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Der Geschmack von Gänsefüßen

Tanja Maljartschuk folgte gestern der Einladung des ZeLT und stellte in der Brixner Stadtbibliothek Essays vor. Im Dialog mit Kurt Scharr vertiefte sie Ukraine-Themen.
ZeLT Abend Tanja Maljartschuk
Foto: ZeLT / Daniel Eichbichler
Kurz vor dem Abend erreichte uns eine Nachricht, die bestätigte worum gerade der Innsbrucker Historiker Scharr, mit Schwerpunkt Habsburger-Monarchie (Seine Habilitationsschrift verfasste er zur Bukowina), bemüht war: Dass Südtirol und die Ukraine weniger weit entfernt sind, als man landläufig meint, zeigt sich auch daran, dass Waltraud Mittichs autofiktiver Roman „Ein Russe aus Kiew“ zum Monatswechsel in ukrainischer Übersetzung im Czernowitzer „Verlag 21“ (Видавництво 21) erscheinen soll.
Die Protagonistin des Abends hingegen, studierte Philologin und Bachmann-Preisträgerin (2018 für „Frösche im Meer“), stellte „Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus“ vor, eine Essay-Sammlung mit Texten von 2014 bis 2022. Der Entstehungszeitpunkt der Texte war dabei ebenso Thema wie ihr Inhalt: Während die Autorin von den ältesten Texten meinte diese „sollte es nicht geben“, da ihr Deutsch zu diesem Zeitpunkt lediglich „drei Jahre alt“ gewesen sei und sie, als Ukrainische Autorin, die etwas zu sagen hat, in Wien leben hätte müssen. Von der Lektüre der jüngsten Texte, jener aus dem Vorjahr sah sie, aus verständlichen Gründen ab, wurde sie doch auch so an mehreren Momenten des Abends emotional. 
 
 
Sie begann mit Kurzessays, welche sie 2020 für den Radiosender Ö1 verfasst hatte, zuerst „Hühnerkopf“. Den Einstand machte sie mit einer Anekdote zu Dürrenmatt, der - während einer Rede aufgefordert Hochdeutsch zu sprechen - erwidert haben soll „Ich kann nicht höher!“ und, im Text selbst, mit einem Zitat des deutschen Theologen und Autors Fulbert Steffensky: „Heimat ist da, wo die Toten ihren Platz haben“. Steffenskys Worte ergänzte sie um den Zusatz der Traumata als aus ihrer Sicht für den Begriff „Heimat“ bestimmendes Kriterium. Der Moment sollte emblematisch für den Abend sein, an welchem Maljartschuk den Finger in viele Wunden legte, welche durch Verschweigen und Vergessen unter die Oberfläche des kollektiven Bewusstseins der meisten Ukrainerinnen und Ukrainer gerückt wurden. Sie näherte sich aber nicht ohne den Schmerz mit Distanz schaffender Ironie ein Stück weit zu brechen. Die Geschichte findet sich in Maljartschuk metaphorisch als abgeschlagener, noch zuckender Hühnerkopf auf dem Boden der Küche der Großmutter.
Diese nahm in den Texten eine Sonderstellung ein, etwa auch im folgenden „Schmecken“, in welchem die Großmutter schockiert über den Umstand ist, dass ihre Enkelin den Geschmack von Gänsefüßen nicht kennt. Maljartschuk griff an diesem Punkt des Abends den Holodomor auf, die von Lenin in den 1930er Jahren künstlich herbeigeführte Hungersnot, der Millionen von Menschen zum Opfer fielen. Im Winter sei der Wald voller Judasohren gewesen, die nach allem horchten, das bellte oder krächzte, vergebens, da die Tiere bereits gegessen worden waren, gibt die Autorin die Erinnerung der Großmutter weiter.
„Sehen“ war ein weiteres Sinnbild. An die Ermordung von 1000 Insassinnen und Insassen einer Irrenanstalt, die zuvor eine Kirche des heiligen Karel war gedachte sie damit, thematisierte gleichzeitig die Erinnerung. Mittelalterliche Fresken, etwa ein „Engel der den Himmel aufrollt“ verschwanden erst hinter weißer Wandfarbe, kamen im Laufe des 20. Jh. wieder zum Vorschein und wurden mit dem Hinweis ergänzt, dass es den Patienten verboten sei die Wände zu küssen.
In „Die Liebe“, dem letzten von vier vorgetragenen Kurztexten konfrontierte sich die Essayistin mit der unglücklichen Ehe der Großmutter mit einem „Säufer und Taugenichts“, der für seine Geliebten schönere Schuhe anfertigte als für die eigene Frau. Sie überlebte ihn, er starb mit rund 50 Jahren, „danach war sie lange alt“. Maljartschuk sei hingegen die erste geschiedene Frau in ihrer Familie, verschwieg es der Großmutter in der letzten Phase der Demenz, zur Wahrung des sozialen Friedens. Eine „weiße“ Lüge.
 
