Politik | Ebnersche Athesia

Toxische Medienmacht

Der EURAC-Forscher Hannes Obermair kanzelt den "Athesia"-Verlag ab. Dass dieser Text jedoch niemals in den "Dolomiten" erscheinen wird, überrascht natürlich wenig.
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Foto: Hannes Obermair

Am Abend des 25.01.2023 hielt Hannes Obermair eine wichtige Rede, die unter dem Titel

"Wozu? Chancen und Grenzen von Wissenschaft und Kultur in Südtirol" stand.

Historiker und Forscher Obermair nimmt, wie üblich, kein Blatt vor den Mund und refereriert geschliffen mit feinster rhetorischer Klinge und sticht dabei schonungslos in jede provinzielle Wunde.

Dem Kulturlandesrat Philipp Achammer sind dabei manchesmal die Gesichtszüge entgleist, vor allem gerade dann, wenn es um die Kritik an seinem Hauptfallschirm, dem "Athesia"-Verlag ging.

Verstanstaltung:
Wissenschaft und Kultur in Südtirol.
30 Jahre Eurac Research, Vereinigte Bühnen
Bozen und Stiftung Südtiroler Sparkasse
im Stadttheater Bozen, 25. 1. 2023
(Hannes Obermair, Eurac Research)

Die Rede im Wortlaut:

"Je leur fais honneur – Michael de Rachewiltz und Josef Prackwieser haben diesen Abend konzipiert, und ich habe die Ehre, mit meinen Ausführungen die beiden Erkrankten zu vertreten. Ich bin selbst mehr als doppelt so alt wie zwei der Jubilare zusammen, womit derAltersjoke auch schon aufgebraucht wäre...

Und nun zum Thema. Je größer der Anwendungsbereich eines Begriffs, desto schwieriger ist seine tatsächliche Bestimmung. Nun sind Wissenschaft und Kultur, Sie werden mir kaum widersprechen, just solche Begriffe.

Es sind wahre Taifunbegriffe, deren konkrete Inhalte zu umreißen selbst ihren AkteurInnen (und oftmals besonders ihnen) schwerfällt und sie auf die Probe stellt. Solche Begriffe tragen den Abdruck von Geschichte an sich, und sie sind fast endlos befrachtet.

Nehmen Sie also, was ich Ihnen zu sagen habe in den mir zugestandenen Minuten (nicht mehr als 3-4 Blättchen, dem entspricht gerade die Zeit eines guten Songs, A Hard Rain’s a gonna fall, Coldplays Don’t panic, einer Arie aus dem Freischütz (die Sie womöglich stärker erfreuen würde als ich hier) oder, um stärker im Thema zu bleiben, Sam Cooks A Wonderful world: I don’t know much about history, I don’t know much about a Science book, but I do know ...tatata...), nehmen Sie meine Worte darum cum grano salis, als vorläufige Äußerung, ungenau, versehen vielleicht mit einem Körnchen Verstand, wer weiß?

Ein Weg zur Bestimmung von Taifunbegriffen ist es, sich an Ereignisketten zu halten. Kurzer Erinnerungsflash also. Als Euracianer (seit 4 Jahren, in Stephan Ortners wundervollem Team) setze auch ich brav bei 1992/93 an, dem zunächst noch quantitativ bescheidenen Beginn einer eigenständigen Wissenschaftslandschaft in Südtirol dank der Gründung der damaligen Europäischen Akademie Bozen. Personell bescheiden, im Aufgabenbereich aber bereits differenziert, ein Beginn mit Oho. Der Fall der Mauer, in echt im geteilten Berlin, vorläufiges Ende eines Systemkonflikts, in echt auch in Bozen, Don’t panic auch hier, im Windschatten einer generellen Gunstphase und eines verspäteten regionalen Wirtschaftswunders, vor dem Hintergrund einer macht- und realpolitischen Globalwende.

Vor allem war es die Abkehr öffentlicher Entscheidungsträger von der so defensiven Haltung, die Südtirols Nachkriegspolitik durchzogen und jegliche Emanzipationsbemühung im Keim erstickt hat. Loyalitätswandel vor Ort. Der späte Beginn von wissenschaftlicher Säkularisierung, das erstmalige Verlassen eines vorgefertigten Skripts im Schauspiel kleinregionalen Lebens. Ein wissenschaftspolitisches Gehen-Lernen.

Damit sind wir in einer Debatten- und Diskursgeschichte, vielleicht auch einer Geschichte fehlender Debatten und Diskurse und damit in einer Milieuschilderung.

