wetter/Sport/neuen italienischen Kabinett mit viel zu wenig Frauen? Nein, zu viel Klischee, ich will aufregend sein. Was läuft bei dir so? Nein, das klingt, als wollte ich auf irgendwas besonderes hinaus, es soll ja möglichst casual wirken. Was machst du… Ja, das ist gut, schön allgemein, aber doch etwas spezifischer bitte. Was machst du… beruflich? Hm, vielleicht, nicht schlecht, ja, aber, aber, aber was, wenn mein Gegenüber gar nicht arbeitet, vielleicht sogar arbeitslos ist oder gerade den Job verloren hat, wie peinlich! Too risky, aber was ist mit Freizeit, alle haben Freizeit, irgendwie, oder? Jetzt bemerke ich es erst, man sieht mich schon so komisch an, jetzt oder nie! Ich lehne mich lässig zurück, lasse meinen Blick kurz schweifen, und mit leicht beiläufigem aber doch interessiertem Tonfall, sage ich es, „Und, was machst du so in deiner Freizeit?“, voller Stolz, das richtige gefunden zu haben.

Aber kaum ausgesprochen, stockt mir der Atem, bin ich vollkommen verrückt geworden? Wir alle machen doch dasselbe in unserer Freizeit, wir alle kennen nur eine Beschäftigung, eine Leidenschaft, eine Passion!

Mein Gegenüber sieht mich verwirrt und auch genervt an, ich bin so was von unten durch.

„Was für eine Frage, Geld verbrennen!“

Figuraccia par excellence meinerseits.

 Und, was machst du so in deiner Freizeit? Was für eine Frage, Geld verbrennen!

Früher dachte ich immer, die Freizeit eines jeden Einzelnen sei etwas Heiliges geradezu, das alle nach ihren individuellen Wünschen gestalten und von dem alle je nach Arbeitsplatz und -bedingungen, persönlichen Neigungen und Charakter eine gänzlich andere Idee haben.

Tja, das wird der Romantiker in mir gewesen sein, denn Josef Unterholzner, Landtagsabgeordneter für Enzian, hat jüngst bei der Landtagssitzung vom 12. Oktober 2022 das Rezept gefunden, den Code geknackt, die magische Zauberformel hergeleitet, merke: „Je mehr Freizeit die Menschen haben, umso mehr Geld brauchen sie“.

Doch bei dieser noch einfachen Faustregel blieb es nicht. Wie jeder gute Professor meiner Schulkarriere wird vom Enzian-Mann gleich ein Beispiel aus dem eigenen so gepriesenen Leben als Unternehmer hervorgezaubert, um das Ganze zu veranschaulichen. Viele Leute hätten ihm damals zigmal gesagt „Chef, ich brauche mehr Geld“, die Antwort folgte immer prompt, hart und mit einer guten Portion Zynismus, „Dann arbeiten Sie wahrscheinlich zu wenig, weil in der Arbeitszeit brauchen Sie ja kein Geld“. Bella Josef, das ist noch ein echter Unternehmer des Jahres, so wie ich ihn mir vorstelle. Mehr Geld gibt’s nicht, basta, mach dich lieber wieder an die Arbeit.

– Chef, ich brauche mehr Geld

Die Antwort folgte immer prompt, hart und mit einer guten Portion Zynismus:
– Dann arbeiten Sie wahrscheinlich zu wenig

Gut gesagt: Wer mit Arbeiten beschäftigt ist, hat keine Zeit zum Ausgeben! Das ist nur was für die, die zu viel Zeit in ihrem Leben, die Freizeit im Überfluss haben, die aus Langeweile und Mangel an alternativen Beschäftigungen ihre Kohle für die neueste Tasche von Gucci oder das hundertste Paar Schuhe beim Geschäft unter den Bozner Lauben (das preislich mit Gucci durchaus mithalten kann) hinblättern!