 
„Vieles ist irgendwo da, aber verschüttet“, eröffnete Kurt Scharr sein Graben nach Verbindungen. Er fand zwei, die ihm in besonderer Weise wesentlich erschienen: 2014 wollten die Landesregierungen von Trient, Innsbruck und Bozen gemeinsam einen Zug mit Jugendlichen in die Ukraine schicken. Die Spurensuche auf vergessenen Friedhöfen nach Großvätern und Urgroßvätern, die in Kaiserjäger-Regimentern gedient hatten, musste durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim verlegt werden. In Rawa Ruska wurden 1914 „ein Großteil der Kaiserjäger-Regimente verheizt“, aber in ein „dann doch Kriegsgebiet, auch wenn man den Krieg als solchen nicht wahrgenommen hat“, konnte man einen Zug mit Jugendlichen nicht schicken. Die Reise führte am Ende nach Przemyśl an der polnisch-ukrainischen Grenze. Dort stießen die Schülerinnen und Schüler auf einen gepflegten Friedhof, ein Schulprojekt mit ukrainischen Schülerinnen und Schülern hatte den Ort zuvor aus der Vergessenheit geholt, wobei „das Vergessen hier ein ganz anderes ist als in der Ukraine und Sowjetunion", betonte Scharr.
Der andere Bezug, den Schnarr fand, führte über Bruneck in die Ukraine, genauer in die Bukowina, wo der erste Professor für Österreichische Geschichte an der Universität Tschernowitz Ferdinand von Zieglauer war. Die Familie, wie auch deren Apotheke in Bruneck, gibt es noch heute.
Ein besonders lohnender Beitrag zum Abend war in Folge Maljartschuks „Wörterbuch der Toten“, von 2021, ein Text in welchem sie linguistisch Spuren des Jiddischen und der deutschen Sprache in Ausdrücken der Vorgenerationen fand. Auch im Dorf der Eltern und auch in dem Namen typisch „ukrainischer“ Festtags-Gerichten, wie Teigtaschen mit Heringsfülle (traditionell an Weihnachten). Schnarr hakte ein und vertiefte den Aspekt des interkulturellen Zusammenlebens durch paraphrasierte Anekdoten aus Gregor von Rezzoris Werk, der - kurz nach dem zweiten Weltkrieg - die Stellung des Rabbiners als Bezugsinstanz auch für orthodoxe Christen am Land festhielt.
Den letzten Text, von 2017, welchen Maljartschuk am Abend präsentierte, widmete sie abermals dem Gedenken an die eigene Großmutter. Sie erzählte, wie sie von Wien aus, innerhalb eines Abends deren Grabrede schreiben sollte und dies, mit Hilfe von vier Bier und etwas Wein auch tat. Dem Essen („Sie hat an das Essen geglaubt.“) und der Großzügigkeit einer jüdischen Familie, die nach dem Krieg „Brot, mit Butter bestrichen“ mit der Großmutter geteilt hatten, räumte sie in ihrer Rede eine Sonderstellung ein. Dem vom Ausland aus bei der Beerdigung gestifteten Unfrieden bei der Beerdigung - der Geistliche verlas die Rede, wofür er Rund 70 Euro erhielt - stellt Maljartschuk das Bild einer im offenen Sarg lächelnden Großmutter gegenüber, welche sich nun über Essen keine Sorgen zu machen brauchte. Der hintergründig humorvolle Text war ein gelungener Abschluss des Lesungsteils der dritten von drei Ukraineschwerpunkten des ZeLT (Zuvor hatte das Europäische Zentrum für Literatur und Übersetzung Andrej Kurkow und Oksana Sabuschko geladen). Die essayistische Erzählung nahm dem Abend etwas von seiner Schwere, welche in der folgenden, von Erika Wimmer Mazohl eingeleiteten Diskussion mit Öffnung zum Publikum notwendigerweise zurückkehrte. Für das Buch „Gleich geht die Geschichte weiterwir atmen nur aus“ (Kiepenheuer & Witsch 2022) ist an dieser Stelle eine Leseempfehlung auszusprechen.
Das letzte Wort behielt Tanja Maljartschuk dennoch: „Dieser Krieg betrifft uns alle.“
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Waltraud Mittich Mi., 18.01.2023 - 17:06

Wenn ich ergänzen darf: die Geschichte des Ferdinand von Zieglauer steht auch in "Ein Russe aus Kiew" - es ist ein Kreuz, dass Bücher so ungenau gelesen werden. Besten Gruß

Mi., 18.01.2023 - 17:06 Permalink