Wirtschaft | Brüssel

Ist der Kapitalismus reformierbar?

Lange galten die Ideen der Degrowth-Bewegung als nicht salonfähig, nun werden sie im EU-Parlament diskutiert. Sozioökonom Felix Windegger erklärt die Hintergründe.
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Foto: Beyond Growth Conference
 
Vom 15. bis zum 17. Mai findet im Europäischen Parlament in Brüssel eine vielversprechende Konferenz zu Nachhaltigkeit statt. Sie trägt den Namen „Beyond Growth 2023 Conference“ und wird von 20 Parlamentsabgeordneten verschiedener Fraktionen und Fraktionslosen (Grüne, Sozialdemokraten, Linke, Liberale, Christdemokraten / EVP) organisiert. Auch eine Gruppe von Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen aus Südtirol reist für die Konferenz nach Brüssel. Einer davon ist Felix Windegger, Sozioökonom am Center for Advanced Studies von Eurac Research.
 
 
salto.bz: Herr Windegger, um was geht es bei der „Beyond Growth 2023 Conference“ im Europäischen Parlament in Brüssel?
 
Felix Windegger: Die Konferenz ermöglicht den Austausch von Menschen aus Politik, Wissenschaft und Aktivismus, um gemeinsam über Ideen und Strategien für eine zukunftsfähige Entwicklung in Europa nachzudenken. Sie basiert auf dem Gedanken, dass strukturelle Änderungen im Wirtschaftssystem notwendig sind, um wirklich nachhaltig sein zu können. Dafür reichen keine Reformen oder Reförmchen, sondern es muss neu gedacht werden, wie wir leben und wirtschaften. Das schließt auch mit ein, dass man das Wachstumsparadigma zumindest in Frage stellt.
 
Wieso nehmen Sie an der Konferenz teil?
 
Wir wollen dort mitdiskutieren und erfahren, was auf europäischer Ebene zu diesem Thema passiert. Es ist aus globaler Sicht vergleichsweise innovativ, dass auf höchster politischer Ebene im EU-Parlament die Fragen zu Postwachstum und Degrowth diskutiert werden. Es ist für uns deshalb eine gute Möglichkeit, uns auszutauschen, unser Netzwerk zu erweitern und unser neues Wissen nach Südtirol zu bringen.
 
Gibt es Unterschiede zwischen den Konzepten von Postwachstum und Degrowth?
 
Während der Begriff ‚Postwachstum‘ im deutschen Sprachraum von dem Wirtschaftswissenschaftler Niko Paech geprägt wurde, entwickelten sich die Konzepte von ‚Degrowth‘ Anfang der 2000er Jahre in Frankreich. Obwohl die Begriffe heute vielfach synonym verwendet werden, ist laut einigen Vertreter*innen Postwachstum tendenziell eher auf das individuelle Leben fokussiert, während Degrowth eher auf strukturelle Veränderungen abzielt. Aber es gibt mittlerweile verschiedene und sehr heterogene Strömungen unter beiden Begriffen, die eine klare Trennung schwierig machen.
Die Degrowth-Bewegung will sich der Herausforderung stellen, die Wirtschaft auch ohne Wachstum stabil zu halten.
Für viele Entscheidungsträger*innen wirkt der Begriff ‚Degrowth‘ wie ein Schreckgespenst. Wie beurteilen Sie den öffentlichen Diskurs über Wirtschafswachstum in Politik und Medien?
 
In der öffentlichen Wahrnehmung wird Wirtschaftswachstum als Gradmesser für Erfolg betrachtet, sowohl in der Privatwirtschaft als auch in der Politik. Es wird gewissermaßen angenommen, dass stetiges Wachstum von Jahr zu Jahr notwendig ist, um einerseits materielle Bedürfnisse zu befriedigen und andererseits die nötigen Mittel für soziale und ökologische Probleme bereitstellen zu können. Die Medien tragen dazu bei, dass das Bild des endlosen Wirtschaftswachstums ein nicht hinterfragbarer Imperativ der Wirtschaftspolitik bleibt. Dabei wird oft übersehen, dass Wirtschaftswachstum auch mit negativen ökologischen und sozialen Auswirkungen verbunden ist.
 
 
Ist es nicht möglich, durch den technischen Fortschritt die Wirtschaft ökologischer und sozialer zu gestalten?
 
Im öffentlichen Diskurs wird oft suggeriert, dass ein nachhaltiges oder „grünes“ Wirtschaftswachstum möglich wäre. Das spiegelt sich auch im achten Nachhaltigkeitsziel der Vereinten Nationen wider, es lautet „menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum“. Zahlreiche empirische Studien zeigen hingegen, dass das Wirtschaftswachstum nicht von seinen ökologischen Auswirkungen entkoppelt werden kann. Darauf machte der Club of Rome schon vor über fünfzig Jahren mit seinem Bericht zu den Grenzen des Wachstums aufmerksam. Darin teilen Wissenschaftler*innen mit, dass unendliches Wachstum innerhalb eines begrenzten Planeten nicht möglich ist und zu einer Übernutzung der Ressourcen und letztlich zu einem Kollaps des Systems führt. Davon inspiriert entwickelte eine andere Gruppe von Forscher*innen in späteren Jahren das Konzept der planetaren Grenzen.
Degrowth ist zum Teil noch eine Vision und deswegen ist es so wichtig, Konferenzen wie jene in Brüssel zu veranstalten.
Können Sie dieses Konzept kurz erklären?
 