Ich persönlich verwende meine Freizeit ja lieber anders, normalerweise stelle ich mich auf den Waltherplatz und werfe Geldscheine in die Luft, hin und wieder mache ich vielleicht sogar einen Geldengel in dem Haufen hart erarbeiteter Banknoten,  aber das war noch vor Ukraine, Inflation und Rechtsruck und vor der Erkenntnis, dass ich eigentlich beim Arbeiten hätte sein sollen.

Jedes Mal, wenn im Supermarkt mein Kassazettel viel zu viel anzuzeigen scheint für das wenige, das da in meinem Wagen liegt, hätte ich beim Arbeiten sein sollen. Jedes Mal wenn die in die Höhe geschossene Gas- oder Stromrechnung ins Haus flattert, hätte ich beim Arbeiten sein sollen. Jedes Mal, wenn ich von der neuesten AFI-Studie lese, wonach sich 46% der Südtiroler Arbeitnehmer*innen schwer tun, über die Runden zu kommen, na, wo hätte ich sein sollen? Beim Arbeiten, ist ja klar!

Im Nachhinein ergibt natürlich alles Sinn, immerhin kann man im Büro schlecht Einkaufen, Rechnungen werden wahrscheinlich kaum auf einer Baustelle zugestellt, Studien lesen während man vier Teller zu den Deutschen Touris balanciert, undenkbar!

Wir fassen die Unterholzner’sche Gleichung zusammen: Mehr arbeiten ist das Heilmittel, zwar nicht um mehr zu verdienen, sondern um die Zeit, die für Ausgaben zur Verfügung steht, auf ein Minimum zu reduzieren.

Die 40-Stunden-Woche reicht da aber bei den meisten längst nicht mehr, um die unverschämt hohen Freizeitausgaben im Zaum zu halten. Immerhin hat man dann ja noch, abzüglich acht Stunden Schlaf pro Nacht (wer’s glaubt), 72 Stunden, also drei (!) volle Tage Zeit, um das ganze mühsam erwirtschaftete Geld wieder in den Wind zu schießen.

Das heißt, es werden wohl mehr als 40 Stunden werden müssen, laut Unterholzner aber kein Problem: „Hochmotivierte Mitarbeiter arbeiten weitaus mehr als 40 Stunden die Woche, ganz selbstverständlich“. Damit das klar ist, ich würde mich nie zwischen einen „hochmotivierten Mitarbeiter“ und seinen Arbeitsplatz werfen, wo denkst du hin, bin ja nicht lebensmüde. Makes less sense to me, Josef, dass alle anderen, die tagtäglich auch aufstehen und zur Arbeit gehen, aber nunmal bei den 40 Stunden bleiben oder sogar Teilzeit arbeiten (shock), einfach nicht Teil dieser hochmotivierten Elite sein sollen. Menschen, die nach einem langen Arbeitstag müde und erschöpft sind, die sich gerne auch mit etwas anderem als ihrer Arbeit beschäftigen. Menschen, die sich Zeit wünschen, um ihren Hobbies und Interessen nachzugehen, Zeit mit der Familie verbringen oder sich auch einfach mal entspannen wollen. Menschen, die das Leben in den vielen Facetten, die es zu bieten hat, genießen wollen, kurz: Menschen, die arbeiten wollen, um leben zu können, und nicht umgekehrt. Work-Life-Balance und so weiter, klingelt’s?

Arbeit ist mehr als Geld, Arbeit ist aber auch nicht alles.

Das Problem sieht Unterholzner vor allem bei Staat und Steuern, die besonders bei Überstunden viel zu hoch seien. Das kann teils durchaus stimmen, jedoch hat der Schutz der 40-Stunden-Woche wie die meisten anderen arbeitsrechtlichen Regelungen auch seine Berechtigung: Wer je versucht hat mit seinem Arbeitgeber über Meinungsverschiedenheit zu verhandeln, wird gemerkt haben, dass der letztere meist am längeren Hebel sitzt (siehe Unterholzner in seinem selbst erwähnten Beispiel). Mein jüngeres (und jetziges) Ich war beim Praktikum immer sehr froh, dass gewisse rote Linien nicht erst mit dem zwei Köpfe größeren Chef ausgehandelt werden mussten.

