Grenzenloses Europa?

Ein Argument hört man in der Diskussion um die europäische Integration immer wieder: In einem vereinten Europa müssen wir Grenzen abbauen und dürfen keine neuen ziehen. Wer könnte einer solchen Vision schon widersprechen? Und dennoch. Das Argument ist nicht zu Ende gedacht, denn Grenze bedeutet in einem vereinten Europa etwas anderes als im Europa von vor einigen Jahrzehnten.
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Auch in einem vereinten Europa werden wir (Verwaltungs)grenzen brauchen. Wir können nicht sämtliche Gemeinde-, Bezirks-, Landes- bzw. Provinz-, Regions- und Staatsgrenzen auflösen und ganz Europa zentral von einem Punkt aus verwalten. Ein solcher Zentralismus wäre absurd. Ein derartiges Europa würde überdies dem – der europäischen Einigung inhärenten – Subsidiaritätsprinzip zuwider laufen. Im Sinne ökologisch nachhaltiger und regionaler Kreisläufe sowie eines bürgernahen und partizipativen Politikverständnisses ist Subsidiarität absolut unumgänglich.

Die zentralen Fragen für die Zukunft der europäischen Einigung sind daher folgende:

Wie viele Verwaltungsebenen brauchen wir unterhalb der Europäischen Union und wie groß sollen die Einheiten sein? Ist es sinnvoll eine vier- bis siebenschichtige Verwaltung aufrechtzuerhalten? Gibt es Ebenen, deren Aufgaben wir gemäß dem Subsidiaritätsprinzip nach oben bzw. unten delegieren könnten? Sind die Grenzen, innerhalb derer im Moment Entscheidungen getroffen werden, sinnvoll gezogen?

Im derzeit laufenden Wahlkampf um das EU-Parlament kann man grob betrachtet drei konkurrenzierende Antworten auf obige Fragen verorten – drei unterschiedliche Visionen für ein Europa der Zukunft.

Da wäre zunächst die europäische Rechte (von der FPÖ, den Südtiroler Freiheitlichen über die Lega Nord bis zur Front National, den Schwedendemokraten, dem Vlaams Belang und wie sie alle heißen). Sie tritt für eine Stärkung der Nationalstaaten ein und möchte Kompetenzen von der europäischen Ebene auf die Mitgliedsstaaten rückverlagern. Mit dieser Renationalisierung geht auch eine verstärkte Abgrenzung der Staaten untereinander einher. Das Programm zielt auf eine teilweise Rückgängigmachung des europäischen Einigungsprozesses ab und propagiert (bereits gescheiterte) Muster des 19. Und 20. Jahrhunderts.

Dann wären da die großen Volks- und sozialdemokratischen sowie - bedingt auch - die liberalen Parteien Europas, die in den meisten Mitgliedsstaaten die Regierung stellen und über den Rat der europäischen Union somit auch die Geschicke der Union selbst fest in der Hand haben. Sie sind im Großen und Ganzen für eine Beibehaltung des Status quo mit zögerlicher Weiterentwicklung der Integration. Staatsgrenzen, Lobbyismus (Stichwort TTIP), vielschichtige (und daher ineffiziente) Verwaltung, in der sie zumeist auf jeder Ebene selber sitzen, und der „Club der Nationalstaaten“ – sprich die demokratiepolitisch überaus bedenkliche Nicht-Gewaltenteilung in Form des Rates als Legislativorgan – sind für sie aus einem Selbsterhaltungstrieb heraus unantastbar.

Und dann gibt es da noch ein buntes Grüppchen aus meist grünen und links der Mitte angesiedelten Parteien. Innerhalb dieser Gruppe finden sich die progressivsten Ideen, was die Einigung Europas betrifft. Selbstbestimmung – die individuelle (Sexualität, Religion usw.) und die untrennbar damit verbundene kollektive – spielt dabei eine wichtige Rolle. Wobei kollektive Selbstbestimmung nicht „völkisch“ definiert sondern als reiner Ausdruck einer demokratischen Willensbekundung verstanden wird. Das langfristige Ziel ist eine Stärkung der demokratischen europäischen Institutionen, die Antworten auf die großen Fragen harmonisieren sollen – bei gleichzeitiger Verlagerung der Entscheidungskompetenz im Rahmen dieser harmonisierten Regeln auf untere Ebenen. Das macht zumindest einmal die Verwaltungsebene der Nationalstaaten obsolet.