Ich rufe die endemische lokale Wissenschaftsferne, ja -feindlichkeit in Erinnerung, gespeist aus einem Mix von konservativer Bewahrung, unerschütterlichem Traditionsglauben, katholischer Bevormundung und athesianischem Medienmonopol – eine wahrlich toxische Mischung, die wenig übrig hat für die Freiheit von Forschung und die Ergebnisoffenheit von Wissenschaft.

Wir sehen es aktuell und beispielsweise an den Mustern der Wolfs„debatte“, in der sich ein Tagblatt der Südtiroler (!) und die Lobby des Bauernbunds dazu berechtigt fühlen, im Stürmer-Stil zweifelhafte Ressentiments zu bedienen und die Öffentlichkeit manipulativ vor sich herzutreiben.

Und ein anderes Beispiel, diesmal unter dem Motto „Hängt ihn höher“ -- der sog. Kippenberger-Frosch 2010 (das Werk „Zuerst die Füße“) und die eigentlich noch unaufgearbeitete Posse darum, und das Unvermögen der damaligen kulturpolitischen Eliten (also Ihr Vorgänger, sehr geehrter Herr Landesrat Achammer), die Freiheit von Kunst proaktiv zu verteidigen, und der gesellschaftliche Unwille, deren Verstörpotential zu ertragen:

Das ist nicht die Liberalität einer Zivilgesellschaft. Das ist ein Südtirol der Vergangenheit. Das seit Wochen, und damit genug der Schreckensmeldungen und des staunenden Befremdens, in den heimischen Buch-Bestsellerlisten an erster Stelle führt –Reimmichls Volkskalender.

Aber nochmal 1992, dieses Südtiroler Wendejahr der autonomistischen Streitbeilegung: Als Historiker erinnere ich auch an Geschichte und Region/Storia e regione, ebenso 1992 auf der Taufe gehoben – welche Befreiung, jenseits der Sprachen an Fragestellungen, an Frageweisen arbeiten zu können, im Kollektiv, das gemeinsame Idiom der Diskurse! Erstmals am Beispiel der Optionsausstellung eingeübt, seither durchdekliniert an 100 Themen und auf Tausenden von Seiten,

von einer Sozialgeschichte der Vormoderne, einer Neubewertung bürgerlich-urbaner Kulturen und Lebenswelten bis zum Thema des Postkolonialismus und dem Umgang mit belastetem Denkmalerbe.

Aber wie kam es zum wissenschaftlichen Take-off? Ich benutze das berühmte Bild Walt W. Rostows, des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers und Kennedyberaters, das er 1960 mit seinen Stages of Economic Growth geprägt hat. Strukturwandel tritt demnach ein, wenn ein sich selbst erhaltendes Wachstum generiert wird – dem Take-off eines Flugzeugs vergleichbar, widrigenfalls die sich aufbauende kinetische Energie in einem Feuerball enden würde am Ende des Rollfelds, sollte das Abheben misslingen. So die einprägsame Metapher. Nun, das Abheben ist, so glaube ich, gelungen, nunmehr verstärkt in der Nähe eines echten Rollfelds, im Noi Techpark mit seinen Forschungs-Clustern, die ihrerseits ein sich selbst erhaltendes Wachstum hervorbringen, und natürlich an der Uni Bozen, einer Ausgründung von Eurac Research seit 1997.

Ich sage das wohl wissend, dass sich die Politik nun denken mag, aber wir finanzieren dies ja – darauf würde ich systemtheoretisch antworten: Aber Sie müssen dies ja finanzieren, um den Feuerball zu vermeiden – die grandiose italienisch-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Mariana Mazzucato vom UCL hat dieses Paradoxon in das Bild des „Staats“ (also der öffentlichen Hand) als notwendigen, also ganz buchstäblich die Not wendenden Unternehmers gekleidet.

Denn ohne Organisation ist alles nichts. Die genialische Einzelleistung ohne Struktur ist ein Mythos. Und Brain Gain, der nachweisliche Zuzug besonders ausgebildeter oder talentierter Menschen, der einzige Beleg und Nachweis für wissenschaftsorganisatorische Konjunktur.

