Gesellschaft | Gastbeitrag

Slow medicine aus der Sicht eines Arztes

Eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung mit weniger Mitteln – dafür will man nun auch im Trentino auf die „slow medicine“ zurückgreifen. Ist das ein Weg?

Über die Angemessenheit von diagnostischen Untersuchungen bzw. therapeutischen Maßnahmen zu berichten ist schwierig, weil dabei eine komplexe Vielfalt von Faktoren eine Rolle spielen.Zunächst besteht die Frage, wer eigentlich darüber entscheidet, was in der Medizin angemessen ist oder nicht. Sind die Entscheidungsträger die Wissenschaft und deren Statistik, die von der Gesellschaft gewählten Politiker und deren designierten Gesundheitsverwalter, die persönlichen Erfahrungen oder Forschungsergebnisse der Ärzte …oder gar der Patient selber?

Nachdem die medizinische Versorgung in der Vergangenheit in die öffentliche Gesundheit aufgenommen wurde, ist die Thematik in den letzten Jahren v.a. wegen der nationalen und internationalen Wirtschaftskrisen sowie im Kontext der demographischen Entwicklung nicht nur in Südtirol brandaktuell geworden. Im Spannungsfeld zwischen öffentlicher und privater Medizin steht dabei die grundsätzliche Frage, für welche Leistungen der Steuerzahler bzw. der Bürger privat aufkommen sollte.

Die „Choosing wisley“ („mit Bedacht auswählen“) Initiative versucht anhand der sogenannten Evidence basierten Medizin den Einsatz von Diagnostik und Therapie auf ein sinnvolles und zielführendes Maß einzuschränken. 2010 wurde von Howard Brody, MD, erstmals ein Artikel zum Thema „Medicine’s Ethical Responsibility for Health Care Reform — The Top Five List” publiziert und seit April 2012 wurde die Initiative von der ABIM (“American Board of Internal Medicine”) mit zunehmendem Erfolg vorangetrieben.

Medizinische Überversorgung

Die Gefahren, die eine sogenannte Medizinische Überversorgung mit sich bringt, sind nicht nur eine finanzielle Resourcenverschwendung, sondern unter Umständen auch eine gesundheitliche Gefährdung. Manchmal hat auch ein Weniger an Medizin einen Mehrwert für den Patienten, wobei genau solche Situationen gelegentlich schwer an Menschen oder Verwandte mit einer hohen Erwartungshaltung vermittelbar sind. Auf ein medizinisches Problem sollte eben eine Reaktion, eine Konsequenz durch den behandelnden Arzt folgen. Dabei bleiben die großen Tabuthemen, das unheilbare Kranksein und der Tod, in unserer Gesellschaft oft unausgesprochen. Eine Einschränkung der medizinischen Möglichkeiten mit einem verstärkten Fokus auf symptomlindernde Maßnahmen sowie menschliche Zuwendung spielen vor allem in der palliativen Betreuung schwerkranker Patienten eine bedeutende Rolle. Bedauerlicherweise ist meiner ganz persönlichen Meinung nach in diesem Zusammenhang das Verfassen eines biologischen Testamentes in Italien weder politisch noch juridisch ausgereift. Patienten und Ärzte werden dabei bei wichtigen Entscheidungen und einschneidenden Lebenssituationen weiterhin alleine gelassen.

Auch das Internet trägt dazu bei, dass Patienten zu nicht durch einen Arzt gefilterten Informationen gelangen, die manchmal zu Verunsicherungen oder sogar zu Verängstigungen führen. Zum Ausschluss von auch wenig wahrscheinlichen Krankheitszuständen wird dann nach der entsprechender Diagnostik verlangt.

Defensivmedizin

Ein weiteres Phänomen, das sicher auch zu einem Anwachsen an nicht angemessenen medizinischen Leistungen führt, ist die sogenannte “Defensivmedizin”. Nachdem die Ärzteschaft ein zunehmendes “medicolegales Risiko” wahrgenommen hat, werden vermehrt medizinische Fachvisiten bzw. auch diagnostische Untersuchungen angeordnet, um die Verantwortung aufzuteilen bzw. um sich persönlich juridisch abzusichern.