Womit wir zurück bei den eingangs gestellten Fragen wären. Die Ausschaltung der nationalstaatlichen Ebene zugunsten der europäischen und der regionalen bringt zwangsläufig Grenzänderungen mit sich. Denn das nationalstaatliche System wird sich nicht freiwillig selbst ausschalten, sondern wird in jenen Gegenden zu zerbröckeln beginnen, wo die nationale Logik am wenigsten greift und deren systemimmanente Defizite am eklatantesten zum Vorschein kommen. In diesem Zusammenhang ist das Dogma der „Einheit und Integrität von Staaten“ überholt, da es vom nationalistischen Demokratieverständnis des 19. Jahrhunderts ausgeht. Ein solches Dogma darf nicht über dem demokratischen Willen stehen. Somit könnten auch Verwaltungsgrenzen sinnvoller gezogen werden, da sie sich an tatsächlichen – demokratisch geäußerten – Bedürfnissen orientieren und nicht das Resultat von Kriegen oder nationalistischen Erhebungen sind. Vorausgesetzt natürlich, dass es sich bei den Separationsbewegungen um pro-europäische und inklusivistische Initiativen wie jene in Schottland und Katalonien handelt. Das vereinte Europa ist daher ein Argument, das nicht gegen, sondern für eine flexible Handhabung von Verwaltungsgrenzen spricht. Am Ende stünde ein dreistufiges Europa: Eine Europäische Union, die in einem echten Parlament (und ohne Ministerrat) die großen Entscheidungen trifft. Darunter kommen effiziente und bürgernahe Kleinstaaten/Regionen (mit meist zwischen ca. 500.000 und 10,000.000 Einwohnern), die im Rahmen der europaweit gültigen Regeln agieren. Die dritte Ebene bilden schließlich die Gemeinden, die die Probleme vor Ort lösen.

Im Sinne einer effizienten Verwaltung, einer bürgernahen Politik und einer gleichzeitig starken Präsenz Europas in der Welt, muss eine derartige Vision das Ziel des europäischen Einigungsprozesses sein. Lasst uns am 25. Mai Parteien wählen, die uns diesem Ziel ein Stück näher bringen.  

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Lorenz Gallmetzer Sa., 17.05.2014 - 17:19

Sehr seriös und analytisch. Bezweifle nur, dass die derzeitigen "Regionalisten, Autonomisten, Separatisten" von Katalonien, über Schottland, Venetien, Padanien, Sütdtirol & Co. das auch so sehen. Von Le Pen, FPÖ, Orban und anderen Anti-EU-Propagandisten ganz zu schweigen. Eigentlich ist es ja nicht eine Frage der Grenzen. Eigentlich geht es doch darum, ob die EU imstande sein wird, endlich eine sozial gerechte und bürgernahe Politik umzusetzen. Dann hören sich alle diese nationalistischen und Anti-Brüssel-Ressentiments von selbst auf.

Sa., 17.05.2014 - 17:19 Permalink
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Harald Knoflach Sa., 17.05.2014 - 17:43

Antwort auf von Lorenz Gallmetzer

gerade deshalb wäre es ja so wichtig, dass progressive kräfte mit derartigen visionen dieses thema besetzen und es nicht den rechten nationalisten überlassen. wer hindert uns daran, das zu tun? zudem orte ich in katalonien und schottland sehr wohl ansätze, die in die von mir beschriebene richtung gehen. lies dir mal dieses positionspapier der schottischen grünen durch, die an vorderster front zusammen mit der snp (die ähnliche thesen vertritt) für die unabhängigkeit kämpfen: http://www.scottishgreens.org.uk/wp-content/uploads/downloads/2013/11/G…

Sa., 17.05.2014 - 17:43 Permalink
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Benno Kusstatscher Sa., 17.05.2014 - 18:13

Harald, ob wir uns den Nationalstaaten entziehen können, ohne sie vorher in aller Fairness und Freundschaft rückgebaut zu haben, einmal dahin gestellt. Ansonsten finde ich Deine Argumentation schlüssig, verstehe aber nicht, warum ich nicht mit der Idee als solches, sondern mit der territorialen Inkarnation und das auch noch isoliert nach vorne prescht.
Erst wenn Westachsenösterreich und Alpinitalien partnerschaftlich in die selbe Kerbe schlagen, wird Deine Definition von (Nicht-)Grenzen glaubwürdig. Ein rein Südtiroler Projekt wird sich dem Verdacht (und Missbrauch) zu Ersatznationsgelüsten mit klaren, ethnischen Mehrheiten nie entziehen können.
Euregional meint nicht provinziell, aber genau dort sehe ich den Widerspruch, den ich Euch noch wünsche, lösen zu können. sonst passt die Praxis nicht zur schönen Theorie.