Aber auch hier besteht die Gefahr von Rückschaufehlern – wir haben versucht, uns diese bewusst zu machen und zu vermeiden in der Aufarbeitung anlässlich 30 Jahren Eurac – daraus ist das Buch Eurac Research. Inventing Science in a Region entstanden, mit Beiträgen und Interviews, die eines gemeinsam haben – sie schauen in die Zukunft. Ich weiß immer noch nicht, ob uns das Bilanzieren gelungen ist (wie uns freilich Stephan Ortner in seinem Großmut zuerkannt hat) oder ich mir das nur einbilde...

Sie wissen, der größte kognitive Bias entsteht im Selbstwahrnehmungsprozess, wo man durch Analyse des vergangenen eigenen Verhaltens Gefühle und Einstellungen verfestigt. Gefühl ist Information, und bedingt unsere Urteilsbildung. Wie dem auch sei mit meiner eigenen Attribuierung: Gibt es 2023 eine eigenständige Wissenschaftslandschaft Südtirols? Mit Einschränkungen gewiss, und in den Aussagen der von mir zitierten Publikation ist sie ein Geflecht von Innovation, Transformation und Resilienz, diesen zentralen Fähigkeiten für Fortentwicklung und Besserung.

D.h. zugleich, Wissenschaft und Forschung stärken eine Gesellschaft, sie sind ihr Unterpfand, und nicht etwa ein Luxusgut. Sie müssen aber stets – ForscherInnen spüren das in Südtirol tagtäglich – gegen affektuelle Kritik, gegen den Stammtisch des Besserwissens und der Rechthaberei, verteidigt werden. Wie darauf reagieren? Die größte Mühe ist hier, auf einer ganz prinzipiellen Ebene, dass das Prinzip wissenschaftlichen Wissens „fallibel“ ist, d. h. nie je endgültig und daher prinzipiell revidierbar. Wissenschaft ist organisierte Skepsis (Robert K. Merton).

Darin liegt ihr diskreter Charme, ihre Schwäche, aber auch ihre Radikalität. Sie ist darum naturwüchsiges Gegenteil von Transzendenz, jedenfalls einer Transzendenz, die den Horizont unserer Hoffnungen aufschiebt, vertagt, ins Unendliche oder Unbestimmte verschiebt. Aber sie ist transzendental (im Kantischen Sinn)! Sie ist auf die Bedingungen von Möglichkeit gerichtet.

Ich verlasse die prosaische Ebene, wenn ich es mal so formuliere: Wissenschaft und Forschung als etablierte Haltung sind darauf gerichtet, eine Region in die Lage zu versetzen, eben nicht nur die beiden berühmten Bergsteiger Ötzi und Messner hervorzubringen, sondern idealer Weise die Möglichkeiten für eine künftige Nobelpreisträgerin zu schaffen. Der Realtypus kann freilich nicht bestellt werden.

Und nun eine große Einschränkung, unterfüttert von Pisa-Studien und Brain drain, also der realen Talentabwanderung: Wieso ist die eigentlich gesegnete Region Südtirol immer noch unter ihren Möglichkeiten? Ihrem enormen plurizentrischen und multikulturellen Potential? Eine Antwort könnte sein – die Schule.

Ich spreche hier nicht mehr als Euracianer, sondern als Hannes Obermair, als Citoyen, vielleicht auch als Vater von Kindern, die mühsamstes School-Hopping betreiben mussten.

Wieso haben wir im Jahr 2023 noch keine europäischen, multilingualen Schulen?

Was in Innsbruck und Trento möglich ist, müsste doch in Bozen, Meran, Bruneck und Brixen längst an der Tagesordnung sein...

Daher, verehrter Herr Bildungslandesrat, Sie kennen gewiss das gefiederte Wort aus Schillers Don Karlos, der Marquis von Posa wendet sich im 3. Akt, sich zu Füßen werfend, just an Philipp II. – fast 240 Jahre ist es her, und er sagt und spricht: Ein Federzug von dieser Hand, und neu erschaffen wird die Erde.

Geben Sie Gedankenfreiheit (Don Karlos, 1787). Nun werfe ich mich nicht zu Füßen, sage aber: Geben Sie Schulfreiheit! Unterstützen Sie initiativ, planend und gestaltend, die Schaffung von multilingualen Schulmodellen.

Gerade im öffentlich-rechtlichen Bereich, nicht in den Privatinstituten für Besserverdienende. Sie würden einen Ehrenplatz in Südtirols Annalen beziehen (und die dumpfen „Freunde im Edelweiß“ wären für einmal vergessen). Die Südtiroler Welt würde etwas bewohnbarer werden. Etwas weniger unmündig.