Sie identifizieren neun planetare Grenzen, die Kipppunkte darstellen, eine davon ist der Klimawandel. Wenn wir uns beim Klimawandel über einen bestimmten Kipppunkt hinausbewegen, werden Prozesse in Gang gesetzt, die zerstörerische Folgen für die Ökosysteme haben und die wir aufgrund ihrer Wechselwirkungen in der Gänze noch nicht begreifen können. Stand heute haben wir fünf dieser neun planetaren Grenzen bereits überschritten. Das ist eigentlich ein sehr dramatisches Zeichen dafür, dass wir gesellschaftliche Entwicklung neu denken müssen, um unsere Lebensgrundlagen nicht weiter zu gefährden.
 
Welche Vorteile hat eine Volkswirtschaft davon, wenn in der Wirtschaftspolitik nicht nur das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) herangezogen wird?
 
Als Allererstes wird damit die wirtschaftliche Entwicklung innerhalb der planetaren Grenzen möglich gemacht. Damit wird die Wirtschaft durch lokale Kreisläufe zudem unabhängiger von globalen Märkten. Andere Vorteile können vor allem sozialer und gesellschaftlicher Natur sein. Es würden nicht mehr so sehr Profitstreben und Wachstum um ihrer selbst willen im Fokus stehen, sondern menschliche Bedürfnisse und das Gemeinwohl. Prominente Maßnahmen, die vorgeschlagen werden, sind beispielsweise Arbeitszeitverkürzungen und die Absicherung von bestimmten Grundbedürfnissen wie Wohnen und das Recht auf Pflege.
Es geht bei Degrowth darum, eine sozial wünschenswerte Veränderung des Wirtschaftssystems herbeizuführen. Das bedeutet aber nicht, in einem ansonsten gleichbleibenden Wirtschaftssystem kein Wachstum mehr zuzulassen. Das hätte eine Wirtschaftskrise und Rezension zur Folge. Die Degrowth-Bewegung will sich der Herausforderung stellen, die Wirtschaft auch ohne Wachstum stabil zu halten.
Besonders umweltschädliche Sektoren wie Fast Fashion, Massentierhaltung, fossile Industrien, aber auch Werbung müssen eingeschränkt oder abgeschafft werden.
Wie könnte das in einem kapitalistischen System funktionieren, das durch die Kreditvergabe und die Rückzahlung von Zinsen auf steigende Gewinne angewiesen ist?
 
Das ist die große, wichtige Frage, deren Antwort in strukturellen Veränderungen von wirtschaftlichen und politischen Institutionen liegt. In der Degrowth-Bewegung stehen sich hierbei zwei Positionen gegenüber: Die Erste geht davon aus, dass die notwendigen Veränderungen nicht mit Kapitalismus vereinbar sind. Die Zweite hält den Kapitalismus für reformierbar.
 
Und was haben beide Positionen gemeinsam?
 
Aus Sicht der Degrowth-Bewegung ist der Klimawandel Ausdruck einer Vielzahl von Krisen, die alle miteinander zusammenhängen. Ulrich Brand und Markus Wissen haben das beispielsweise mit dem Konzept der „Imperialen Lebensweise“ beschrieben. Die Wurzel des Problems ist der Wachstumsimperativ, der zu einer systematischen Übernutzung der Ökosysteme und dem alltäglichen Zugriff auf billige Arbeitskräfte, vor allem im Globalen Süden, führt. Soziale und ökologische Kosten werden auf diese Weise in Raum und Zeit ausgelagert.
Wir leben über unsere Verhältnisse, obwohl wir – ohne größere Einbußen unserer Lebensqualität – weniger konsumieren könnten.
Was schlägt die Degrowth-Bewegung als Alternative zur Sicherung unseres Wohlstandes vor?
 
Wie zuvor ausgeführt, ist das eine noch offene Frage und es bedarf weiterer Forschung in diese Richtung. Degrowth ist zum Teil noch eine Vision und deswegen ist es so wichtig, Konferenzen wie jene in Brüssel zu veranstalten. Gleichzeitig gewinnt die Bewegung an Bedeutung, der Begriff ‚Degrowth‘ wurde sogar erstmals im 2022 erschienen Bericht des Weltklimarates als möglicher Pfad zur Entwicklung eines neuen Gesellschaftsmodells genannt. Bereits jetzt fällt es den westlichen Volkswirtschaften schwer, konstant weiter zu wachsen, und es wird notwendig, sich Alternativen zu überlegen.
 