Sa., 17.05.2014 - 18:13 Permalink
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Harald Knoflach So., 18.05.2014 - 19:22

Antwort auf von Benno Kusstatscher

ich glaube, wir stehen da ein bisschen vor einem jene-ei-problem. ich gebe dir recht, dass deine befürchtungen in unser konzept hineininterpretiert werden könnten. andererseits, wie anders könnte man es machen, als dass man darauf vertraut, dass ein derartiges neues konzept auch als solches erkannt und angenommen wird. oder anders gefragt: welche parameter müssten sich deiner meinung nach ändern, dass es das wird. oder müssen wir mit dem konzept vorpreschen und verursachen dadurch ein umdenken. wie gesagt - henne und ei.

So., 18.05.2014 - 19:22 Permalink
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Profil für Benutzer Guntram Bernulf
Guntram Bernulf So., 18.05.2014 - 19:58

Antwort auf von Benno Kusstatscher

Nationsgelüste mit klaren, ethnischen Mehrheiten erleben wir auch in der heutigen Situation bereits.
Jeder Versuch, die Autonomie Südtirols zu beschränken, ist zu einem gewissen Prozentsatz auch davon getragen, den arroganten Crucchi zu zeigen, wer im Staat das Sagen hat. (Das "arrogant" ist sicher zum Teil auch selbst verschuldet)
Die Provinz Bozen ist von den in Italien medial breit gestreuten Ressentiments gegen Deutschland zumindest als Kollateralschaden sicher betroffen. Stichwort: "Europei non tedeschi" von "Italia dei Valori".
Ich glaube nicht an all die immer wieder betonten Trennlinien zwischen den Menschen in diesem Land.
Wir leben in einer gemeinsam zu meisternden Wirklichkeit, haben dieselben Probleme.
Es ist der Staat mit all seinen Altlasten und nationalen Illusionen, der ein Treffen auf Augenhöhe in diesem Lande stört, wenn nicht sogar verhindert.
Bei all den Problemen, die wir global zu meistern haben, hat sich dieses Gebilde in den letzten 60 Jahren in beinahe allen Fragen als zur Lösung unfähig gezeigt.
Wenn wir nicht in eine europäische Union der Gleichberechtigung hineinwachsen, werden wir den Karren auf kurz oder lang an die Wand fahren.

So., 18.05.2014 - 19:58 Permalink
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Benno Kusstatscher So., 18.05.2014 - 20:08

Antwort auf von Benno Kusstatscher

Wenn es den vielzitierten Katalanen um die Idee ginge, warum geht man nicht Schulter an Schulter mit den Basken? Warum mobilisert man nicht auch jenseits der Berge auf Französischem Boden? Und auch bei uns: wenn die EU-Regionalität das Ziel ist, warum bewegt man nicht auch Nord/Osttirol und das Trentino und schottet gleich hinterm Suramunt ab? Mein erster Beitrag zu dem Thema (Freistaat von außen gesehen) ist jetzt ein Jahr her und noch immer habe ich das Gefühl, dass die hiesige Selbstbestimmungsszene sich lieber als elitäre Anomalie im regionalen Umfeld sieht, als denn etwa als Vorprescher einer Idee in der Synthese mit dem Umfeld. Im ethnischen Kontext kann man da so einiges hineininterpretieren. Man kann es auch einfacher sagen: wer Grenzen klein predigt, sollte sich auch um die Menschen hinter der Grenze sorgen, und muss sich auch dort um Verständnis bemühen. Die Idee hinaustragen. Nicht die eigene Suppe kochen.

So., 18.05.2014 - 20:08 Permalink
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Benno Kusstatscher So., 18.05.2014 - 20:22

Antwort auf von Benno Kusstatscher

Schön gesagt. Eine kleine Übung für Dich: Ersetze "in diesem Land" mit "in unserer Region Trentino Südtirol" und sage mir, ob Du Unbehagen fühlst, oder ob die zitierte Augenhöhe automatisch gegeben ist, wenn sich nur der Staat draußen hält, wie Du schreibst. Du würdest doch nach wie vor zu Deiner Argumentation stehen, oder?