Wer je versucht hat mit seinem Arbeitgeber zu verhandeln, wird gemerkt haben, dass dieser meist am längeren Hebel sitzt

„Weniger arbeiten, mehr Geld funktioniert mit Sicherheit nicht“, meint Unterholzner überzeugt. Zugegeben, hätte mich auch gewundert, wenn Südtirol mal bei so einem Thema Vorreiter wäre. Für ein Land, in dem die Löhne nach Inflation seit 10 Jahren kaum mehr gestiegen sind und in dem die Kaufkraft gerade ins Bodenlose stürzt, wäre aber auch schon ein „Gleich viel Arbeit, mehr Geld“ ein Fortschritt. 

Unterholzner spricht von Fachkräftemangel, es fehlen überall Leute, bei weniger Arbeitszeit würden es sogar noch mehr. True that, meine mathematischen Kenntnisse reichen aus, um das zu verstehen, aber wieso fehlen denn überhaupt die Leute, scusa? Mit all den vielen Südtiroler Studierenden im Ausland, der Uni Bozen, der dualen Ausbildung? Vielleicht gerade weil von gewissen Leuten erzählt wird, Freizeit sei nur die faule Alternative zur Produktivität, vielleicht gerade weil die Löhne nicht steigen obwohl das Leben so verdammt teuer ist, vielleicht weil sich kein Normalo in diesem Land mehr eine Wohnung leisten kann und ja, vielleicht auch weil Südtirol die jungen Leute gar nicht haben will?

Auch schon ein „Gleich viel Arbeit, mehr Geld“ wäre ein Fortschritt

In Südtirol braucht es bessere Arbeitsbedingungen. Das heißt starke Gewerkschaften, echte Verhandlungen über neue Kollektivverträge, ein Umdenken in der Wohnungs- und Sozialpolitik, einen anderen Umgang mit Arbeitnehmer*innen, jungen Menschen und dem Konzept Arbeit im 21. Jahrhundert – und vielleicht auch endlich mal einen Mindestlohn, damit ausnahmsweise wirklich niemand durchs Raster fällt.

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Thomas Seebacher Mo., 24.10.2022 - 09:37

Absolut! Der Arbeitnehmer muss wieder an Wert gewinnen und darf nicht als selbstverständlich gelten. Ich von StudentenInnen gehört, dass diese über die Sommermonate (Praktikumsvertrag) nicht einmal 2,10 € erhalten haben und dabei die gleiche Arbeit wie die Gesellen verrichten mussten. Ich als Betriebsleiter würde mich schämen! Herr Unterholzner, gehen Sie Mal unter diesen Umständen arbeiten...

Mo., 24.10.2022 - 09:37 Permalink
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Dietmar Nußbaumer Mi., 26.10.2022 - 20:49

In den 70erjahren konnten sich normale Arbeitnehmer noch ein Reihenhaus leisten. Wieso ist das heute nicht mehr möglich. Darauf wird es wohl plausible Antworten geben (abseits von blaublaublaublühtderEnzian).

Mi., 26.10.2022 - 20:49 Permalink
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rotaderga Do., 27.10.2022 - 08:00

Antwort auf von Dietmar Nußbaumer

Und dabei darf man festhalten, diese Häuser stehen noch und haben guten bis gehobenen Standard.
Der Großteil der Arbeiten wurde vielfach selbst verrichtet. Freunde und Verwandte durften mithelfen.
Heute frisst die Bürokratie Planung und Genehmigungen 35% der Baukosten, weitere 15-20% die Zinsen und Inflation. Der Rest Steuern und Baukosten.
Der Bauherr selbst darf während der Arbeiten, ohne Versicherung, nur mit dem Fernglas den Baufortschritt verfolgen.

Do., 27.10.2022 - 08:00 Permalink