Und es geht mir hier nicht um wohlfeile Rechthaberei oder um kleinliche Sprachregelungen, sondern – im Sinne der Soziologie Hartmut Rosas – um das Ermöglichen von Resonanz. Um den Anspruch evolutionärer Vernunft und um projektive Imagination. Und Alles, oder zumindest Einiges, könnte besser sein!

Zum guten Schluss, nochmals zum unvermeidlichen Paradox von Wissenschaft und Kultur. Es ist ein Feld der Auseinandersetzungen, es muss dies auch sein.

Im Moment allgemeiner Rationalitäts- und Konsenskrisen, der uns umgibt und demokratiepolitisch enorm herausfordert: Für Südtirol, so finde ich jedenfalls, ist es die fortdauernde Ent-Ethnisierung gesellschaftlicher Diskurse, die andauernde Alphabetisierung, die einzig hilft, um mit dem bisherigen Begriff unseres Wissens und Forschens nicht steckenzubleiben.

Um dem Zufallscharakter unserer regionalen Evolution gerecht zu werden. Das Argument lautet ja typisch: Wir sind gut, weil man von uns spricht. Nein, das ist ein krasser Fehler der Aufmerksamkeitsökonomie, der uns immer wieder des Weiterdenkens und Veränderns enthebt.

Die Verwissenschaftlichung Südtiroler Diskursebenen erfolgt hingegen in einem langsamen, auch mühsamen Prozess, dessen Ergebnisse gegen die Zumutungen von einflussreichen Lobbys (und die Kultur zählt nicht dazu), den Verbänden von Handwerk, Tourismus und Dienstleistern, gegen die schon angesprochene, äußerst fragwürdige Medienkonzentration in einer Hand, insgesamt gegen das disziplinierende Milieu des Provinziellen zu verteidigen sind.

Daher erschöpfen sich Effekte von Forschung und Entwicklung nicht in einer ein- oder auch mehrmalig hervorgebrachten Feedback-Schleife, wie dies die Jahre 1992 oder 1997 waren. Die Gemeinschaften von „Denkfabriken“ zu verstetigen, ihre Orte der Kreativität, der Innovation, der interdisziplinären und zugleich praktischen Forschung zu stabilisieren, dies benötigt – im Gegensatz zum neoliberalen Diskurs der Unternehmerschaft – eine andauernde proaktive Haltung des „Staats“, also der vorhandenen politischen Umgebung.

Wissenschaft ist vulnerabel. Ihre Mehrebenenaktion mag Frontstellungen hervorbringen. Sie stellt aber ein unverzichtbares Momentum von Freiheit dar –und dient tatsächlich der Verwirklichung von Demokratie."

In eigener Sache:

P.S. Möglicherweise hilfreich für die Redaktion bzw. die Genossenschaft: Auch das "System Südtirol" (in diesem Fall die Brauerei Forst vertreten durch die Kanzlei Brandstätter) hat mehrfach versucht, mich mit SLAPP-Drohungen einzuschüchtern; nur weil ich geschrieben habe, dass "Forst"-Bier nicht nach dem Reinheitsgebot gebraut wird.
500 Jahre Reinheitsgebot ]

P.P.S. Macht es doch einfach so wie ich, liebe DEMOS 2.0. Ignoriert diese Geistesriesen der "Athesia" doch einfach so, wie ich dies mit "Forst" seinerzeit getan habe. Irgendwann verläuft es sich im Sande und kein Hahn kräht bald mehr danach.

P.P.P.S Juristische SLAPP-Klagen wegen dieses Textes bitte direkt an mich, verehrte Ebner-Brüder, um Salto.bz nicht unnötig zu belasten.
Die Genossenschaft/Redaktion hat meine Privatadresse. (Selbstverständlich werde ich mit Ihrem Schreiben genauso verantwortungsvoll verfahren, wie mit denen von Forst/Brandstätter; sie kommen also direkt in den Reisswolf.)

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Harry Dierstein Mi., 08.03.2023 - 16:26

Antwort auf von Ceterum Censeo

Berechtigter Vorwurf, Ceterum Censeo. Leider ist das "Salto-Tool" noch nicht im WYSIWYG-Zeitalter angekommen und hinkt der Entwicklung ca. 30 Jahre hinterher. Wenn ich mal drei Stunden Zeit finde und einen Programmierer finde, der mir dabei hilft, dann werde ich denn Text neu formatieren. (Ist aber eher unwahrscheinlich).

Mi., 08.03.2023 - 16:26 Permalink