Eine weitere treibende Kraft hinter der Verschreibung von Diagnostik und Therapie ist sicher auch die Medizinindustrie. Auch wenn sie viele Erfolge und Errungenschaften für sich verbuchen kann, sollten ihre Studienergebnisse und auch die daraus entstehenden Leitlinien von den Ärzten stets mit einem aufmerksamen Auge betrachtet werden. Der Wunsch nach einer langsamen Medizin entsteht vermutlich als Reaktion auf die riesigen technischen und wissenschaftlichen Fortschritte der letzten Jahrzehnte in diesem Gebiet und letztlich auch aufgrund der von den Führungspersonen im öffentlichen Sanitätswesen vorangetriebenen Effizienzoptimierungprozesse, mit denen man der stetig steigenden Anfrage nach Gesundheitsleistungen bei verminderten Ressourcen Herr zu werden versucht.

Entdeckung der Langsamkeit

Der Gedanke an eine “slow medicine” (langsame Medizin) ist erstmals 2008 Dennis McCullogh in einem Buch artikuliert worden und anschließend auch in Italien von Roberto Satolli Im Rahmen eines Artikel im Corriere della Sera zum Thema  "puntare alla qualità della vita anzichè a una improbabile guarigione" übernommen worden. Es besteht der Wunsch nach einer “Entschleunigung der Medizin”, um allgemein die Qualität zu verbessern und auch aus verschiedenen Gründen nicht indizierte Maßnahmen zu vermeiden.

Die Entdeckung der Langsamkeit stellt heutzutage für viele rastlos getriebene Menschen eine immerwährende Sehnsucht dar.

Als junger  Anhänger der “alten Schule”, wie ich sie als Student und Mitarbeiter noch bei meinem ehemaligen Primar, Dozent Dr. Helmuth Amor, kennenlernen durfte, glaube ich fest daran, dass das Grundfundament jeglicher medizinischer Behandlung oder Untersuchung eine vertrauensvolle Arzt-Patient Beziehung darstellt. Und diese beginnt bei einem gründlichem Arzt-Patientengespräch bzw. einer körperlichen Untersuchung des Patienten. Dazu braucht es natürlich Zeit und diese ist in unserer Gesellschaft ein seltenes Gut geworden.

In diesem Sinne hoffe ich auf ein neu-humanistische Umdenken, damit der Mensch nicht nur nach wirtschaftlichen Parametern im Sinnes seines Einflusses auf das BIP reduziert wird. Eine entschleunigte oder besser eine „Humane Medizin“ würde sicher Teil eines solche Prozesses sein.

Zweifelsohne ist die Wirtschaft die treibende Lokomotive unseres Wohlfahrtszuges, die Entkoppelung von den Waggonen wie Gesundheit, Bildung, soziale Unterstützung etc. kann nicht die einzige Lösung sein, um schneller zu fahren. Vor allem deshalb, weil die Geschwindigkeit des Wachstums bereits jetzt nicht nur an ökonomische, sondern auch an ökologische Grenzen stößt. Aufgrund der Geschwindigkeit ist der Zug bereits einige Mal entgleist… vielleicht sollten wir langsamer werden, um die Zugfahrt und die vorbeiziehende Landschaft auch genießen zu können.

In der medizinischen Fachwelt ist es eine gute Sitte und Regel im Rahmen eines wissenschaftlichen Artikels auch seine möglichen Interessenskonflikte bekanntzugeben. Insofern möchte ich dabei anmerken, dass ich als ein freiberuflich arbeitender Arzt tätig bin.

Dr. Bernd Zagler ist freiberuflicher Facharzt für Innere Medizin / Rheumatologie in einer internistischen Gemeinschaftspraxis

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gorgias Sa., 11.07.2015 - 15:53

Ich hoffe slow medicine erhält seinen Stellenwert in der medizinischen Praxis, so dass man diese Vorgehensweise nicht mehr mit den Zauberkügelchen von Hanemann rechtfertigen muss.

Sa., 11.07.2015 - 15:53 Permalink
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Alexander Larch Di., 14.07.2015 - 10:29

Eine Informatione: Der Dachverband für Soziales und Gesundheit arbeitet schon seit geraumer Zeit mit der Turiner Vereinigung "Slow Medicine" zusammen (www.slowmedicine.it), ist deren institutionelles Mitglied und im konstanten Austausch, um das Thema auch in Südtirol voranzubringen. Ebenso wurde letztes Jahr (im September 2014 in Bozen eine viel besuchte und beachtete Tagung zum Thema organisiert.

Di., 14.07.2015 - 10:29 Permalink