So., 18.05.2014 - 20:22 Permalink
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Guntram Bernulf So., 18.05.2014 - 20:23

Antwort auf von Benno Kusstatscher

Das kam ja schnell!
Die Katalanen und Basken arbeiten eng zusammen, auch Vertreter der Katalanen in Frankreich sind in den Prozess eingebunden, das kannst Du leicht nachlesen. Du kennst aber den französischen Nationalismus, da ist für regionale Andersartigkeit fast kein Platz.
Warum man die Nachbarregionen nicht einbindet, kannst Du unsere Langzeitregierenden fragen....
Warum wollte man überall Doppelstrukturen (Flughafen, Medizinuni, Fahrsicherheitszentrum, Laimburg,...) schaffen, anstatt zusammenzuarbeiten? Um den gegenwärtigen Zustand in saecula saeculorum zu zementieren und die eigene Macht zu sichern.
Überspitzt gesagt: Wenn das alte Tirol wieder, oder eine Alpenrepublik erstmals, zusammenwüchse, bräuchten wir ja auch nur mehr einen Landtag, anstatt deren dreie...
Man betracht die Arbeit des gesamttiroler Schützenbundes: Da wird über alle Grenzen hinweg ohne ethnische Probleme zusammengearbeitet.
Zudem muss ich sagen, wer sich als Teil der Selbstbestimmungsszene sieht, weiß eines mit Bestimmtheit:
Wir sind alles andere als elitär!

So., 18.05.2014 - 20:23 Permalink
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Guntram Bernulf So., 18.05.2014 - 20:27

Antwort auf von Benno Kusstatscher

Da ich das Trentino und seine Menschen durch langjährige Erfahrung und gute Freundschaften schätze, kenne und liebe, habe ich überhaupt kein Problem damit.
Und da bin ich gar keine große Ausnahme....
Schade, dass Du mir nicht glaubst, dass ich es ehrlich meine...

So., 18.05.2014 - 20:27 Permalink
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Harald Knoflach So., 18.05.2014 - 20:44

Antwort auf von Benno Kusstatscher

ok. es gibt gewisse tendenzen in letzter zeit. aber die schützen sind doch auch ein paradebeispiel für das kirchtumdenken der letzten jahre. wozu braucht es drei landeskommandanten, wenn das land eines ist?

So., 18.05.2014 - 20:44 Permalink
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Profil für Benutzer Benno Kusstatscher
Benno Kusstatscher So., 18.05.2014 - 20:48

Antwort auf von Benno Kusstatscher

Ich hatte Harald als bbdler angesprochen, nicht als Schützen. ist er das denn etwa?
Ich kenn Dich nicht, Guntram, und würde mir nicht anmaßen, Dir etwas nicht zu glauben, sondern Frage, um Deine Antworten zu hören. Also sind wir bei den Schützen, die sicherlich räumlich weitreichender operieren. In einer Schützendiskussion würde ich den Unterschied zwischen altem Tirol und neuen Alpenregion thematisieren wollen, will aber Haralds Beitrag nicht zweckentfremden. Die Gelegenheit kommt bestimmt bald :-)

So., 18.05.2014 - 20:48 Permalink
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Gabriele Di Luca So., 18.05.2014 - 13:40

"Ein rein Südtiroler Projekt wird sich dem Verdacht (und Missbrauch) zu Ersatznationsgelüsten mit klaren, ethnischen Mehrheiten nie entziehen können". Aggiungo: assai paradossale che il processo di formazione di queste nuove entità "amministrativo-territoriali", che in teoria dovrebbero superare la logica nazionalista, venga progettate proprio a partire dalla "ricucitura" dei confini strappati in base a quella logica. Io trovo autenticamente deprimente (Harald lo sa) che i "progressisti" cerchino in ogni modo di aiutare i "vecchi separatisti" prestando loro qualche buon argomento per continuare a sperare in un futuro che escluderebbe i primi dall'avere voce in capitolo. Purtroppo non mi viene altro in mente che l'espressione "utili idioti".

So., 18.05.2014 - 13:40 Permalink
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Harald Knoflach So., 18.05.2014 - 19:29

Antwort auf von Gabriele Di Luca

aber ein weiterer kernsatz ist der: "Denn das nationalstaatliche System wird sich nicht freiwillig selbst ausschalten, sondern wird in jenen Gegenden zu zerbröckeln beginnen, wo die nationale Logik am wenigsten greift und deren systemimmanente Defizite am eklatantesten zum Vorschein kommen."

So., 18.05.2014 - 19:29 Permalink