Politik | Interview

„Vergessen, politisch zu denken“

Der Präsident der Lebenshilfe Hans Widmann über den Landeshaushalt, Fachkräftemangel im Sozialen und fehlendem politischen Bewusstsein bei den Arbeitnehmern.
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Foto: Lebenshilfe
salto.bz: Herr Widmann, wie geht es Menschen mit Behinderung und ihren Familien zurzeit?
 
Hans Widmann: Es gibt immer noch Familien, wo die Kinder keine Tagesstätte oder Werkstätte besuchen können und auch keinen Heimplatz finden, weil es zu wenig Personal gibt. Das ist eine Katastrophe. Es sind vielfach Eltern im Alter von 70 oder 80 Jahren, die selbst Hilfe bräuchten und Schwierigkeiten haben, ihre behinderten Kinder zu betreuen. Die jüngeren Eltern müssen arbeiten und haben somit auch keine Zeit. Das zehrt an der gesundheitlichen und finanziellen Existenz der Familien. Zudem gibt es in den Bereichen Wohnen, Arbeit, Mobilität und Schule offene Probleme, die entweder wegen fehlendem Personal oder fehlenden finanziellen Mitteln nicht ausgeräumt werden können.
Aber man muss bereit sein, sich mit den Problemen zu konfrontieren, die man selber geschaffen hat und die man jetzt selber lösen muss.
Letzte Woche wurde der Landeshaushalt beschlossen. 1,5 Milliarden fließen ins Gesundheitsressort, knapp 700 Millionen ins Soziale. Erwarten Sie angesichts dieser Summen eine Verbesserung?
 
Ich erwarte mir auf jeden Fall eine Verbesserung. Wir haben den höchsten Haushalt, den es je gegeben hat. Die Politik muss bei diesen 6,7 Milliarden in der Lage sein, für das Soziale die genügenden Mittel zu finden. Menschen mit Behinderung und arme Familien können bei einem solchen Haushalt nicht in Stich gelassen werden. Was noch viel kosten würde, sind die Gehälter des Personals. Sei es im Gesundheitsdienst, im Sozialdienst, bei der Pflege und auch in der Landesverwaltung. Diese Löhne und Gehälter sind seit 2012 nur mehr schleppend erneuert worden. Schlussendlich sind sie ausgehungert worden und jetzt finden wir kein Personal mehr.
 
 
Wieso?
 
Auch im Sozialen müssen wettbewerbsfähige und angemessene Löhne gezahlt werden. Wenn man das nicht tut, dann findet man keine Leute mehr. Das ist zurzeit eines der größten Probleme. Was man in den letzten zehn Jahren versäumt hat, muss aufgeholt werden.
Arbeitnehmer, Rentner und Familien haben in dem Stress, den sie leben, vergessen, politisch zu denken.
Das kann allerdings nicht von einem Tag auf den anderen geändert werden.
 
Von einem Tag auf den anderen kann man das sicher nicht ändern. Aber man muss bereit sein, sich mit den Problemen zu konfrontieren, die man selber geschaffen hat und die man jetzt selber lösen muss. Dafür ist die Einsicht notwendig, dass die Investitionen ins Soziale gleich wichtig sind wie die Investitionen in die Wirtschaft. Ansonsten müssen gewisse Interessensgruppen in Südtirol politisch umdenken.
 
Sie denken schon an die Landtagswahlen 2023.
 
Nein, schon früher. Die Landtagwahlen könnten dann der wichtige Moment sein, aber Umdenken muss man schon früher. Wenn das Soziale nicht gleichwertig wie die Wirtschaft betrachtet wird und das Verständnis dafür fehlt, gibt es einen Riss in der Gesellschaft und der gesellschaftliche Kitt geht verloren.
Ich bin überzeugt, dass es viele Menschen im erwerbsfähigen Alter gibt, die dem Sozialen gegenüber aufgeschlossen sind und eine Berufung für diesen Bereich empfinden.
Soziale Themen wurden in den letzten Jahren nicht nur in Südtirol vernachlässigt.
 
Genau. Arbeitnehmer, Rentner und Familien haben in dem Stress, den sie leben, vergessen, politisch zu denken. Die Wirtschaft denkt ständig politisch, sie hat jeden Tag neue Forderungen und beobachtet die Landespolitik genau. Auf der sozialen Seite fehlt das. Dieses Bewusstsein muss noch wachsen, damit man sich erwehren kann. Das Soziale muss auch am Tisch sitzen, wo die Verteilung stattfindet.
 
 
Was halten Sie von der Soziallandesrätin Waltraud Deeg?
 
Sie kennt die Probleme, die es draußen gibt, aber sie ist für mich viel zu zögerlich.
 
Welche Maßnahmen bräuchte es jetzt, um Personal für die Betreuung von Menschen mit Behinderung zu finden?
 
Es braucht entsprechende Löhne und ein Arbeitsumfeld, wo Familie und Beruf vereinbar sind. Ich bin überzeugt, dass es viele Menschen im erwerbsfähigen Alter gibt, die dem Sozialen gegenüber aufgeschlossen sind und eine Berufung für diesen Bereich empfinden. Prämien sind dafür keine Lösung. Löhne und Gehälter basieren auf periodisch erneuerten Kollektivverträgen mit einer Reallohnerhöhung und einem entsprechenden Inflationsausgleich. Prämien können dann denjenigen ausbezahlt werden, die besonders brav und einsatzfreudig sind. Aber mit Prämien kann man keine wettbewerbsfähigen Löhne schaffen. Das muss die Landesregierung verstehen und umdenken. 
 
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Dietmar Nußbaumer Di., 20.12.2022 - 19:04

Es tut gut, wenn sich politisch erfahrene Personen zu Wort melden, auch kritisch. Die Gewerkschaften wären die politische Vertretung der Arbeitnehmer, wohl auch zu Laschet.

Di., 20.12.2022 - 19:04 Permalink