 
Welche Bereiche der Wirtschaft machen es besonders schwer, die planetaren Grenzen einzuhalten?
 
Besonders umweltschädliche Sektoren wie Fast Fashion, Massentierhaltung, fossile Industrien, aber auch Werbung müssen eingeschränkt oder abgeschafft werden. Andere Sektoren können durchaus gestärkt werden, wie etwa Bildung und Pflege. Global betrachtet, wird Sorgearbeit meist unbezahlt und von Frauen ausgeführt. Um diese gerecht aufzuteilen, brauchen Menschen mehr Zeit. Deshalb ist auch die Arbeitszeitverkürzung eine zentrale Forderung. Dann können Menschen sich auch mehr sozial und politisch engagieren. Ebenso ist die Bildung noch ökonomisch unterbewertet. Vor allem in den Ländern des Globalen Südens braucht es noch große Investitionen in diesem Bereich.
 
Stichwort Globaler Süden: Haben ärmere Länder, die noch immer von den Folgen der Kolonialisierung geprägt sind, ein Recht auf Wirtschaftswachstum?
 
Ja, durchaus. Wir beanspruchen im Globalen Norden einen viel größeren Teil des Kuchens als den, der uns eigentlich zustehen würde. Wir leben über unsere Verhältnisse, obwohl wir – ohne größere Einbußen unserer Lebensqualität – weniger konsumieren könnten. Auf der anderen Seite kann in vielen Ländern ein Großteil der Bevölkerung noch nicht die eigenen Grundbedürfnisse stillen. Deshalb ist es aus der Perspektive der globalen Gerechtigkeit sinnvoll, dass wohlhabendere Länder ihre Konsum- und Produktionsmuster zurückfahren, um es anderen Ländern zu ermöglichen, ein Mindestmaß an materiellem Wohlstand und materieller Sicherheit aufzubauen.
 
Wie hängt Ihre Arbeit bei Eurac Research mit Degrowth zusammen?
 
Ich persönlich setze mich bereits seit mehreren Jahren mit Degrowth auseinander, beispielsweise in der Abschlussarbeit meines Masterstudiums. Vor einigen Jahren hat Eurac Research zudem eine Konferenz zum Thema „Wachstum neu denken“ organisiert und einen Sammelband dazu herausgegeben. Darüber hinaus beschäftigen wir uns grundsätzlich mit dem Thema der gesellschaftlichen Transformation in Richtung Nachhaltigkeit. Einerseits wollen wir die Dynamiken hinter solchen Transformationsprozessen besser verstehen, andererseits erproben wir auch innovative, transdisziplinäre Forschungsansätze, etwa in Form von Reallaboren oder Realexperimenten. Damit versucht die Wissenschaft, über ihre klassischen disziplinären Grenzen hinaus zu gehen und sich aktiv an der Gestaltung von gesellschaftlichen Transformationsprozessen zu beteiligen.
 
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Profil für Benutzer Stefan S
Stefan S Sa., 06.05.2023 - 09:44

"dass unendliches Wachstum innerhalb eines begrenzten Planeten nicht möglich ist und zu einer Übernutzung der Ressourcen und letztlich zu einem Kollaps des Systems führt."
Wir sind auf dem besten Weg dorthin und brauchen dringend eine neue Bewertung für unser wirtschaftliches Wachstum.
Nachweislich ökonomisches handeln muss belohnt werden wie z. B. anreisen mit Zug = 25% weniger Unterkunftskosten.
Lenkungsmöglichkeiten von staatlicher Seite gibt es ausreichend. Wenn man sich die Subventionen für das E-Auto betrachtet und diese z. B. für den Ausbau der Öffis wie Bus & Bahn verwendet, das Auto aus Ballungsgebieten verdrängt und die riesigen Flächen welche das Auto verschlingt in Lebensraum verwandelt. Das E-Bike fördert usw.
Ganz aktuell dazu
https://www.deutschlandfunk.de/frankreich-will-radverkehr-massiv-foerde…

Sa., 06.05.2023 - 09:44 Permalink
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Profil für Benutzer Josef Fulterer
Josef Fulterer So., 07.05.2023 - 21:00

Antwort auf von Stefan S

Als ERSTES muss das Gesellschafts-feindlichen Treiben auf den Finanz-Märkten mit passenden Steuern gefesselt werden, das auf den Aktien-Märkten über 90 % der Geld-Bewegungen im Sekunden-Takt STEUER-FREI um die ganze Welt jagt.
Als ZWEITES muss den SELBER GEADELTEN oberen 10.000 ein Maulkorb gegen ihre unersättliche Fressgier verpasst werden.
Als DRITTES ist das WIRTSCHAFTS-CREDO vom notwendigen jährlichen WIRTSCHAFTS-WACHSTUM zu beerdigen und AGRESSOREN die das Volk übel behandeln, sowie über andere Länder herfallen, von unabhängigen Gerichten zu verurteilen.

So., 07.05.2023 - 21:00 Permalink